Auch Eltern wollen mal alleine sein. Der Sohn hat eine neue Freundin. Und wo trifft Mama den Geliebten? Die brasilianische Lösung: das Motel – die Zweitwohnung einer ganzen Nation.
Huscht da nicht ein Lächeln über das Gesicht der Dame am Empfang? Ein wissendes Schmunzeln, das sagt: Ich weiß doch genau, was ihr vorhabt, ihr Schweinchen. Nein, nein. Auch mit größtem Argwohn lässt sich kein schmutziger Gedanke aus der Mimik der Dunkelhaarigen ablesen. Mit der professionellen Gelassenheit, die sich einstellt, wenn man einen Vorgang – und sei er auch peinlich – schon tausendfach wiederholt hat, reicht sie einen Schlüssel über den Tresen, zehnter Stock, Zimmer 1021, eine Suite Simple, Frühstück inklusive: 78 Real, 30 Euro. Als sich die Fahrstuhltür schließt, ruft sie hinterher: „Um 12 Uhr müsst ihr raus sein, sonst kostet’s noch mal drei Stunden extra.“
Es ist 4 Uhr 30, und eine dieser verschwitzt-hysterischen Samstagnächte geht in Rio de Janeiros Vergnügungsviertel Lapa zu Ende. Man war mit der neuen Freundin unterwegs, tanzen, trinken und Rios spektakulär aufgetakelte Transvestiten bestaunen. Doch wohin nun? Weder duldet ihre Mutter spontanen Herrenbesuch noch die eigene Vermieterin die nächtliche Präsenz von Damen. Und so steht man dann hier, in diesem schummrig beleuchteten Foyer, studiert schamhaft die rot angeschlagenen Zimmerpreise und wundert sich, dass die Dame am Tresen weder einen Ausweis sehen will noch nach dem Namen fragt. So wie es in jeder Herberge der Welt üblich wäre.
Gut, der Begriff Herberge führt jetzt in die Irre. Denn wir befinden uns zwar in einer Unterkunft auf Zeit, aber schon der Name deutet auf ihre Besonderheit hin: „Love Time Motel“. In Deutschland würde man jetzt wahrscheinlich die Nase rümpfen und quietschen: „Ihhh, ein Stundenhotel.“ Doch in Brasilien sind die Motels eine soziale Institution, und es dürfte schwerfallen, jemanden zu finden, der älter ist als 18 Jahre und nicht schon mal eins von innen gesehen hat.
Denn pragmatisch und dem Leben zugewandt wie die Brasilianer sind, wenn es um die körperliche Liebe geht, lösen die Motels einige drängende Probleme des Sexlebens: Wohin, wenn die Eltern zu Hause sind? Wohin, wenn die Kinder nerven? Wohin mit dem Geliebten oder der Geliebten? In den meisten anderen katholischen Ländern lautet die Antwort: Auto, Park, Auslandsreise. In Brasilien: Alibi, Calypso oder Sinless.
Nicht auszudenken, was ohne die Motels an den Stränden Rios los wäre. Immerhin 60 Prozent der Männer und ein Drittel der Frauen geben zu, schon mindestens einmal fremdgegangen zu sein. Der Nachfrage entsprechend, kommt in Rio auf jedes dritte Hotel ein Motel, rund 150 listet das Branchenbuch auf. Doch keineswegs liegen die Liebesfluchten nur verschämt entlang der Ausfallstraßen. Auch in den zentralen (und reicheren) Stadtvierteln Rios muss man nicht lange suchen. Handzettel, die auf der Straße verteilt werden, weisen den Weg. Die meisten Motels sind außerdem an einer offen stehenden Garage und der verdunkelten Eingangstür zu erkennen.
Diskretion ist das Pfund, mit dem die Motels wuchern. Im Business-Zentrum von Rio, wo es Mode unter Büroangestellten geworden ist, die Mittagspause zu einem außerehelichen Stelldichein zu nutzen, sind die Motel-Bediensteten angewiesen, der Kundschaft niemals ins Gesicht zu blicken. In manche Aufzüge passen lediglich zwei Personen, um peinliche Begegnungen auszuschließen.
Dennoch sprechen viele Brasilianer mit entwaffnender Selbstverständlichkeit über ihre Zweitschlafzimmer. Als man im Bekanntenkreis nach Motel-Episoden fahndet, schreiben sechs Freundinnen auf Anhieb ausführliche Anekdoten mit Zeit- und Ortsangabe. Samantha: Im Aufzug stecken geblieben. Isis: Der Whirlpool übergelaufen. Cecilia: Beim Hinausgehen den Freund auf der Straße getroffen. Marcela: Auf dem Balkon von einer Schießerei in einer benachbarten Favela überrascht: „Danach war die Stimmung hin.“
Die Bedeutung der Motels lässt sich auch daran erkennen, dass die Cariocas – so nennt man die Bewohner Rios – derzeit den Vorschlag eines jungen Architekten diskutieren, der an der Copacabana die ultra-futuristische „Sexstadt“ errichten will (so wie sich andere Städte eben eine Wissenschaftsstadt oder eine Medienstadt zulegen). Es versteht sich von selbst, dass nicht nur ein Aufklärungszentrum für Reproduktionsprobleme dort untergebracht werden würde, sondern auch mit Gummi ausgekleidete Motelzellen, in denen die indische Sextechnik Kama Sutra ohne blaue Flecken praktizierbar sein könnte. Rios konservativer Bürgermeister begrüßte das Projekt; ebenso wie Rios bürgerliche Zeitung „O Globo“, die dem Thema eine fröhliche Sonntagsbeilage widmete und fragte: „Denkt Rio immer nur an das eine?“
Anscheinend schon. Love Time Motel, zehnter Stock, kein Mensch auf dem Flur, Zimmer 1021. Schon im kleinen Vorzimmer, das das Schlafzimmer durch zwei Türen wie eine Schleuse von der Eingangstür trennt, wird anschaulich, was den Unterschied zwischen Hotel und Motel ausmacht. In einer Vitrine liegen neben Peanutsschachteln und Campariflaschen Kondome (solche für Männer und solche für Frauen) und verschiedene Cremes. Diverse Sexspielzeuge sind auf einer Liste aufgeführt. Sie werden auf Bestellung aufs Zimmer gebracht. Mit Betriebsanleitung.
Quer im Schlafzimmer thront auf einem Podest das Bett, das so breit ist, dass auch fünf Menschen darauf herumtollen könnten. Daneben ein sonderbar geschwungenes schwarzes Ledermöbel, das ausschaut, als ob man auf ihm schwierigste Gymnastikübungen absolvieren könnte. Es ist ein sogenannter Erotik-Sessel. Auf dem Bett liegen die eingeschweißten Bettbezüge und Handtücher, alles peinlich sauber und unschuldig weiß. Beim Herausnehmen verströmen sie den Duft von Rosenparfüm.
Hinter dem Bett glänzt eine hölzerne Armatur mit dem Lichtregler und Schaltern für eine Diskokugel, die Klimaanlage, ein Musikprogramm mit Kuschelrocksongs und dem Fernseher, wo neben Telenovelas Pornofilme laufen. Dann fallen einem die Spiegel auf. Hinter dem Bett, neben dem Bett, über dem Bett. Runde Spiegel, ovale Spiegel, dreieckige Spiegel. Nur mit geschlossenen Augen kommt man wohl drum herum, sich beim Akt zu beobachten.
Wahrscheinlich sind die Spiegel aber auch das Einzige, was alle brasilianischen Motels gemeinsam haben. Sogar hier reflektiert sich die soziale Realität des ungerechtesten Landes der Welt. Es gibt Motels mit kleinen, stickigen Zimmern ohne Fenster für die unteren Schichten. Den Reichen hingegen stehen zweistöckige Suiten mit Dachterrasse, Meerblick, Swimmingpool, Sauna, Whirlpool, separaten Garagen für mehrere Wagen, eigenem Aufzug, Tanzpiste und fünf Plasmabildschirmen offen, acht Stunden für umgerechnet 200 Euro. „Auf Wunsch richten wir unsere Suiten auch thematisch für Paare oder Gruppen her“, heißt es auf der Webseite von VIP’S, dem exklusivsten Motel Rio de Janeiros, das dramatisch auf einer Klippe liegt und sogar vom Korrespondenten des englischen „Guardian“ empfohlen wird. „Ich dachte zunächst, Motels seien etwas Schäbiges“, schreibt er. „Bis ich eins besuchte.“
In anderen Motels wiederum sind Themensuiten im Angebot: Das spartanisch eingerichtete Liebesnest „Japan“ besticht durch ein Futonbett und zwei sich gegenüberliegende Wandspiegel, die die Aufführungen ins Unendliche widergeben; die „Sado-Maso Suite“ wartet mit Zeichnungen gefesselter nackter Männer auf. Motels, die sich ausschließlich an Homosexuelle richten, existieren ebenfalls.
Je mehr ein Motel auf sich hält, so scheint es, desto mehr gibt es auf fantasievolle Einrichtungen, die den eigentlichen Zweck seines Daseins verschleiern. Die Kulissen werden ebenfalls von den Filmteams der Pornoindustrie genutzt, die die Motels für ihre Zwecke entdeckt hat.
Beim Aufstehen am Morgen danach rauscht der Verkehr vor dem Love Time Motel. Das Frühstück wird vom Zimmerservice im Vorraum abgestellt. Kaffee, Joghurt und ein Teller mit Papaya und Honigmelone. Doch dann überkommt einen das Bedürfnis, den seltsamen Ort zu verlassen. Bezahlt wird per Kreditkarte, die man im Vorraum liegen lässt und die vom Hotelboy zurückgelegt wird. Als man unten aus dem Aufzug steigt, hat die Dunkelhaarige an der Rezeption dann doch noch ein Lächeln übrig. Es scheint zu sagen: Kinder, bis zum nächsten Mal. Ist doch die normalste Sache der Welt.