Die ist die Geschichte der Tereza O. Es ist eine Geschichte wider die Wahrscheinlichkeit, manche würden vielleicht sogar sagen: unmöglich!
Es gibt hier Wunder. Verzweiflung und Rettung. Und natürlich gibt es eine Heldin. Sie ist schwarz.
Vielleicht also ist die Geschichte der Tereza O. ein Märchen. Ein brasilianisches Märchen. Erfunden jedoch ist dieses Märchen nicht.
Ich lernte Tereza Anfang 2013 kennen. Wenige Wochen zuvor hatte ich in Deutschland ein Flugzeug bestiegen, im Gepäck zwei volle Rucksäcke, und war ausgewandert. Nach 17 Jahren im Berlin der Nachwendezeit wollte ich in Rio de Janeiro mein Glück als freier Journalist versuchen. Es war ein Aufbruch ins Unbekannte. Die Stadt war mir von einem kurzen Praktikumsaufenthalt mehrere Jahre zuvor nur noch in schwacher Erinnerung. Und so traf ich neugierig ein, aber auch unsicher und fremd. Ein Anfänger in einer Stadt für Fortgeschrittene.
Ich hatte gehört, dass Brasilien sich stark verändert hatte. Dass es zu einer Wirtschaftsmacht geworden sei. Dass es nun vorbildliche Sozialprogramme gebe. Brasilien sei nicht mehr das ewige Land der Zukunft, wurde geschrieben, sondern endlich das Land der Gegenwart: gerechter, demokratischer, humaner. Und auch dass sich in Rio endlich etwas bewege. Dass die Stadt, dieses Brasilien im Kleinen, sicherer geworden sei. Dass für die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele aufgeräumt würde und nun Regeln für alles mögliche herrschten, sogar wie Kokosnüsse zu öffnen seien. Eine deutsche Zeitschrift hatte geschrieben, Rio werde spießig.
Mir war aber auch klar, dass man eine Stadt nicht über Zeitungsartikel kennenlernt, nicht über Bücher, Fernsehbeiträge oder gar Reiseführer. Was eine Stadt ausmacht, sind ihre Menschen: ihre Konflikte, ihre Lieben, ihre Kämpfe. Sie sind wie die Fenster, durch die sich ein Ort öffnet. Wie die Türen, durch die man ihn betritt. Ich kannte, als ich ankam, niemanden.
Wenige Tage vor Karnevalsbeginn sah ich sie die Straße entlang kommen. Aufrecht, selbstsicher, schwingend. Ein ärmelloses Kleid mit buntem afrikanischen Muster gab ihre schwarzen Schultern frei. An ihrem Hals rannen feine Schweißperlen herab.
Ich sagte: „Oi, boa noite.“
Sie sagte: „Eu sou Tereza.“
Von den Mauern und Häusern strahlte die Hitze des Tages ab. Die Tür nach Brasilien hatte sich für mich geöffnet. Es war ein Tor.
Sie kam von einer Samba-Runde in Santa Teresa, hatte dort gesungen, war gerade auf dem Heimweg. Wir setzten uns in eine Eckkneipe am Largo de Guimaräes und bestellten zwei Bier. Heineken. Sie trank weder Antarctica noch Brahma noch ein anderes dieser brasilianischen Bier-Imitate. Sie war mir sofort sympathisch. Einige Gäste schauten zu uns herüber. „Wir sind ein Klischee“, sagte Tereza. „Eine schwarze Frau mit einem Gringo.“ Ich sagte: „Scheiß drauf.“ Sie lachte. Es begann eine Konversation, ein Dialog. Er dauert bis heute an.
Wenige Tage später verabredeten wir uns zu einer Wanderung. Wir liefen von Santa Teresa hinauf zur Christus-Statue. Strahlender Sonnenschein, kurze Hosen, Rucksäcke mit Wasser und Bananen. Als wir den Mirador de Santa Marta erreichten und auf die Stadt unter uns sahen, begann Teresa von ihrem Leben zu erzählen. Einfach so. Es war ihre Art, wie ich später herausfand, keine großen Umstände zu machen. Was berichtet werden muss, muss berichtet werden.
„Es war nicht vorhersehbar, dass ich einmal mit einem Gringo hier stehen würde“, sagte sie. „Es war viel wahrscheinlicher dass ich Putzfrau oder Prostituierte geworden wäre. Oder eines frühen gewaltsamen Todes gestorben.“ Ich horchte auf. Ich hatte mir bisher keine Gedanken über Terezas Vergangenheit gemacht, wusste nur, dass sie eine gefragte Sozialarbeiterin und schwarze Aktivistin war, gerne sang und in Santa Teresa lebte. Dort wurde sie von vielen scherzhaft als die Heilige des Viertels bezeichnet. Vielleicht, so denke ich heute, braucht man auch etwas von einer Heiligen, um bei dem, was Tereza erlebt hat, nicht zu verbittern.
„Ich wurde in Anchieta im Norden Rios geboren“, sagte sie, während sie eine Wolke über der Guanabara-Bucht fixierte. „Schwarz, arm, Frau, Nordzone.“ Es klang wie das Sirren einer Guillotine. Ein Urteil. Und das ist es in Brasilien ja auch. Will man hier etwas über die Chancen eines Menschen im Leben erfahren, sind dies die Indikatoren. Brasilien: eine Gesellschaft, in ihren kolonialen Strukturen gefangen mit einer gegen Eindringlinge und neue Ideen abgeschotteten Elite. Mit einem sich reproduzierenden Heer von Armen und unqualifizierten Arbeitern. „Deine Herkunft zeichnet deinen Weg vor“, sagte Tereza. Es war umso erstaunlicher, dass sie das sagte, hatte sie selbst doch eine völlig andere Richtung eingeschlagen.
Ihr Weg führte sie zunächst an den Abgrund.
Als Tereza 13 Jahre alt ist, hat sie die Nase voll. Sie weiß nicht wohin, aber sie weiß, dass es überall anders besser sein muss als in dieser Hölle, die sich zuhause nennt. Als älteste von drei Geschwistern kümmert sie sich um den Haushalt, tut dies gewissenhaft, schrubbt den Boden, wäscht die Wäsche, reinigt das Geschirr, versorgt ihre kleinen Schwestern. Aber ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, ist nie etwas recht. Sie schlägt Tereza: ins Gesicht, auf die Ohren, mit dem Kopf auf den Tisch. Wenn Tereza ins Krankenhaus muss, lügt sie. Sie sagt, dass sie gegen eine Laterne gerannt sei oder beim Rennen gestürzt.
Terezas Vater wiederum betrügt die Mutter mit einer Frau, die er im Haus einquartiert hat und für seine Schwester ausgibt. Alle kennen die Wahrheit, nur die Mutter nicht. Aus einem übertriebenen Schutzinstinkt heraus verbietet der Vater Tereza und ihren Schwestern vieles, was ihnen Freude macht: Romantische Musik hören, Telenovelas schauen, mit anderen Kindern spielen. „Er fürchtete, ich könnte mich verlieben und schwanger werden“, sagt Tereza. So wie viele andere Mädchen im Viertel. „Er wollte nicht, dass die Nachbarn sich das Maul zerreißen.“ Einmal erwischt er Tereza mit einem Radio unter der Bettdecke und zerschlägt es.
Jetzt hat Tereza die Konsequenzen gezogen. Auf ihre Art. Sie ist gegangen, einfach so, ohne zu wissen, wohin. Nur los. Auf ins Ungewisse. Einem Impuls folgend, der ihr sagte, dass das Leben mehr zu bieten haben musste.
Sie steht an einem Bahnhof irgendwo in der Peripherie Rio de Janeiros, es ist das Jahr 1979. Sie besteigt einen Zug in Richtung Zentrum. Als sie nach einiger Zeit den Turm einer katholischen Kirche sieht, steigt sie aus. Sie ist Katholikin, kennt die Geschichten aus der Bibel, verehrt Maria, glaubt an Wunder und Heilige.
Zum ersten Mal schläft Tereza auf der Straße, deponiert ihre wenigen Habseligkeiten bei einem freundlichen Imbissbesitzer, bettet sich auf Pappkartons. Sie richtet sich ein: Tagsüber zieht sie von Haustür zu Haustür, bettelt um Essen und Wasser, eine Dusche; abends geht sie in die Kirche und betet. Sie arrangiert sich mit den „Herren der Straße“, wie sie sie nennt, eine Jugendbande, für die sie manchmal Drogen ausliefern muss. Wenn Tereza Hunger hat oder friert, schnüffelt sie Kleber.
Als Tereza einmal nach Hause fährt, um frische Klamotten zu holen, trifft sie ihren Vater, der sie unter Tränen bittet, nicht wieder fortzugehen. Sie weiß, dass es nichts bringen würde und lässt ihn stehen.
Ihrem Vater gegenüber hat sie jetzt Oberhand. Aber in Rio ist sie nur eins von Tausenden Straßenkindern. Sie war, so stelle ich mir vor, wie eine dieser elenden Gestalten, die man heute rund um die Central do Brasil oder unter den Brücken im Zentrum sieht und an denen man schnell vorüber geht. Man will sie nicht wahrnehmen, sie nicht sehen, nicht riechen, nicht berühren, wünschte sich, sie existierten nicht.
Auf unserer Wanderung kommen wir an einer Mauer mit einem Graffiti vorbei. Es zeigt ein stolzes schwarzes Mädchen, auf deren T-Shirt der Satz steht: „Schön ist die Frau, die kämpft.“ Tereza will sich daneben fotografieren lassen. Ich denke, dass das Mädchen auf dem Graffiti so alt sein könnte wie sie, als sie von zuhause fortlief. Was wohl in Deutschland passieren würde, wenn eine Dreizehnjährige von daheim verschwindet? Die Polizei würde nach ihr suchen, im Radio und Lokalfernsehen würden Aufrufe gemacht, Plakate geklebt. In Deutschland kann ein Kind nicht einfach so verschwinden. In Brasilien schon.
Einige Tage nach unserem Christus-Spaziergang besuche ich Tereza bei der Arbeit. Ich will eine Reportage aus dem Complexo da Maré machen. Tereza arbeitet hier bei einer renommierten NGO, koordiniert unter anderem deren Kulturarbeit mit Kindern und Jugendlichen. In der Mittagspause holt sie mich an der passarela 9 ab. Über uns hängt, wie zur Begrüßung, ein Transparent: „A Marécomplexa“.
Die Maré wirkt auf den ersten Blick wie ein quirliges, geschäftiges Viertel. Es gibt Dutzende Geschäfte, Restaurants, Bars, Schönheitssalons, sogar Banken, einen Fußballplatz. Auf den engen und baumlosen Straßen sind Tausende Menschen unterwegs, zu Fuß, auf Mofas und Fahrrädern. Auf den zweiten Blick sieht man den Einbruch in diese Normalität. Sie sitzen an den Straßenecken, hinter Plastiktischen, wie Geschäftsmänner. Halbwüchsige in T-Shirts, Sandalen und Shorts, vor sich zwei durchsichtige Tüten: eine mit Drogenbriefchen, eine voller Geld. Dazwischen liegen schwere Pistolen. Ein Junge hantiert mit dem US-Sturmgewehr AR-15.
Kaum einer der Brasilianer, die ich mittlerweile kenne, war schon einmal hier. Viele rümpfen die Nase. Der Kollege einer großen deutschen Zeitung darf die Maré nicht betreten. Seine Redaktion hat Angst um ihn. Aber mit Tereza hier entlang zu laufen, wirkt wie das normalste Welt. Sie grüßt, winkt und lacht, bewegt und benimmt sich in der Maré nicht anders als in Santa Teresa. Hier wie dort kommen Menschen auf sie zu, umarmen sie, zwei Küsschen auf die Wange. „Ach, Tereza, meine Liebe, geht’s dir gut, ja? Du bist die Schönste!“ Brasilianische Herzlichkeit.
Wir setzen uns in ein Kilo-Restaurant. Drei Mädchen kommen an unseren Tisch, Teenager, angelockt vom Anblick des blonden Fremden. Sie wollen wissen, ob ich Terezas Freund sei. Tereza lacht und verwickelt sie sofort in ein Gespräch, fragt nach ihren Namen. Eins der Mädchen hat einen auffällig runden Bauch, und Tereza will wissen wie die Schwangerschaft verlaufe und ob es das erste Mal sei. In wenigen Augenblicken hat sie das Vertrauen des Mädchens gewonnen. Die beiden lachen zusammen und Tereza meint zu ihr, dass es vielleicht nicht die beste Idee sei, Zigaretten zu rauchen.
Es sei immer wieder das gleiche, sagt Tereza. Die Jungs wollen keine Kondome benutzen, die Mädchen haben Angst, die Jungs zu verlieren, werden schwanger, die Kinder landen bei Oma. In der Schule, Zuhause, in den Medien – nirgends bekommen diese Mädchen die Informationen, um mit dieser Situation umzugehen. Niemand gibt ihnen Selbstvertrauen.
Tereza arbeitet nicht nur im Complexo da Maré, sondern auch gegenüber, auf der anderen Seite der Avenida Brasil, im Complexo do Alemäo sowie in der Cidade de Deus. Sie betreut schwangere Adoleszenten, spricht mit ihnen über Liebe, Sex, Drogen und Kinder. Frustrierend sei es, wenn die Mädchen dann ein zweites Mal schwanger würden. Das seien die Situationen, in denen man nicht aufgeben dürfte.
Damals, als Tereza selbst noch ein Mädchen ist, das auf der Straße lebt, erweitert sie mit der Zeit ihren Radius. Sie wird streetwise, gelangt ins Zentrum von Rio de Janeiro. Im Vergnügungsviertel Lapa lässt sie sich ab und zu mit Männern ein. Nicht für Geld, sondern für ein Abendessen. „Aber ich behielt meine Jungfräulichkeit, das war wichtig für mich“, sagt Tereza. Sie ist immer noch Katholikin, glaubt an Maria und die Wunder.
Im Zentrum von Rio de Janeiro entdeckt Tereza noch etwas anderes: die Nationalbibliothek. Seit sie weggelaufen ist, war sie nicht mehr in der Schule, aber es dürstet sie nach Geschichten. Nach einer Welt, die anders ist als ihre: größer, schöner, sinnvoller. Sie verbringt jetzt ganze Nachmittage zwischen den hölzernen Bücherregalen in dem altehrwürdigen Bau. Sie liest: „100 Jahre Einsamkeit“ von García Márquez, „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley, „Die Herren des Strandes“ von Jorge Amado. Die Bücher, sie wärmen sie, sind kleine Fluchten und große Abenteuer. Zu Terezas Lieblingslektüre wird „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Sie erkennt sich in dem träumerischen Jungen wieder: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Der kleine Prinz ist, wie Tereza, zerbrechlich. Er ist, wie sie, eine moderne Märchenfigur.
Einmal zerbricht es Tereza fast.
Sie ist 17 Jahre alt, läuft eines Abends die Straße entlang, ist ungeheuer attraktiv: schlank, weiblich, große Brüste, unendliche Beinen. Ein Auto hält neben Tereza, der Fahrer stellt sich als evangelikaler Prediger und Radiomoderator vor. Er hätte einen Job für sie im Sender, auf der Ilha do Governador.
Als Tereza dort am nächsten Tag vorbeischaut, stellt der Mann sie den Angestellten als neue Mitarbeiterin im Sender vor und nimmt sie anschließend in seinem Wagen mit, gibt ihr eine carrona. Unterwegs hält er an einem Imbiss, kauft einen Orangensaft für Tereza. Wenige Augenblicke später ist sie wie gelähmt, kann sich nicht mehr bewegen, bringt kein Wort mehr heraus. Der Prediger schafft sie in ein Zimmer an einer Tankstelle, vergeht sich an ihr, versucht sie zu vergewaltigen. Als er einmal ins Badezimmer geht, schafft es Tereza, mit letzter Kraft aus dem Fenster zu krabbeln,. Sie kriecht über die Tankstelle und verliert das Bewusstsein. Am nächsten Tag wacht sie einem Krankenhaus auf.
Wenige Tage später fährt sie erneut zum Sender auf die Ilha do Governador. Dort erzählt ein Tontechniker, dass sie nicht das erste Mädchen sei, das der Moderator betäubt und missbraucht habe. Er tue den Frauen immer etwas in den Saft. Aber sie hätte keine Chance mit einer Anzeige. Wer glaubt schon einem Straßenkind, das gegen einen beliebten evangelikalen Pastor aussagt?
„Der Rassismus steckt im System“, sagt Tereza. „Es macht schwarze Frauen zu prädestinierten Opfern.“ Schwarze Frauen haben in Brasilien die niedrigste Einschulungsrate und bilden eine kleine Minderheit auf den Universitäten. In der brasilianischen Politik kommen sie so gut wie nicht vor. Stattdessen schuften sie zu Millionen im informellen Sektor, um ihre Familien zu unterhalten. Sie bilden das Rückgrat Brasiliens. Jeden Morgen drängen sie sich in die Züge aus Rios armer Nordzone in die Südzone, wo sie in den Wohnungen der Reichen putzen und Kinder betreuen. Gleichzeitig sind sie überproportional von Gewalt und Mord betroffen. „Die schwarze Frau ist die wahre Heldin Brasiliens“, sagt Tereza. „Das Land würde ohne sie zusammenbrechen.“
Wenige Tage später in Santa Teresa, der Karneval hat begonnen. Die traditionelle Samba-Runde am Largo das Letras plätschert routiniert und etwas müde vor sich hin. Da wird Tereza unter den Zuschauern gesichtet. Man schiebt sie unter „Tereza!“-Rufen auf die Bühne, sie ergreift das Mikrofon und grüßt mit kräftiger, leicht rauer Stimme: „Boa noite, gente!“ Sofort ist Aufmerksamkeit da, einige Hundert Augenpaare taxieren die imposante Frau mit dem afrikanischen Turban. Sie stimmt einen Jongo an, die Perkussionisten gehen sofort mit, die Zuschauer singen, die Menge wogt im Rhythmus. Tereza hat die Runde gerettet, die Bandleader verbeugen sich, geben Handküsse. Aber man merkt, dass es ihnen nicht ganz recht ist, dass sie sich von einer Frau die Show haben stehlen lassen. „Auch der Samba ist eine ziemliche Macho-Welt“, sagt Tereza.
Damals, auf der Ilha do Governador, hat der Tonman im Sender Mitleid mit dem weinenden Straßenmädchen, das wütend und hilflos vor ihm steht. Er verschafft Tereza einen Job als Pflegerin bei einer bettlägerigen Frau und ihrem Ehemann. Sie bekommt ein Zimmer bei dem Paar, ist nun zum ersten Mal seit mehreren Jahren runter von der Straße. Eine Auflage des Paares: Tereza soll eine Ausbildung zur Krankenpflegerin macht. Sie folgt der Anweisung.
Alles scheint gut zu laufen, doch dies wäre nicht die Geschichte der Tereza, wenn es nicht auch hier eine Herausforderung, ein Hindernis gäbe. Eines Nachts legt sich der Mann der alten Frau zu Tereza und streichelt sie. Sie stellt sich schlafend, sie will ihren Job nicht verlieren. Das typische Dilemma vieler Hausmädchen. Nachdem das einige Wochen so weitergeht, hat Tereza genug. Sie findet eine neue Stelle, pflegt nun einen Jungen mit Down-Syndrom.
Und sie vollzieht eine Rückkehr. Jeden Sonntag geht sie in die katholische Kirche ihrer alten Gemeinde. Dort predigt der Pfarrer die Befreiungstheologie, interpretiert das Evangelium als Aufforderung zum Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit. Das gefällt Tereza. Sie beginnt, sich in der Gemeinde zu engagieren. Dabei fallen den anderen ihr Charisma und ihr Organisationstalent auf. Bei einer Gelegenheit lernt sie Leonardo Boff, einen der Begründer der Befreiungstheologie und seinen Bruder kennen. Die beiden fördern Tereza und sie wird, noch keine 20 Jahre alt, mit der Organisation von Basisgruppen in Rios Nordzone beauftragt, leitet Bibelkreise, legt nun selbst die Bibel aus. „Mein einziges Talent war es, dass ich die Welt verändern wollte“, sagt Tereza. Ihre Gruppen werden als „Rote Christen“ in Rio bekannt, kämpfen für eine Verbesserung der Situation in den Favelas.
Es ist mitten in der Nacht nach dem Konzert, als Tereza einen Anruf bekommt. In der Maré sei die Hölle los. Sie ruft ein Taxi und lässt sich zu der Favela fahren. Die Bope ist eingerückt nachdem ein Beamte der Elite-Einheit von Drogendealern erschossen worden war. Nun nimmt die Bope wahllos Rache für den getöteten Kollegen. Die Bewohner der Maré werden von dem Staat, der sie beschützen sollte, in Sippenhaft genommen.
Tereza ist bis in den Morgengrauen in der Favela unterwegs. Selbst voller Angst tröstet sie verängstigte Bewohner, die Angst vor der Bope haben und sich nicht in ihre Häuser trauen. Sie hört Geschichten über Beamte, die Frauen bedrohen und sexuell beleidigen, die Wohnungseinrichtungen zerschlagen und um sich schießen. Die mit Messern hantieren. Die Bilanz am nächsten Morgen: neun ermordete Bewohner. In den Medien herrscht kurz Aufregung über das Massaker, das der Staat an seinen eigenen Bürgern begangen hat. Dann ist die Sache vergessen. Das Leben der Armen zählt in Brasilien nicht viel.
Ich denke, dass es in Copacabana jetzt verboten ist, am Strand Queijo Coalho zu verkaufen (Hygienebedenken); und man in Ipanema seinen Zigarettenstummel besser nicht mehr auf die Straße wirft (Lixo Zero). Aber im Complexo da Maré können Polizisten ungestraft Menschen ermorden. So stark scheint sich Rio also doch nicht verändert zu haben. Was ist das für ein Land, das sich jetzt zu den großen Industrienationen der Welt rechnen möchte – und gleichzeitig immer wieder in die Barbarei zurückfällt?
Als Tereza 20 Jahre alt wird, ändert sich ihr Leben noch einmal drastisch. Sie lernt ihren ersten Mann kennen, einen Ingenieur. Er ist halb Weißer, halb Indio. Kurz darauf bekommt sie eine Tochter. Doch die Ehe zerbricht, weil die Familie ihres Mannes keine Schwarze in der Familie akzeptiert. Einmal sagt eine Tante ihre Mannes zu Tereza: „Du bist sehr schlau, Negra. Hast dich in unsere Familien reingeschlafen.“ Terezas Mann hat nicht das Rückgrat, um Stellung zu beziehen.
Aber Tereza lässt sich nicht entmutigen. Wieder steht sie an einem Scheidweg.
Sie erinnert sich, dass man ihr in der Kirche häufig gesagt hatte, dass sie eine tolle, eine kräftige Stimme habe. Sie bewirbt sich an einer Musikakademie – und wird angenommen. Sie bildet ihre Stimme aus und begeistert bei einem Auftritt Augusto Boal, den Begründer des Theaters der Unterdrückten. Er engagiert Tereza für sein Straßentheater, und sie tritt fortan mit Boals Truppe auf, soll Passanten mit ihrem Gesang zum Stehenbleiben bewegen. „Ich bin durch alle Türen hindurchgegangen, die sich mir öffneten“, sagt Tereza, „meist ohne zu wissen, was mich dahinter erwartete“.
Über das Theater lernt Tereza einige lokale Abgeordnete der jungen Arbeiterpartei PT kennen. Sie wird als Beraterin engagiert, soll ihre Erfahrungen einbringen, wenn es um Fragen geht, die das Leben in den Favelas betreffen. Als die PT dann jedoch an die Macht in Brasilia gelangt, wendet sich Tereza enttäuscht von ihr ab, sieht ihre Themen bei der PSOL besser aufgehoben – und gelangt schließlich zu der Einsicht, dass Parteipolitik nicht das richtige Mittel ist, um die Gesellschaft zu verändern. „Der Wandel muss von unten kommen. Er muss Wurzeln schlagen, sich seinen Weg nach oben bahnen, kräftig werden. Ohne Wurzeln taugt er nichts.“
Damals legt sich Tereza einen Kampfnamen zu: Dandara, Zumbis Frau. Eine entlaufene Sklavin, die gegen die Kolonialherren kämpfte und sich nach ihrer Gefangennahme das Leben nahm.
„Mit Dandara wurde ich zur Schwarzen“, sagt Tereza Onã. „Ich wurde mir meiner sozialen Stellung bewusst. Unser krauses Haar gilt als böse, man betrachtet uns als Nutten und Sex-Objekte. Wir müssen jeden Tag um unsere Rechte kämpfen. Aber in den Tele-Novelas, tauchen schwarze Frauen meistens als Putzfrauen auf. Und die Nachrichten werden ausschließlich von Weißen präsentiert.“ Tatsächlich sieht man heute in deutschen Informationsprogrammen mehr dunkelhäutige Menschen als Brasilien. Das Land, so scheint es, verleugnet den Schwarzen, denen es einen Großteil seiner Kultur verdankt, die Sichtbarkeit.
Einmal wird Tereza von einem Theaterregisseur, der auch für Globo TV arbeitet, in einem renommierten Theater in Rios Südzone zum Vorsprechen für ein Stück eingeladen. Er will sie von der Stelle weg engagieren. Aber sie lehnt ab. Es ist eine Tür, durch sie nicht geht. „Ich war damals vielleicht zu radikal“, sagt sie. „Aber ich hatte keine Lust mit jemandem von diesem Sender zu arbeiten. Das schuldete ich meinem Gewissen.“
Als Tereza zum zweiten Mal schwanger wird, zieht sie in den kleinen Bergort Säo Pedro da Serra, wo viele Nachkommen schweizerischer Einwanderer leben. Sie arbeitet als faxineira und singt in den Bars des Dorfs. In einer Bar hängt heute noch eine Karikatur von ihr über dem Eingang. Als wir gemeinsam durch Säo Pedro da Serra laufen, passiert das gleiche wie in der Maré und in Santa Teresa. Alle kennen, grüßen, herzen Tereza. Sie muss versprechen, noch am selben Abend zu singen.
Nach ihrer Rückkehr aus Säo Pedro beginnt Tereza – trotz fehlender Schulabschlüsse – eine Karriere, die sich bis heute fortsetzt. Sie wird Mediatorin und Sozialarbeiterin, beginnt in zahlreichen Favelas zu arbeiten. Mit misshandelten Kinder, schwangeren Mädchen, Frauen. Den Marginalisierten. Heute koordiniert Tereza das Kulturprogramm einer renommierten NGO und ist Menschenrechtsvermittlerin bei Amnesty International. „Aber in erster Linie“, sagt sie, „bin ich schwarze Frau und Mutter“.
Ihre zweites Kind, einen Sohn, schickt Tereza auf eine der besten und teuersten Schulen Rios. Auf Elternabenden ist sie die einzige Schwarze. Neulich wurde ihr Sohn von einem anderen Jungen als „Sklave“ beschimpft. Dessen Vater wusste gar nicht, wie er sich entschuldigen sollte.
Terezas Tochter hat mittlerweile einen Sohn bekommen. Sie ist Großmutter, mit nur 46 Jahren. Ihre eigene Mutter ist tot, ihr Vater kommt manchmal nach Santa Teresa und fühlt sich fremd. Tereza hat ihm vergeben. In ihrer Familie wird sie wegen ihres Lebensstils in Santa Teresa manchmal „gringa“ genannt.
Auf ihrem unwahrscheinlichen Lebensweg hat Tereza Ona auch Freundschaft mit dem Gouverneur von Rio de Janeiro geschlossen. Der Politiker lädt sie manchmal zu Familienfeiern ein und schreibt ihr E-Mails. Als Demonstranten während der Demonstrationen 2013 tagelang vor seiner Wohnung Stellung bezogen, fragte er sie unter Tränen, was er falsch mache. Onã antwortete: „Ihr lebt eure Leben in einer kleinen weißen abgeschotteten Welt. Ihr kennt Brasilien nicht.“
Tereza hat es geschafft, der statistischen Wahrscheinlichkeit zu entkommen. Aus dem schwarzen Mädchen aus Anchieta, das in einer kaputten Familie ohne Schulbildung groß wurde, auf der Straße lebte, sich prostituierte, missbraucht wurde, ist eine erfolgreiche Frau geworden. Nicht nur erfolgreich im Job. Erfolgreich im Leben, als Mensch, als jemand, der seine eigenen freien Entscheidungen trifft.
Tereza war alleine. Sie hat fast alles aus sich selbst heraus geschafft. Hat Herausforderungen bewältigt, an denen andere zerbrochen wären; hat Hindernisse überwunden, die für viele zu hoch gewesen wären. Ihre Geschichte ist so atypisch für Brasilien, dass sie den Blick auf das Typische öffnet.
Ich weiß nicht, was ich ohne Tereza von Brasilien gesehen hätte und was ich davon verstehen würde. Aber ich weiß, dass meine Vision ärmer wäre.