Auf der Suche nach dem Grund für Zero Freitas’ Besessenheit gelangt man irgendwann bei seiner Mutter an.
Zero Freitas war noch ein Junge und klebte Bonbonpapiere in ein Heft, fein säuberlich, glatt gestrichen, fast täglich kamen neue hinzu. Er mochte die bunten, knisternden Papiere, stolz zeigte er sie herum oder betrachtete sie lange. Die Sammlung war für ihn Schatz und Beschäftigung. Bis sie eines Tages verschwunden war, nirgends zu finden, Zero suchte panisch nach dem Heft. „Meine Mutter hatte es weggeschmissen“, sagt Freitas. „Einfach so. Ich glaube, damit hat es angefangen.“
Es ist ein Donnerstagmorgen im September, als Zero Freitas, 62 Jahre alt, die schwere Tür zu einer alten Kugellagerfabrik im Westen São Paulos öffnet, durch die ehemalige Fertigungshalle schlendert, vorbei an Hunderten meterhoch gestapelten Kunststoffkisten und schließlich einen kahlen Nebenraum betritt, der von schmucklosen Regalen durchzogen ist.
Auf den Bords stehen in fünf senkrechten Böden Schallplatten. Hunderte, Tausende, Hunderttausende. LPs, EPs, Schuber, Singles. Meist schmale, mal breitere Hüllenrücken, dicht an dicht, vom Boden bis unter die Decke, von einer Wand zur anderen. „230000 Stück“, sagt Freitas. „Nur ein kleiner Teil. Das, was wir bisher registrieren konnten.“
Freitas hat die Bonbonpapiere gegen Schallplatten gewechselt. Und diesmal besser aufgepasst. Er besitzt heute die wahrscheinlich größte Plattensammlung der Welt. Über Jahrzehnte hinweg aufgebaut, unbemerkt von der Öffentlichkeit. Freitas war ein anonymer Sammler.
Es begann vor einem halben Jahrhundert, Freitas, zwölf Jahre alt, kaufte seine erste LP. „Roberto Carlos singt für die Jugend“, von einem der später erfolgreichsten Sänger Südamerikas, dem Julio Iglesias Brasiliens. „Es war die Platte Null“, sagt Freitas. Die Gründungsscheibe.
Als er die Schule abschloss, standen 3000 Schallplatten in Freitas’ Regal, als er dreißig wurde und an der Uni Komposition studiert hatte: 30000. Zehn Jahre später trennte er sich von seiner ersten Frau – sie bekam die Bücher, er die Schallplatten – und das Sammeln wurde zur Sucht. „Fünf Millionen“ sagt Freitas heute. „Über den Daumen gepeilt.“ Täglich kommen neue Exemplare hinzu.
Zero Freitas baut, wenn man so will, die Bibliothek von Alexandria neu auf, einen universalen Musikspeicher, komplett aus Vinyl. Nicht mehr in der Alten Welt, sondern in der Neuen. Brasilien. Die Diskothek von São Paulo.
Doch in den Augen des Diskotekhars such man vergeblich nach dem Lodern des Sammelfiebers. Eher strahlt er etwas Verhuschtes, Unscheinbares aus. Freitas trägt Halbschuhe, ein schlabberiges Sweatshirt und die angegrauten Haare, die rund um den Hinterkopf wachsen, schulterlang. Eine randlose Brille, die er zum Lesen absetzt, verleiht ihm etwas Zögerliches. Der Motor, der ihn antreibt, man hört ihn nicht, er stampft still in Freitas’ Innerem. Dafür umso heftiger. „Ich jage ständig nach etwas“, sagt Freitas, „immer, unentwegt, ohne Unterlass!“
Freitas kann sich die Jagd leisten. Er ist Spross einer Unternehmerfamilie, die ein lukratives Busunternehmen in São Paulo betreibt. Nach dem Studium arbeitete er als Komponist und Klangingenieur, gründete dann eine Firma für Sound und Lichtverleih, die unter anderem beim Karneval in Rio mitmischt. In den neunziger Jahren machte Freitas Millionen mit Immobiliengeschäften und hatte Glück an der Börse. So geriet er in die Lage, sein Hobby, das längst zur Vollzeitbeschäftigung geworden ist, ohne finanzielle Fesseln betreiben zu können.
Wahrscheinlich kann kein Sammler auf der Welt sein Tun rational erklären, ganz gleich, ob er nun Pfeifen, Mausefallen, Zugsichtungen oder Stempel im Reisepass zusammenträgt. Das ist bei Freitas nicht anders. Aber eins, das hat er herausgefunden: „Ich besitze die Platten nicht. Sie besitzen mich.“ Es ist eine Aussage, die angesichts des monumentalen Umfangs von Freitas Sammlung natürlich vollsten Sinn ergibt.
Der größte Teil der fünf Millionen Platten steht in zwei Lagerhäusern, insgesamt 8000 Quadratmeter groß. Dort stapeln sich Kunststoffkisten zu Dutzenden in quadratischen Blöcken angeordnet, von schwarzen Plastikplanen überdeckt. Darunter: Milliarden Töne, Melodien, gesungene Worte, gewagte Arrangements, nie gehörtes, zu Tode gespieltes, Raritäten, Fehldrucke, Bootlegs, Frontberichte aus dem Zweiten Weltkrieg, Fußballreportagen, Politikerreden, Vogelgezwitscher, Theaterstücke, sogar 100000 Schellackplatten. Vieles, das nie digitalisiert worden ist. Vielleicht verloren geglaubtes.
Zero Freitas weiß es nicht. Er sammelte jahrelang ohne System, ohne Ordnung. „Ich bin kein Sammler im klassischen Sinne“, sagt er. „Ein Sammler spezialisiert sich, komplettiert Künstler, Epochen, Serien. Ich nehme alles. Ich bin ein Zusammenträger.“ So kauft Freitas ganze Sammlungen auf und macht sich nichts daraus, dass er viele Platte dann doppelt oder dreifach besitzt.
Zu der systematischen Unübersichtlichkeit gesellt sich ein ganz praktisches Problem. Wie soll einer fünf Millionen Schallplatten sichten, geschweige denn in einem Menschleben hören?
Auch deshalb entschied Freitas vor vier Jahren: Es muss sich etwas ändern. Der Rest der Welt soll auch etwas von meinem Hobby haben. „Ich wurde unruhig bei dem Gedanken, dass ich die Platten nicht würde teilen können. Musikalisch interessieren mich nur zehn Prozent der Sammlung. Aber ich bewahre ja Menschheitserinnerungen auf.“
Freitas führt in einen Raum neben dem Archiv. Dort sitzen 14 junge Männer und Frauen konzentriert vor Computern, neben ihnen liegen Plattencover. In einer Ecke dreht sich ein Plattenspieler, die Nadel durchzieht die Rille von Jimmy Hendrix’, „Castles made of Sand“ vom Album „Axis: Bold as Love“ von 1967. Der Klang ist warm und golden. Niemand spricht ein Wort.
Während Hendrix sanft singt – „and so castles made of sand, fall in the sea, eventually” –, füttern die Studenten eine Datenbank mit Interpreten, Titeln, Jahreszahlen, Plattenfirmen, erstellen eine Ordnung, schaffen etwas Nachvollziehbares. Zwei von ihnen fotografieren Plattenhüllen ab, die Bilder werden zu den Einträgen gestellt. Ist eine Platte erfasst, kommt sie ins Regal, erhält eine laufende Nummer. An guten Tagen schaffen die Studenten 500 Platten. Bleibt es bei dem Rhythmus, wird es noch ein Vierteljahrhundert dauern, bis alles verzeichnet ist.
Doch ein Katalog der Sammlung soll schon zuvor online gehen. Wer wolle, erklärt Freitas, könne dann nach Anmeldung vorbeischauen und sich, sind die Rechte geklärt, eine LP oder Single digitalisieren lassen und mit nachhause nehmen. Auch Hörstationen möchte er in seiner Phonothek einrichten. Seine größte Sorge gilt zurzeit den 80 Prozent der Mitte des 20. Jahrhunderts gepressten Platten aus Kuba, Nigeria und Brasilien, die nie digitalisiert wurden. „Vieles wird für immer verschwinden, wenn sich niemand darum bemüht.“ Freitas sieht sich als ihr Retter.
Es gebe zwei große Freuden für ihn, sagt Freitas: „Eine Platte zu haben. Und eine Platte nicht zu haben. Dann suche ich sie.“
Dabei helfen ihm Verbindungsmänner, „meine Jäger“, sagt er. Jäger des verlorenen Klangs. Sie sind etwa in Mexiko, Südafrika und Nigeria unterwegs. In Kairo und Paris. Und in den USA. Sein dortiger Scout fädelte den bisher größten Coup ein. Vor drei Jahren kaufte Freitas dem Sammler Paul Mawhinney in Pittsburgh rund zwei Millionen LPs und eine Millionen Singles ab.
Mawhinney, todkrank und auf der Suche nach einem Erben für seine Sammlung, die er unter keinen Umständen auseinanderreißen wollte, hatte eine Anzeige von Freitas’ Scout im Musikmagazin „Billboard“ gelesen: „Wir KAUFEN jede Plattensammlung. Jeder Musikstil. Wir zahlen HÖHERE Preise als jeder andere.“
Mawhinney meldete sich. Seine in 40 Jahren entstandene Sammlung, insbesondere die der Singles, galt als die wichtigste der USA, und die Empörung in der dortigen Sammlergemeinde war nicht gering, dass sie nun ins Ausland ging und dann noch in die vermeintlich Dritte Welt, nach Brasilien. Hätte er sie nicht beispielsweise der Library of Congress vermachen können? Hätte er, aber dann hätte er selbst für den gesamten Transport aufkommen müssen.
„Wir haben es Mawhinney leicht gemacht“, sagt Freitas. Er schickte acht Container nach Pittsburgh, jeder 16 Meter lang, in denen die Schallplatten gen Süden verschifft wurden. „Und wir versprachen natürlich, die Sammlung intakt zu lassen.“
Ähnliche Deals schloss Freitas mit den Besitzern von Plattenläden in Los Angeles und New York ab, darunter legendäre Institutionen. Das langsame Sterben der Läden half ihm dabei.
Nun heißt es über Freitas in den USA, dass er ein Exemplar jeder auf der Welt gepressten Schallplatte haben wolle. „Doch das“, sagt Freitas, „das geht nicht. Das ist eine Übertreibung“. Allein in Indien gebe es fünf Millionen Platten, an die komme man nur schwer. Sein vorrangiges Ziel sei es, eine vollständige Discographie Brasiliens zu erstellen.
Zero Freitas streift durch die Regale, lässt die Fingerkuppen über die Plattenrücken fahren, schaut neugierig in die Abteile. Ein glücklicher Sammler, der in der eigenen Sammlung immer noch Neues entdecken kann.
Freitas greift ins Regal, wahllos, und zieht eine Platte heraus. Auf dem Cover posiert eine blonde Frau in Hirtenweste und Schlaghosen inmitten einer Schneelandschaft. Dazu heißt es in kyrillischen Lettern: „Karina Poet“. Offensichtliche eine russische Pressung. „Hier: von 1980“, sagt Freitas als er die Hülle umdreht. Und entdeckt noch etwas. Jemand hat die russischen Songtitel mit Kugelschreiber ins Spanische übersetzt. „Pfeile der Liebe“. „Truhe der Erinnerungen“. „Du wirst wiederkehren“.
„Die kam über Kuba zu mir“, stößt Freitas aus. Er besitzt 100000 Alben von der Insel. Fast alles, was dort jemals gepresst worden sei. Außerdem fände man seltenste Aufnahmen
klassischer Musik aus dem Ostblock.
Freitas studiert noch einmal die ins Spanische übersetzten Songtitel. Das gefällt ihm. Ein Stück Geschichte, 20. Jahrhundert. Wie die Schallplatte ja ohnehin zum 20. Jahrhundert gehört. Sie wurde quasi mit dem Jahrhundert geboren und überlebte sein Ende nur knapp. Heute erlebt sie eine kleine Renaissance, einige Bands lassen ihre Alben wieder auf Vinyl pressen, in limitierten Auflagen. Es gibt Leute, die noch Plattenspieler besitzen oder sich neue zulegen. Es sind nicht unbedingt Nostalgiker. „Es sind Menschen, die hören können“, sagt Freitas.
Warum er keine CDs sammelt, kann er leicht erklären. „Das Digitale, es klingt kalt, es ist tot. Das Analoge lebt.“ Es gebe da dieses Knistern, sagt Freitas. Am Anfang, wenn die Nadel in die Rille rutscht. In Brasilien gibt es dafür den schönen Begriff „Pommes brutzeln“. Es ist auch wie das Knistern des Bonbonpapiers. „Im Grunde“, sagt Freitas, „sucht jeder nach dem Klang seiner Kindheit“.
Natürlich will man irgendwann wissen, ob Freitas eine Lieblingsplatte habe. Eine, die er mit ins Grab nehmen würde. „Meine Lieblingsplatte?“, sagt Freitas. „Rund 100000 Stück, 3000 davon signiert.“ Sogar eine Unterschrift von Cartola sei dabei. Cartola! Der legendäre brasilianische Musiker, der eigentlich gar nicht schreiben konnte.
Freitas stöbert noch ein wenig in den Regalen, findet einen von Artur Rubinstein dirigierten Konzertmitschnitt, den der Dirigent mit geschwungener Hand signiert hat. Freitas legt die Platte für seine Privatsammlung zurück, da klingelt sein Handy. Er spricht kurz und sagt dann: „Wir machen mal einen Abstecher. Zu meinem Dealer.“
Nach kurzer Fahrt parkt Freitas seinen Kleinwagen vor einem zweistöckigen Häuschen, das inmitten wuchtiger Apartmentblocks wie das Überbleibsel einer verlorenen Zeit wirkt. Über dem Eingang steht in Leuchtschrift „Eric Discos“. Darunter wartet ein imposanter Mann mit Glatze, grauem Vollbart und großer Hakennase. Er sagt auf Portugiesisch mit englischem Akzent: „Ich war in Jamaika, ich habe dir einiges mitgebracht.“
Eric Crauford, 1972 aus England eingewandert, betreibt den bekanntesten Plattenladen São Paulos, angeblich die Stadt mit den meisten Schallplattenläden der Welt. „Eric Discos“ existiert seit 35 Jahren, man zwängt sich in der schummerigen, verstaubten Bude zwischen den vollgepackten Schallplattenkisten hindurch. Aber es ist Kundschaft da, junge Leute, die fasziniert stöbern.
„Sie kommen wieder“, sagt Crauford, 67 Jahre alt und damit wie Freitas zu einer Zeit groß geworden, den 60er und 70er Jahren, als die Rock- und Popmusik ihre bis heute unübertroffene Blütezeit erlebte. Die Jahre sind unzertrennlich mit der Schallplatte verbunden, mit bunten Covern und schwarzen Scheiben, die man vor Kratzern, Hitze und Staub bewahren musste. Das Immaterielle, die Musik, gab es nicht ohne das Materielle, das Vinyl. Diese Vorstellung und diese Liebe eint Crauford und Freitas bis heute.
Als das Haus, in dem Craufords Laden untergebracht ist, vor einigen Jahren abgerissen werden sollte, kaufte Freitas die Immobilie einfach. „Eric zahlt es mir bis heute zurück“, scherzt er. „In Platten!“
Die beiden Männer gehen in die kleine Wohnung, die Crauford neben seinem Laden bewohnt. Auch dort: Schallplatten. Auf Tischen, Stühlen, Sesseln, dem Boden. Wer liebt, muss etwas aufgeben.
Crauford nimmt einen Stapel mit rund 100 Platten und legt ihn Freitas in die Arme. „Aus Jamaika. Viel Reggae. Interessantes Zeug.“ Freitas sagt: „Ich nehme sie alle.“
Zero Freitas hat drei leibliche Kinder und ein Adoptivkind. Wenn er einmal stirbt, wird seine Sammlung ihnen gehören. „Ich hätte in der Erziehung etwas falsch gemacht“, sagt er, „wenn sie daran dächten, sie zu verkaufen. Ich bin der Noah der Musik.“