Am Tag, als Maria da Penha die höchste Auszeichnung ihres Lebens bekommen soll, wird sie von einer Polizeieinheit geweckt. Mit Knüppeln und Tränengaskanonen stehen die Polizisten vor ihrem Haus. Es ist sechs Uhr morgens, 8. März 2016, Internationaler Frauentag.
Die Beamten lassen Maria da Penha noch Zeit, einige Sachen zusammenzupacken, dann fährt ein Bagger vor und rammt seine Schaufel in ihr dreistöckiges Haus. 23 Jahre lang hat Maria da Penha darin gewohnt.
Wenige Stunden später sitzt da Penha in der ersten Reihe des Landesparlaments von Rio de Janeiro. Die 51-Jährige hat ein bunt kariertes Hemd angezogen und sich herausgeputzt, denn an diesem Frauentag soll sie ausgezeichnet werden als vorbildliche Bürgerin Brasiliens. Doch nach Feiern ist ihr eigentlich gar nicht mehr zumute. In einem kurzen Statement sagt sie: „Heute bin ich traurig, aber die Ehrung macht mich stark. Für Mega-Events setzen sie dich auf die Straße, so läuft das hier.“
In drei Monaten starten in Rio die Olympischen Spiele nur wenige hundert Meter entfernt von Maria da Penhas abgerissenem Heim. Dort liegt, hinter einem Wellblechzaun, der Olympische Park.
Nicht nur da Penhas Haus musste deswegen weichen. 600 weitere einfach Häuser, die einst die Favela Vila Autódromo bildeten, wurden ebenfalls zerstört – angeblich, damit die Besucher der Spiele sich von ihrem Anblick nicht gestört fühlen. Der tatsächliche Grund aber ist ein anderer. Auf dem Gelände soll Platz für Luxusimmobilien geschaffen werden.
Die Vila Autódromo ist heute eine Trümmerlandschaft. Fahle Häuserwände ragen auf, einige Hunde streunen umher. Das Gelände ist durchzogen von den Furchen der Abrissbagger. Überragt wird die Szenerie von einem schwarz glänzenden Gebäudeblock: 40 Stockwerke hoch, neu, undurchsichtig. Tausende Journalisten werden dort bald übernachten. Es ist das Medienhotel der Spiele gleich neben der ehemaligen Favela errichtet. So ist das in Rio.
Bis die Journalisten einziehen, sollen auch die fünf Häuschen verschwunden sein, die am Rand von Vila Autódromo stehen geblieben sind. Sie gehören den letzten widerständigen Familien. Auch die katholische Kirche wurde bisher verschont. In dem Betonbau sitzt da Penha nun auf einer Holzbank in T-Shirt und Jeans. Ihre Habseligkeiten hat sie hierher gerettet: Möbel, Kleidung, Dokumente.
Maria de Penha ist eine schmale Frau mit kurzem Lockenschopf und fester Stimme. „Der Bürgermeister glaubt, dass man alles kaufen kann“, sagt sie. „Aber der Mensch, das ist seine Geschichte, Erinnerung, Gemeinschaft.“ Umgerechnet eine halbe Million Euro hat ihr das Rathaus angeboten, damit sie fortgeht. Sie lehnte ab. „Ich bin arm“, sagt sie. „Aber ich habe meine Füße hierher gesetzt, um zu bleiben.“
Die Geschichte von Maria da Penha und Vila Autódromo, es ist die Geschichte von Rio de Janeiro vor den Olympischen Spielen. Es ist eine Geschichte voller Widersprüche und Schmerz. Es ist auch eine Geschichte über Korruption von olympischen Ausmaßen. Für Maria da Penha wird diese Geschichte ein glückliches Ende nehmen – so sieht es zurzeit aus. Aber trauen kann man dem nicht. So wie man in Rio de Janeiro eigentlich nichts mehr trauen kann. Einer Stadt, in der nagelneue Fahrradwege einstürzen und zwei Menschen in den Tod reißen. In der man die olympischen Segler auf ein Gewässer schickt, das mit Fäkalien verseucht ist. In der Lehrer und Krankenschwestern seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten haben. In der die Polizei jeden Tag fünf Menschen tötet. Und jede Woche zwei Polizisten getötet werden.
„Als Rio 2009 zum Ausrichter der Spiele 2016 erkoren wurde, herrschte Euphorie“, sagt Pedro Trengrouse. „Es war verständlich aber falsch.“ Trengrouse ist Professor für Sportmanagement an der renommierten Getulio Vargas Stiftung, außerdem hat er in Harvard gelehrt und als UN-Gesandter die brasilianische Regierung vor der Fußball-WM beraten.
Der smarte 36-Jährige kommt zum Gespräch in die Bar von Rios Fußballclub Fluminense. Er will sich als neuer Vereinspräsident bewerben, hat aber kaum Chancen, zu unorthodox sind seine Ansichten. Er sagt: „Es gehört zur Marketingstrategie von Fifa und IOC, hohe Erwartungen zu wecken. Aber die Events haben keine positiven Effekte auf eine Gesellschaft. Es sind teure Partys, mehr nicht.“ Weil aufgeklärte Bürger dies begriffen hätten, schließt Trengrouse, würden solche Events nur noch in Ländern mit autoritären Regimen stattfinden können.
Autoritär ist das richtige Wort, um das Vorgehen von Rios Rathaus zu beschreiben. Allein zwischen 2009 und 2015 hat die Stadt nach eigenen Angaben 77.206 Menschen umgesiedelt. Sie mussten für Infrastrukturprojekte wie Schnellbustrassen weichen. Aber auch, um Immobilienspekulation zu ermöglichen. Viele fanden sich in dürftigen Behausungen am Stadtrand wieder. Es waren die größten Umsiedlungsaktionen in der Geschichte Rios. Nicht selten geschahen sie unter Zwang und mit brutaler Gewalt.
„Ich werde Olympia nutzen, um alles zu machen, was ich immer schon machen wollte“, hat Bürgermeister Eduardo Paes einmal gesagt.
„Olympische Spiele sind eine Täuschung“, sagt Pedro Trengrouse.
„Ich hatte nichts gegen die Spiele“, sagt Maria da Penha. „Bis sie nach Rio kamen.“
Aus Vila Autódromo wurden in den letzten zwei Jahren mehr als 500 Familien umgesetzt. Manche akzeptierten die immer üppigeren Entschädigungszahlungen der Stadt. Andere zogen in Sozialbauten. Aber die Qualität der Wohnungen sei so dürftig, hört man, dass viele wieder weg wollten. Risse in Böden und Wänden, lose Fenster, Duschen, in denen das Wasser nicht zum Abfluss läuft. „Viele hatten ja keine andere Wahl, als nachzugeben“, sagt Maria da Penha. Man habe den Strom gekappt oder Baumaterialien vor ihrer Haustür abgeladen. „Aber mich haben sich nicht gebrochen.“
Maria da Penha hat erreicht, was bisher niemandem gelungen ist, der umgesiedelt werden sollte. Nachdem die internationale Presse über Vila Autódromo berichtete – dieses gallische Dorf neben dem Olympiapark –, empfing der entnervte Bürgermeister Maria da Penha und eine kleine Abordnung. Er sagte zu, dass 20 Familien nach den Spielen bleiben dürften. Eine Schule soll gebaut werden, Spielplätze. Es wäre das erste Mal, dass die Stadt eine Favela urbanisiert – sie an den Asphalt anschließt, wie man in Rio sagt.
Maria da Penha seufzt, als sie das berichtet. „Die Unsicherheit hat an meiner Seele gezerrt.“ Auch physisch litt sie. Als das Haus einer besonders armen Familie abgerissen werden sollte, stellten sich die Bewohner vor das Gebäude. Ein Polizist brach Maria da Penha bei der Räumung die Nase. „Sie haben versucht uns, Angst zu machen“, sagt sie. „Aber Angst ist die Waffe der Schwachen.“
Beim Streit um Vila Autódromo geht es im Kern darum, wem Rio de Janeiro gehört. Es ist ein exemplarischer Konflikt in dieser sozial so tief gespaltenen Stadt. Um ihn zu verstehen, muss man ein wenig zurückblicken. Die Geschichte beginnt Ende der Sechzigerjahre, als Fischerfamilien am Rande einer Halbinsel siedeln, die wie ein Dreieck in die Lagune von Jacarepagua ragt. Die illegale Gemeinde wächst, als in den Siebzigern eine Formel-1 Rennstrecke auf der Halbinsel weit im Westen Rios gebaut wird. Arbeiter ziehen nun zu den Fischern, errichten einfache Unterkünfte. Von den Plagen anderer Armenviertel bleibt Vila Autódromo verschont: Drogenhandel und Schutzgeldmafia gibt es hier nicht.
In den Neunzigern verliert die Rennstrecke dann ihre Bedeutung. Es ist die Zeit, als ein gewisser Eduardo Paes Vize-Bürgermeister von Barra da Tijuca wird, der Stadtbezirk zu dem die Halbinsel gehört. Paes, damals 24 Jahre alt, ist heute Bürgermeister von Rio de Janeiro. Er sieht sich gerne als Macher, wird aufbrausend bei Kritik, möchte, dass die Dinge schnell geschehen, ist nicht immer stilsicher. Den eingestürzten Fahrradweg vergleicht er schon mal mit dem Problemflughafen BER in Berlin. Soll heißen, woanders läuft ja auch nicht alles wie am Schnürrchen. Man sagt Paes Ambitionen auf das brasilianische Präsidentenamt nach. Und engste Kontakten zur mächtigen Baubranche Rios.
Diese interessiert sich mit den Jahren immer mehr für das Gelände der Rennstrecke. Denn Barra da Tijuca entwickelt sich zum neuen Traumviertel der weißen Oberschicht: weit weg von Schmutz, Verbrechen und Armut der Nordzone. Dafür mit luxuriösen Wohntürmen, mehrspurigen Straßen und riesigen Shoppingmalls. Für Vila Autodrómo ist in dieser Welt kein Platz vorgesehen, obwohl die Landesregierung den Bewohnern 1999 eine Nutzungsrecht von 99 Jahren einräumt. Maria da Penha, in der kleinen Kirche auf ihrer Holzbank, erzählt, wie Eduardo Paes einmal mit einem Traktor zur Favela kam und ankündigte: „Ich mache Schluss mit Vila Autódromo!“
Es ist ein Vorgeschmack. Knapp 20 Jahre später entscheidet Paes, den Olympiapark auf dem Gelände der alten Rennstrecke zu bauen. Laut Plan wird das Terrain von Vila Autódromo zwar nicht für den Bau des Olympiaparks benötigt. Dennoch soll die Favela verschwinden. Es ist eine Forderung der Immobilienbranche. Der Kampf um die besten Plätze hat begonnen.
Die Sonne brennt unerbittlich als eine Pressebeauftragte des Bürgermeisters über den Olympiapark führt, auf dem so gut wie kein Baum steht. Neun Stadien für 16 Wettkämpfe hat man auf dem Areal errichtet, das 1,2 Millionen Quadratmeter misst. Das Schwimmstadion und die Handballarena sollen nach den Spiele wieder abgebaut werden, sie bestehen aus Fertigmodulen, einige Wände im Inneren sind aus Pappe. Andere Stadien will man in Konzertarenen umwandeln oder weiter sportlich nutzen. Aber vieles macht den Eindruck, dass es möglichst schnell und billig gehen sollte. Der Boden des Areals ist aus hässlichen Betonsteinen, die an den Rändern bröckeln.
Noch etwas fällt auf: die enormen Freiflächen. Die Sprecherin von Paes sagt, dass dort nach den Spielen Wohntürme errichtet würden. Es sei ein Stadtquartier in bester Lage geplant.
Gebaut und vermarktet wird das exklusive Viertel von den Konzernen Odebrecht, Carvalho Hosken und Andrade Gutierrez. Es sind dieselben Firmen, die den Olympiapark gebaut haben. Zum Ausgleich für dieses Engagement haben sie die Lizenz zum Bau der luxuriösen Wohntürme erhalten. Solche Abkommen nennt man Public Private Partnership (PPP), sie sollen die öffentliche Hand schonen. Bürgermeister Paes ist ein großer Fan, aber Kritiker bemängeln die Unausgewogenheit. In Rio gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass die Verträge die Unternehmen extrem bevorteilten. Ein Beispiel: Die Stadt finanzierte die Räumung von Vila Autódromo, um das Gelände hinterher einem Immobilienkonzern zur Projektentwicklung zu überlassen. Das war zumindest der Plan.
„Diese Partnerschaften sind ein Einfallstor für Korruption“, sagt der Anwalt Jean Carlos Novaes. Er beschäftigt sich seit Jahren mit den Unregelmäßigkeiten rund um den Olympiapark und bereitet eine Klage gegen Eduardo Paes vor. Der Vorwurf: Veruntreuung öffentlicher Gelder.
Novaes wartet in einer Hotelbar unweit des Olympiaparks. Er ist ein unauffälliger, stiller Typ, keiner, der den Rummel suchen würde. Es gehe um Transparenz und demokratische Mitsprache beim Umbau der Stadt, sagt er. Novaes berichtet, dass im Olympiapark so gut wie alle gesetzlichen Vorschriften verletzt worden seien. „Es fehlen technische Gutachten, Umweltgutachten, öffentliche Anhörungen. Der Bürgermeister entschied alles eigenmächtig und im Sinne der Baufirmen. Es sind seine Geldgeber.“
Rios Baubranche ist der große Finanzier von Rios Politik. Allein Carvalho Hosken gab zur letzten Wahlkampagne von Eduardo Paes umgerechnet 250.000 Euro. „Von den 51 Abgeordneten im Stadtparlament stehen 39 auf der Spendenliste von Baufirmen“, sagt Novaes. Er nennt sie „Prepaid-Abgeordnete“.
Für Novaes ist klar, dass die Olympischen Spiele in Rio genutzt werden, um den Konzernen milliardenschwere Immobiliendeals auf Kosten der Steuerzahler zuzuschanzen. Dafür gibt es erste Beweise. Im Zuge von Korruptionsermittlungen rund um den Petrobras-Skandal fand die Polizei im Haus eines Odebrecht-Chefs ein brisantes Schriftstück. Datiert auf den 11. Februar 2011 führt es die drei genannten Baufirmen bereits als Konstrukteure des Olympiaparks auf. Aber erst ein Jahr später standen sie offiziell als Gewinner der Ausschreibung fest. Der Verdacht der Kartellbildung liegt nahe.
„Wir waren für die nur Verfügungsmasse“, sagt Maria da Penha. Sie erinnert sich an ein Interview, das der Chef der Baufirma Carvalho Hosken der BBC gegeben hat. Er behauptete, Vila Autódromo von der Stadt gekauft zu haben. Ab 2018 würde er dort Luxusapartments errichten. Es sei kein Platz in Barra da Tijuca für Arme oder Indianer. Sie würden stinken. Niemand wolle neben solchen Leuten wohnen.
Darüber muss Maria da Penha heute lachen. Wie es aussieht, hat sie gegen Carvalho Hosken gewonnen. Aber richtig daran glauben will sie erst, wenn die neuen Häuser stehen. Laut Vertrag sollen sie bis Ende Juli fertig sein. Aber wie die Stadt in knapp zwei Monaten zwanzig neue Häuser samt Infrastruktur bauen will, ist ein Rätsel. „Ich glaube nicht daran“, sagt Anwalt Novaes. „Es gibt keinen Grund, dem Rathaus zu trauen.“
Dass Olympia mehr als nur Olympia brächte, steht auf einer großen Tafel am Medienzentrum fünf Gehminuten von Vila Autódromo entfernt. Was genau damit gemeint ist, bleibt dieser Tage in Rio de Janeiro rätselhaft.