Rios Kampf gegen das Dengue-Fieber

Rios Kampf gegen das Dengue-Fieber

Das Schlüsselerlebnis hatte Norbert Lehmann vor drei Jahren. Er war in einer Favela in Rio de Janeiro untergekommen, als die Tochter einer Nachbarin plötzlich hohes Fieber bekam.

„Sie hieß Janine und war vier Jahre alt“, erinnert sich Lehmann, „ein fröhliches Kind“. Weil Janines Temperatur auch nach zwei Tagen nicht gesunken war, brachte ihre Mutter sie ins Krankenhaus. Dort starb Janine in der Warteschlange. „Virales hämorrhagisches Fieber!“, sagt Lehmann, „man stirbt an inneren Blutungen. Charakteristisch für eine wiederholte Dengue-Virus-Infektion. Wenn die Mutter schneller reagiert hätte, würde ihre Tochter wahrscheinlich noch leben.“

Norbert Lehmann erzählt die Geschichte in einem Straßenrestaurant in Rio de Janeiros größter Favela, dem Complexo da Maré. Auf wenigen Quadratkilometern leben hier 140.000 Menschen zusammen. Die dicht an dicht gebauten Häuser, die engen Gassen, das Durcheinander aus Menschen, Tieren und Waren sowie die prekären hygienischen Verhältnisse wecken Assoziationen ans Mittelalter. Die Maré, wie sie kurz genannt wird, ist außerdem in der Hand von Drogengangs, und so patroullieren hinter Lehmann gerade Jugendliche mit US-Sturmgewehren über die Straße. Lehmann stört das nicht. Der 67-Jährige ist hier, um das Dengue-Fieber zu bekämpfen.

Die Virus-Erkrankung breitet sich in Rio besonders stark während des Sommers von Dezember bis April aus und nimmt häufig epidemische Ausmaße an. Allein in den ersten fünf Monaten 2013 infizierten sich laut Gesundheitsbehörden rund 180.000 Menschen im Bundesstaat Rio mit dem Virus, 28 von ihnen starben. Über die die letzten zehn Jahre registrierten die Behörden mehr als 700 Todesopfer. Dass die Krankheit sich auch im Rest Brasiliens immer weiter ausbreitet, beweisen folgende, vom brasilianischen Gesundheitsministerium veröffentlichte Zahlen: 2013 starben in Brasilien 573 Menschen an Dengue, das ist eine Zunahme um rund 100 Prozent im Vergleich zu 2012. Die Anzahl der schweren Erkrankungen nahm im gleichen Zeitraum um 65 Prozent zu. Als einen der am meisten gefährdeten Orte listet das Ministerium wegen seiner vielen Dengue-Herde Rio de Janeiro auf.

„Besonders betroffen sind die Favelas“, sagt Lehmann, „weil die Menschen zu wenig über die Krankheit und ihre Überträger wissen.“ Das sind zwei Stechmückenarten: Aedes aegypti, auch bekannt als Gelbfiebermücke, und Aedes albopictus, die Asiatische Tigermücke.

Norbert Lehmann war früher Zahnarzt in Karlsruhe, bekannt für seine Hypnosetechnik. Vor knapp zehn Jahren wechselte er in den Ruhestand, reiste oft nach Brasilien und gründete den gemeinnützigen Verein Ireso, der in Rio Berufsausbildungs- und Gesundheitsprojekte finanziert. Für das von ihm entwickelte Modell einer günstigen Zahnversicherung für arme Kinder (1,50 Euro Monatsbeitrag) wurde Ireso von Bundeskanzlerin Merkel 2010 mit dem McKinsey-Innovationspreis bedacht.

Nun hat er ein Aufklärungsprojekt gegen Dengue ins Leben gerufen, dessen Gefahren Lehmann für völlig unterschätzt hält. „Das Fieber richtet einen enormen wirtschaftlichen Schaden an“, sagt er. „Man liegt mindestens eine Woche komplett flach, Dengue wird nicht umsonst Knochenbrecherfieber genannt.“ Tatsächlich schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO, dass weltweit 2,5 Milliarden Menschen akut von Dengue bedroht sind. Die Zahl der jährlichen Dengue-Virus-Infektionen beträgt 400 Millionen, und die WHO warnt vor einer weiteren Ausbreitung der Seuche. In Europa wurden die ersten Fälle 2010 in Frankreich und Kroatien registriert.

Im schlimmsten Fall verläuft die Infektion, die von fünf verschiedenen Dengue-Viren ausgelöst wird, tödlich. Dabei ist es vor allem die zweite oder dritte Infektion, die gefährlich ist. Die erste Infektion führt zwar zu hohem Fieber, Muskel- und Kopfschmerzen sowie Hautausschlag, klingt aber in der Regel nach sieben Tagen wieder ab. Das Problem ist, dass der Organismus nun eine Immunität gegen den jeweils auslösenden Virustyp entwickelt. Die Abwehrzellen sind gegen die anderen vier Virustypen jedoch nicht wirksam genug. Infiziert man sich also ein zweites Mal mit einem neuen Virustyp, irrt das Immunsystem. Die körpereigenen Antikörper attackieren das neue Virus, können es aber nicht neutralisieren. Dadurch gelingt es dem vermehrt, in die Abwehrzellen einzudringen und sich in diesen zu vermehren. Dies ist ein Alarmsignal für unser Immunsystem, das nun überreagiert und auch körpereigene, nicht infizierte Zellen zerstört, insbesondere die Gefäßzellen.

Der Krankheitsverlauf ist dementsprechend gravierend. Es treten innere Blutungen und Gefäßschäden auf. Tödliche Ausgänge sind nun etwa 100 mal häufiger als bei klassischem Denguefieber. Es kann daher lebensrettend sein, sofort ein Krankenhaus aufzusuchen. „Das wissen viele Menschen in der Maré nicht“, sagt Lehmann, „sie glauben oft, sie hätten Grippe“. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Stechmücken nicht zwischen reich und arm unterscheiden. Dengue kommt sehr wohl auch in den wohlhabenden Gegenden der Stadt vor. Dort richtet es allerdings weniger Schaden an, denn in der Klassengesellschaft Brasiliens sind die Reichen informierter und haben einen besseren Zugang zum Gesundheitssystem.

Mit 75.000 Euro Spendengeldern betreibt Ireso nun eine dreijährige Aufklärungskampagne in der Maré. Lokaler Träger ist die Nichtregierungsorganisation Redes da Maré. Sie hat rund 20 Jugendliche aus dem Armenviertel ausgesucht, die „Little Dengue Docs“. Sie sind mit 450 Fragebögen durch die Maré gezogen, um herauszufinden, was die Menschen über Dengue wissen. Die Auswertung ergab, dass die Hälfte der Bewohner keine Ahnung hat. „Manche glauben, man könne sich über die Luft oder verdorbenes Essen anstecken“, sagt der 16-jährige Lucas Oliveira.

Deswegen geht es nun um Aufklärung. Es ist Freitagmittag und die Jugendlichen gehen von Haus zu Haus, tragen gelbe T-Shirt mit dem Spruch „Xô Dengue!“ – „Dengue, hau ab!“ Oliveira erklärt, dass es ein großes Problem sei, dass die Stechmücken so anspruchslos sind und ihre Larven überall schlüpften: „In Pfützen, weggeworfenen Getränkedosen, übergossenen Pflanzentöpfen.“ Er rät den Bewohnern, auf solche Seuchenherde zu achten und sie notfalls auszutrocknen, etwa mit Sand.
Die Jugendlichen werden von zwei Mikrobiologen betreut, die an Rios bundesstaatlicher Universität UFRJ forschen. „Der Kontakt mit der Uni ist für die Jugendlichen aus der Favela enorm wichtig“, sagt die Virologin Renata de Mendonça von der UFRJ. „Das sind normalerweise zwei Welten.“ Das Projekt hat neben dem Gesundheitsaspekt also auch eine soziale Komponente. „Die Jugendlichen übernehmen Verantwortung für ihre Gemeinde“, sagt de Mendonça. Sie erkrankte selbst Anfang des Jahres an Dengue.

Über die UFRJ ist an dem Projekt auch das Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin beteiligt. Die Kooperation kam über einen Freund Lehmanns zustande, den Heidelberger Professor Norbert Becker, einer Ikone unter Mückenexperten und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Dipterologie – also der Zweiflüglerkunde. Er ist auch Leiter der Kommunalen Aktionsgemeinschaft zur Bekämpfung der Schnakenplage, die am Oberrhein für eine Reduzierung der Stechmückenpopulation um 99 Prozent gesorgt hat.

Ursprünglich waren die Tropenmediziner des Nocht-Instituts vom Auswärtigen Amt beauftragt worden, die Biosicherheit in Brasilien zu verbessern. Die Bundesregierung hatte das Programm im Hinblick auf die Großereignisse Fußball-WM 2014 und Olympischen Spielen 2016 initiiert. Es beinhaltet etwa Training im Umgang mit Gefahrstoffen und die Optimierung der Laborsicherheit. Zu weiteren Kooperationsländern zählen vom Terrorismus bedrohte Staaten wie Pakistan, Nigeria oder Ägypten.

Das Projekt in Rio wird von Jonas Schmidt-Chanasit betreut. Der Laborarzt und Virologe vom Bernhard-Nocht-Institut ist gerade für eine Woche in der Stadt, hat Stechmückenfallen mitgebracht und Kits zur Aufreinigung von Nukleinsäuren, die wichtig zur Identifizierung des Dengue-Erregers sind, einem RNA-Virus. Auch einen sogenannten Cycler, der die Virus-Erkennung in anderthalb Stunden ermöglicht, hat der 34-Jährige schon über den Atlantik transportiert. Das Verschicken wäre zu aufwendig, sagt er, die Geräte würden im brasilianischen Zoll stecken bleiben.

Der Wissenschaftler erzählt, dass das Dengue-Virus nicht zu unterschätzen sei. Die US-Gesundheitsbehörden rechnen es zur Biowaffen-Kategorie A, zu der auch Erreger wie das Ebola-Virus und das Marburg-Virus gehören. Per definitionem stellt es demnach die größte Gefahr für die nationale Sicherheit und die öffentliche Gesundheit dar. „Das Virus verbreitet sich schnell, wird leicht übertragen und führt zu einer hohen Sterblichkeitsrate“, sagt Schmidt-Chanasit.

Tatsächlich weiß das die US-Regierung selbst am besten. Sie steht im Verdacht, 1981 eine Dengue-Epidemie auf Kuba mit 344.000 Infektionen und 158 Toten ausgelöst zu haben. Das Fieber brach damals an drei Stellen gleichzeitig aus, an denen es jahrelang nicht existiert hatte. Der Erreger war seltsamerweise mit einem alten Laborstamm verwandt, der ursprünglich 1944 in Neuguinea isoliert worden war. Die Amerikaner, die damals mit diesem Laborstamm experimentierten, wollten offenbar das hervorragende kubanische Gesundheitssystem destabilisieren. Den Kubanern gelang es anschließend, das Dengue-Virus 15 Jahre lang nahezu von der Insel zu tilgen.

Von dem Ziel ist Brasilien weit entfernt, Dengue gehört hier zum Alltag. Fragt man im Freundeskreis herum, hört man immer wieder von Fällen. Man stelle sich also nur einmal eine Epidemie während der Fußball-WM vor: Götze, Lahm und Özil vor dem Finale mit Dengue-Fieber diagnostiziert. Oder eine Infektion von Usain Bolt während der Olympischen Spiele!

Um mehr über das Virus zu erfahren, stellt Schmidt-Chanasit nun an verschiedenen Stellen in Rio Stechmücken-Fallen auf. So will er mit den Kollegen von der UFRJ die Risikogebiete identifizieren und außerdem die monatlichen Veränderungen in der Zusammensetzung der Stechmücken-Population beobachten. Er meint auch, dass die deutsche Nationalmannschaft nächstes Jahr ihre jeweiligen Quartiere vor dem Einzug auf Risikoherde prüfen lassen müsse, etwa ob dort Bromelien wachsen, in deren Hohlräumen sich häufig unbemerkt Wasser sammle.

Die Laborgeräte, die Schmidt-Chanasit mitgebracht hat, stehen auch dem Ireso-Projekt im Complexo da Maré zur Verfügung. Während ihrer Tour sammeln die Jugendlichen Larven aus verschiedenen Pfützen, die später in der Universität auf Dengue analysiert werden. Ob das auf drei Jahre angelegte Ireso-Projekt am Ende ein Erfolg war, soll wieder mit Fragebögen eruiert werden. Der 16-jährige Lucas Oliveira hofft, dass dann kein Bewohner der Favela mehr glaube, dass Dengue durch Küssen übertragen werde.