Die Fan-Favela von Rio de Janeiro

Die Fan-Favela von Rio de Janeiro

Über ihnen eine Hochtrasse, rechts und links Mauern, unter ihnen Beton. Sie sind über die Anden gekommen, haben die argentinische Pampa durchquert, Kilometer gefressen, bei Iguazú die brasilianische Grenze überquert. 3800 Kilometer, 20 Tage, ein halbes Dutzend platte Reifen, 500 Euro Benzingeld.

In ihrem zum Wohnmobil umgebauten Kleintransporter liegen Matratzen, baumeln Hängematten. Sie haben das Gefährt Chaski, getauft. So hießen die Botenläufer der Inkas, die Anden-Hermese. Auch sie sind Botschafter. WM-Botschafter. Sie haben alles dabei, was man braucht. Bett, Gaskocher, gute Laune.

Aber man hat die Chaskis ins Abseits gestellt. Auf einen verkehrsumtosten Park- und Konzertplatz in Rio de Janeiros unwirtlichem Zentrum. Rund 2500 südamerikanische Fans campen hier auf hartem Boden, schlafen in Zelten, unter Plastikplanen, in klapprigen Wohnwägen und buntbemalten Bussen. Die Argentinier stellen die Mehrheit, Chilenen und Kolumbianer sind da. Aber auch die ersten obdachlosen Brasilianer. „WM-Favela“, sagt Pepe Antartico.

Antartico, 48, Kunsthandwerker aus Santiago de Chile, wollte zur WM auf der anderen Seite des Kontinents fahren, fand drei Freunde, die verrückt genug waren, mitzukommen. Tickets kann sich keiner von ihnen leisten. Es ist ihnen egal. „Wir vertreten die einfachen Chilenen“, sagt der vollbärtige Pepe, „bei dieser WM der Bourgeoisie“.

Doch die Bourgeoisie weiß sich gegen solche wie Pepe zu wehren. Vor zwei Wochen stand der chilenische Chaski noch an der Copacabana. Gleich neben dem Luxushotel Copacabana-Palace, Blick aufs Meer, frische Brise. Dort, wo jeden Tag tausende WM-Besucher die Strandpromenade entlangziehen. Ein Dorf aus Zelten und kuriosen Wohnmobilen war entstanden. Auf den Dächern der Wägen: Fans mit riesigen Fahnen, Perücken, bunt bemalt. Es wurde gegrillt und 24 Stunden lang durchgesungen. Andere schliefen am Strand. Das ist erlaubt, solange man kein Zelt aufbaut. Es war ein kleines Hippie-Dorf, langhaarige, Rucksackreisende, Jongleure mit Che Guevara-Tätowierungen. Es war der Beitrag Südamerikas zu dieser WM. Die Stimmung, der Enthusiasmus, mit das beste, was man erlebt hat.

Dann beschwerten sich die Anwohner über die Zustände. Und klar, Es wurde gesoffen, in den Sand gepisst, es war etwas unsicher, unkontrollierbar. Manche zogen los und verkauften illegal Bier, um den geschmälerten Geldbeutel ein wenig aufzufüllen. Einige Fans wurden beklaut. Und: Dem Brasilianer gilt der Argentinier ohnehin als einer, der sich nicht duscht.

Polizisten erschienen. Sie sagten, ihr müsst hier weg. Heute. Sonst wird abgeschleppt, und das ist teuer. Pepe und die anderen wurden auf den Stellplatz im Zentrum eskortiert. Kein Meer, kein Supermarkt, kein Kontakt mit Brasilianern, außer ein paar Wachmännern, Grillbudenbesitzern, Straßenkehrerinnen. Aber: Es gibt Klos und Duschen. Und dafür sind Pepe und die anderen dankbar. „Wir werden wahrscheinlich nie mehr eine WM in Südamerika erleben“, sagt er. Eine Reise nach Übersee kann er sich nicht leisten. Ebenso wenig wie ein Ticket für ein Spiel bei dieser WM. „Aber wir mussten dabei sein.“

Den gleichen Satz hört man von den Argentiniern gegenüber. Ein Paar aus Patagonien 4800 Kilometer Fahrt, drei Kinder, kleiner Wohnwagen. Aber nun die beiden wollen weg hier. Die Zustände seien prekär, sagt die Frau. Es werde Feuer auf dem Asphalt gemacht, man lebe sehr bedrängt, die Duschen seien dreckig, es sei hässlich. Nicht das Brasilien, das man sich vorgestellt habe.

Offenbar hatte man im Rathaus von Rio nicht mit der kleinen Invasion aus den Nachbarländern gerechnet. Und fand dann eine schnelle Lösung. Die Copacabana wollte man sich nicht nehmen lassen. Schon gar nicht von diesen verwilderten Argentiniern. Den hässlichen Platz konnten sie haben.

Auf der Überführung herrscht dichter Verkehr. Auf der Ladefläche eines Lasters sitzen Bauarbeiter und schreien: „Brasil, Brasil, Brasil! Messi merda!“ Tiza Gil winkt. „Wir winken immer“, sag er. „Ob sie grüßen oder uns verhöhnen.“

Gil, Straßenverkäufer aus Mendoza in Argentinien, hat anderthalb Jahre gespart, um nach Rio zu kommen. In einem alten Bus mit sechs Freunden, sie haben ihn Pepita getauft. Mehrere Tage Reise. Die Kupplung brach, der Auspuff fiel ab. Zuhause wartet Gils Frau mit drei Kindern auf ihn. In Rio hat er Bekannte getroffen, die er jahrelang nicht gesehen hat. Sie haben wegen der Reise ihre Jobs verloren. Busfahrer, Müllmänner. Einfache Typen, wie er. Die WM war wichtiger. „Ich habe geweint vor Glück“, sagt Gil. Der Fußball erfordere Opfer.

Gil, 35, nächtigt in einem Zelt, davor stehen Sessel vom Sperrmüll, hängen argentinische Fahnen, einige Halbnackte schlafen ihren Rausch aus. Am Nachmittag will der 35-Jährige mit der Metro an die Copacabana fahren. Bierdosen verkaufen, er brauche Geld. „Brasilien ist unglaublich teuer.“ Ein Spiel hat Gil bisher nicht besucht. Er hat versucht, vor dem Maracana Tickets zu bekommen. Aber da war er nicht der einzige.

Ein seltsames Gefährt kommt aufs Gelände gefahren. Ein verkleidetes dreirädriges Motorrad. Ein Mini-Wohnmobil. Zwei Kolumbianer darin, seit anderthalb Jahren unterwegs in Südamerika. Ihr größtes Abenteuer? Diese WM!