Tierisch-tragische Lovestory: In Rio de Janeiro gibt es noch ein freilebendes Ara-Weibchen. Aus Einsamkeit besucht es täglich seine Artgenossen im Zoologischen Garten. Dort hat es auch einen Partner, dem es treu ist. In der Stadt sind Romeo und Julia kleine Stars.
Julia kommt jeden Morgen und bleibt bis zum Abend. Romeo wartet meistens schon auf sie, und die beiden leisten sich für den Rest des Tages Gesellschaft. Sie schnäbeln durch den Maschendrahtzaun, krächzen, zupfen sich gegenseitig das Federkleid und legen die Köpfe schief. Bei Einbruch der Dämmerung fliegt Julia wieder davon und lässt Romeo zurück in seiner Voliere im Bio Parque, dem kürzlich neu eröffneten Zoologischen Garten von Rio de Janeiro.
Wo Julia die Nacht verbringt, weiß niemand genau. Aber es muss irgendwo im Dschungel der brasilianischen Metropole sein, in deren Mitte der größte innerstädtische Nationalpark der Welt liegt. Zahlreiche Wildtiere sind hier zuhause, etwa Affen, Anakondas, Kaimane und Faultiere. Und eben auch Julia, ein großer buntgefiederter Gelbbrustara, landläufig würde man sagen: ein Papagei.
Julia, wie die Angestellten des Zoos sie getauft haben, ist der einzige freilebende Ara Rios. Das ist einerseits rätselhaft, weil keiner genau weiß, woher Julia stammt und wie sie in die Stadt gekommen ist. Andererseits ist es tragisch, weil Aras sehr gesellige Tiere sind und man sie in der Natur nie alleine antrifft. Julia muss also auf der Suche nach Gesellschaft gewesen sein, als sie zum ersten mal ihre Artgenossen im Zoo besuchte. Das ist jetzt rund zwei Jahrzehnte her, seitdem kommt sie fast jeden Tag.
Rund 35 Aras leben im Bio Park in einer artgerecht gestalteten rund 1000 Quadratmeter großen Voliere. Sie teilen sie sich mit Dutzenden anderen Papageienvögeln, Sittichen, Tukanen und Hokkohühnern. Als Besucher läuft man durch die bis zu sieben Meter hohe Voliere, während über einem die Tiere in leuchtenden Farben umher flattern, krächzen, schnattern und pfeifen. In Freiheit fliegen Aras rund 30 Kilometer pro Tag, dieses Bedürfnis spürt man auch hier. Ebenso begreift man, warum die Ureinwohner Brasiliens den Vögeln einst den Namen „Arara“ gaben. Sie verlautsprachlichten ihren Ruf.
Man muss in dem polychromatischen Spektakel genau hinschauen, um Julia auszumachen. Sie sitzt gerade oben auf der Voliere und wird immer wieder von anderen Aras besucht, darunter ihr Romeo (auch sein Name stammt von den Zoo-Angestellten). Er krallt sich mithilfe seines kräftigen Schnabels von unten ans Gitter. Bei ihren Rendezvous tauscht das Paar aber nicht nur Zärtlichkeiten aus, sondern auch Futter. Romeo bringt ab und zu Samen aus den Futterstellen der Voliere mit und Julia besorgt Früchte aus der Natur.
Kennengelernt haben müssen sich die beiden bei Julias ersten Besuchen im alten Zoo. Trotz des Zauns zwischen ihnen wurden sie ein Paar – eine Entscheidung mit Konsequenzen, denn Aras gelten als monogam, das heißt, sie gehen feste Paarbindungen ein, die viele Jahre halten können, unter Umständen sogar ihr ganzes Leben lang. In Freiheit kann ein Ara 35 Jahre alt werden, in Gefangenschaft sogar 80 Jahre. Wie in William Shakespeares Drama „Romeo und Julia“ ist daher auch diese tierische Beziehung eine tragische. Denn das Liebespaar wird immer durch einen Metallzaun getrennt sein und kükenlos bleiben. Der Vorteil der Paarbindung bei den Aras ist, dass sie Energie raubende Werbung um ein Weibchen und Rivalitäten unter den Männchen verhindert, sie dient also der Friedenssicherung. Außerdem kooperieren die Paare bei der Aufzucht des Nachwuchses, was dessen Überleben sichert.
„Wir werden das ja häufig gefragt“, sagt ein Zoo-Mitarbeiter in der Voliere. „Warum lasst ihr Julia nicht einfach hinein zu ihren Artgenossen? Oder warum lasst ihr Romeo nicht hinaus?“ Beides wäre unverantwortlich, sagt er, weil Julia in der Natur offensichtlich gut zurecht komme. Sie sei gut ernährt, habe ein leuchtendes Federkleid und man wisse nicht, wie sie auf ein Leben in Gefangenschaft reagieren würde. Romeo wiederum wurde im Zoo geboren und hat keine Erfahrung mit dem Leben in der Wildnis. Er wüsste beispielsweise nicht, wie und wo er nach Futter suchen sollte.
Unklar ist bis heute, wie Julia eigentlich nach Rio gelangt ist. Der letzte freilebende Gelbbrustara wurde 1818 in der Stadt von einem australischen Wissenschaftler gesichtet, damals waren Rios Wälder komplett für Kaffeeplantagen abgeholzt worden. Es wird daher vermutet, dass Julia vor Tierhändlern nach Rio geschmuggelt wurde und dann entflog, vielleicht bei jemandem, der sie illegal als Haustier hielt. Die Hauptverbreitungsgebiete der Aras, von denen man acht Arten unterscheidet – etwa der Blauara und der Grünflügelara – sind heute der Amazonaswald und die angrenzenden Ökosysteme etwa das Cerrado oder das Überschwemmungsgebiet Pantanal im Westen Brasiliens. Sie liegen Tausende Kilometer von Rio entfernt.
Viele der Aras, die heute im Bio Park leben, wurden einst bei Polizeiaktionen gegen Wildtierschmuggler beschlagnahmt. Ihr prächtiges Gefieder, ihr Charisma und ihre Intelligenz – sie nutzen Werkzeuge, lösen Probleme, erkennen sich im Spiegel – machen sie extrem begehrt. Im Ausland kann ein Ara auf dem Schwarzmarkt bis zu 3000 Dollar einbringen. Dabei hilft das bunte Kleid der Aras ihnen zwar, sich im dichten Dschungel gegenseitig zu finden, wo sie in Gruppen von bis zu 50 Exemplaren zusammenleben; aber die Farbenpracht erleichtert es auch illegalen Jägern, sie aufzuspüren.
Wegen seiner Artenvielfalt ist Brasilien heute besonders betroffen vom Schmuggel mit Wildtieren, der nach dem Drogen- und dem Waffenhandel die drittgrößte illegale Handelsaktivität der Welt ist. Die Umweltbehörde Ibama schätzt, dass jährlich bis zu 38 Millionen Wildtiere in Brasilien gefangen werden. Der größte Teil davon sind Vögel: Aras, Papageien, Tukane. Häufig gefangen werden aber auch Affen, Raubkatzen und Schlangen. 90 Prozent der Tiere, so schätzt das Ibama, überleben die Strapazen der Gefangenschaft und des Transports nicht. Die Liebe zwischen Romeo und Julia ist daher auch die Geschichte zweier Überlebender.
So schön sie allerdings ist, sie hat einen Haken. Denn man kann nicht mit Sicherheit sagen, welcher der beiden Aras eigentlich Romeo und welcher Julia ist. Es ist unmöglich, mit dem bloßen Auge einen weiblichen von einem männlichen Ara zu unterscheiden. „Dazu müsste man einen Gentest machen oder die Geschlechtsdrüsen untersuchen“, sagt die Biologin Angelita Capobianco, die im Bio Park arbeitet. Allerdings sieht sie keinen Grund, die Tiere diesem Stress „nur wegen einer romantischen Projektion des Menschen“ auszusetzen.
Und so muss man sich dann eben mit der von den Zoomitarbeitern getroffenen Geschlechtszuschreibung abfinden: Julia lebt in Freiheit, Romeo im Zoo. Den Besuchern des Bio Parks ist das ohnehin egal. Viele sind hier, um sich mit ihren Kindern den neu gestalteten Zoo anzuschauen und ihnen bei der Gelegenheit auch Romeo und Julia zu zeigen, deren Geschichte zur Neueröffnung wieder einmal durch die Medien ging. „Diese Treue müsste es auch bei den Menschen geben“, sagt eine Frau. Ein älterer Herr berichtet, dass er Romeo und Julia schon vor vielen Jahren im alten Zoo gesehen habe und nun ganz überrascht sei, dass sie immer noch da seien.
Doch vielleicht findet die Geschichte der beiden Aras auch ein ganz ungeahntes Ende. Zu den Aufgaben von Rios Bio Park zählt nämlich auch die Aufzucht und Auswilderung einiger Tierarten in Kooperation mit verschiedenen Forschungseinrichtungen. Zu den ausgewählten Spezies zählt auch der Ara. Rund 20 von ihnen sollen Ende 2022 in Rios Tijuca-Nationalpark freigelassen werden und dort auch zur Diversifizierung der Fauna beitragen. „Aras können Früchte knacken, deren Schalen zu hart für andere Vögel sind, etwa die einiger Palmenarten“, erklärt der Biologe Marcelo Rheingantz von Rios Bundesuniversität UFRJ, der das Auswilderungsprojekt mit dem Namen Refauna koordiniert. „Die Aras verbreiten die Samen und sorgen für eine größere Pflanzenvielfalt.“
Vor ihrer Auswilderung erhalten die ausgewählten Jungvögel ein Training, durch das sie an eine Walddiät gewöhnt werden und außerdem lernen sollten, Gefahren zu erkennen, etwa die unzähligen oberirdisch gespannten Kabel und Leitungen, an denen sich viele Vögel in Rio verletzten; oder ihre natürlichen Feinde, etwa Greifvögel. Wenn es soweit ist, hofft Rheingantz, werde sich Julia den ausgewilderten Aras anschließen und für sie eine Art Lehrerin der Wildnis sein. Ob sie dann weiterhin jeden Tag treu in den Zoo komme oder sich eventuell einen Partner suche, mit dem sie Nachwuchs zeugen könne, müsse man abwarten.
ENDE