Karoline Fernolend hat Wasser, Wein und Brot in der bescheiden eingerichteten Küche ihres Bauernhauses aufgetragen. „Greifen Sie zu“, trillert sie fröhlich. Aus dem Gesicht der 41-jährigen Landwirtin strahlen zwei blaugraue Augen. Ihre Haare sind kurz und flott geschnitten, sie trägt Jeans und runde Ohrringe.
Nur als wir sie versehentlich nach Viscri fragen anstatt nach Deutschweisskirch, zieht sie die Stirn für einen Moment in Falten. Dann betont sie den deutschen Namen des Dorfes besonders nachdrücklich. Fernolend ist eine von 25 Sachsen, die noch in Viscri/Deutschweisskirch im Herzen Siebenbürgens leben. Trotz der harten Winter, trotz der Bären, die vor zwei Tagen ein Kalb gerissen haben und trotz der voran schreitenden „Rumänisierung“, wie sie es nennt.
Auf der Sitzbank liegt die ausgelesene Hermannstädter Zeitung. Sie ist das Sprachrohr der letzten Rumäniendeutschen. 60.000 von ihnen gibt es noch, Tendenz sinkend. „In Deutschweisskirch waren wir vor 15 Jahren 300 Sachsen“, erzählt Fernolend. „Jeden Sonntag taufte der Pfarrer die Neugeborenen. Die Höfe waren frisch gestrichen und man grüßte sich mit ‚Guten Tag’. Aber der Sturz Ceauşescus 1989 änderte alles.“
Damals verließen rund 100.000 “Volksdeutsche” Rumänien in Richtung Westen. Zurück blieben meist die Alten. Und ein paar Mutige wie Karoline Fernolend und ihr Mann Walter. Sie waren damals Ende 20 und hätten in Deutschland Chancen auf ein Leben mit Telefon und Zentralheizung gehabt. Warum sind sie nicht gegangen? „Wir leben seit 850 Jahren hier!“, antwortet Karoline Fernolend. „Hier ist unsere Heimat.“
Es ist schon verwunderlich. 850 Jahre sind vergangen, aber Karoline Fernolend sagt immer noch „Wir“. Schon von weitem, wenn man sich Viscri auf einer schlaglochgespickten Staubpiste nähert, erinnert man sich an ein altes deutsches Sprichwort. ‚In Siebenbürgen messen die Uhren die Ewigkeit.’ 45 Kilometer liegt Viscri von Sighişoara entfernt. In der schmuck renovierten 40.000 Einwohner Stadt begeben sich mittlerweile amerikanische Touristen auf die Suche nach Spuren von Vlad Tepeş, alias Dracula, der 1431 dort geboren wurde. Es gibt Dracula-Restaurants, wo es Dracula-Schnitzel und Dracula-Bier gibt. Doch Sighişoara erscheint wie eine Halluzination, sobald man von der Schnellstraße, die in Richtung Braşov führt, abbiegt und auf Feldwegen durch die letzten Ausläufer der Kaparten fährt, die sich hier zu sanft gewelltem Hügelland formieren,
Aus einer Mulde ragen die roten Schindeldächer Viscris auf. Deutlich erkennbar ist die mittelalterliche Struktur des Straßendorfes. Es ist umgeben von blühenden Wiesen, deren Blumenreichtum ein Kaleidoskop von Farben und Formen bilden. Dazwischen liegen kleine Parzellen, wo Gemüse angebaut wird. Auf den Hügelkuppeln stehen dunkle Laubwälder, in denen Wölfe und Bären leben. Siebenbürgen ist hier eine uralte Kulturlandschaft geblieben, wie sie im Rest Europas nicht mehr existiert. Eine Schar schmutziger Gänse kommt aus dem Dorf marschiert. Sie wird aufgeschreckt von einem heubeladenen Pferdefuhrwerk, auf dem ein Bauer in Jogginghose und ausgelatschten Slippern hockt.
Über der Szene erhebt sich im Hintergrund die 804 Jahre alte Kirchenburg von Viscri mit ihren fensterlosen Mauern und wuchtigen Türmen. Hier suchten die deutschen Dorfbewohner über Jahrhunderte Zuflucht, wenn Tartaren oder Türken plündernd durch den Landstrich zogen. „Wir kippten Bienekörbe auf die Angreifer“, berichtet der schlaksige Walter Fernolend, der durch die Gemäuer führt. „Deutschweisskirch brannten sie zweimal nieder, die Fliehburg nahmen sie nie.“ Dass Ungarn, Rumänen und Zigeuner von der Burg ausgesperrt waren, erwähnt Fernolend nicht. Unwillkürlich ruft die trutzige gotische Architektur den anderen Namen Siebenbürgens in Erinnerung: Transsylvanien, Land jenseits der Wälder.
Um sein Reich vor den wiederholten Einfällen der Mongolen zu sichern rief der ungarische König Geysa II. im Jahr 1141 deutsche Bauern ins Land. Diese ersten Entwicklungshelfer kamen anders als der Name Sachsen suggeriert aus dem Rhein-Mosel-Gebiet. Daher spricht man bei den Fernolends Zuhause bis heute ein antiquiertes Luxemburgerisch, das wie holländisch klingt. „Wir bildeten die sogenannte ‚Vormauer der Christenheit’“, sagt Walter Fernolend.
Mittlerweile ist Viscri auch ein Vorbild für die sanfte Entwicklung des ländlichen Rumäniens durch den Tourismus. Daran haben die Fernolends großen Anteil. Sie haben dafür gesorgt, dass das Dorf Weltkulturerbe der Unesco wurde. „Anfangs haben mich alle ausgelacht“, sagt Karoline Fernolend. „Man hat mir nachgerufen: ‚Wenn die Büffel fliegen, ändert sich was.’ Aber unsere Häuser verfielen weil keine Handwerker mehr da waren.“
Fernolend schrieb an den Mihai-Eminescu-Trust. Die englische Stiftung, die sich für den Erhalt traditioneller rumänischer Dörfer engagiert, entschied, die Renovierung der Häuser zu finanzieren und bildete Handwerker aus. Vor zwei Jahren kam sogar der Schutzpatron des Stiftung nach Viscri, Prinz Charles. Unter einem uralten Nussbaum aßen Karoline Fernolend und Charles Hühnersuppe. Fernolends Mutter Sara Dootz bekam sogar einen Kuss vom Prinzen. Zwei Wochen habe sie sich nicht gewaschen, klatscht man seitdem im Dorf.
Mehr als 30 Häuser sind in Viscri renoviert worden. Sie leuchten in hellblau, grün oder gelb. An einigen Häusern sind die Namen ihrer Erbauer angebracht: „Georg Guttner, Anno 1863“. An anderen Häusern wird noch gearbeitet. Wegen der Einzigartigkeit des Ensembles kommen nun rund 2.000 Besucher im Jahr. Für das Gefühl der Weltabgeschiedenheit nehmen die Touristen einfache Unterbringung und rustikales Essen in Kauf: Milch, Kartoffeln, viel Fleisch. Aber alles ökologisch angebaut weil für Kunstdünger und Pestizide kein Geld da ist.
In Viscri leben die Bauern wie ein Großteil der 22,5 Millionen Rumänen von der Hand in den Mund. Sie bearbeiten ihre Felder mit dem Pferdepflug, das Heu mähen sie wie seit Jahrhunderten mit der Sense. „Damit sich was bessert müssen die Leute halt selbst anpacken“, sagt Karoline Fernolend. „Man darf nicht immer nur darauf warten, das sich was ändert. In Viscri, so scheint es, wartet ein Teil der Einwohner nicht mehr. Einige Bauern sind mittlerweile kleine Hoteliers. Sie pauken französisch weil die meisten Gäste aus Frankreich kommen. „Ein französischer Reiseführer hat uns erwähnt“, erklärt sich Fernolend das Phänomen, „außerdem schätzen die Franzosen Geschichte“. Davon gibt es in Viscri reichlich.