Port-au-Prince: Das tägliche Beben

Port-au-Prince: Das tägliche Beben

Halbnackt liegt der Fünfjährige auf einer Bare, als die drei Vermummten ihre Sprühdüsen auf ihn richten. Sie tragen Atemmasken, Schutzbrillen und Gummistiefel. Den Kopf des leblosen Kindes haben sie mit Watte umwickelt.

Sie waschen den Jungenkörper mit Chlor ab, falten seine Hände und heben ihn in einen Kunststoffsack, dessen Verschluss mit einem Surren schließt. Vom anderen Ende des Geländes dringt Schluchzen herüber. Die Mutter des Jungen bricht zusammen. Ihr Kind wird die junge Frau nie wieder sehen, die Totengräber werden den Plastiksack in ein Massengrab werfen.

Auf dem ehemaligen Golfplatz von Port-au-Prince, wo sich bis zum Erdbeben vom 12. Januar 2010 die haitianische Elite zum Putten traf, hat die Cholera wieder ein Leben fortgerissen. Vor dem Clubhaus hat man unter Armeezelten eine Krankenstation eingerichtet. Ausgemergelte Patienten liegen apathisch auf Feldbetten, in deren Mitte man Löcher geschnitten hat, durch die der Durchfall in Bottiche fließt. Fast alle sind an Tropfe angeschlossen, um ihnen die verlorene Flüssigkeit wieder zuzuführen. Hat ein Infizierter schon zu viel davon ausgeschieden, gibt es keine Rettung mehr. Bei dem Fünfjährigen war der Punkt schon nach drei Stunden erreicht. Das Bakterium arbeitet schnell und erbarmungslos.


Experten schätzen, dass die Zahl der Cholera-Toten in ganz Haiti bei mindestens 6000 liegt – also doppelt so hoch ist, wie offiziell angegeben. Die Neuerkrankungen nehmen so schnell zu, dass die rund 25 Cholera-Kliniken in Port-au-Prince an den Rand ihrer Kapazitäten gelangt sind.

Die kleine Cholera-Station auf dem Golfplatz ist Teil eines der größten Flüchtlingscamps von Port-au-Prince. Mehr als 55.000 Menschen leben in dem Lager, das Sean Penn leitet. Der Schauspieler verbringt hier so viel Zeit wie möglich, die Bewohner des Camps nennen ihn „Papa“. Er treibt schnell Geld, Ärzte und Freiwillige auf, zurzeit ist er zu Gesprächen in den USA. Es sind die vermeintlichen Kleinigkeiten, die das Penn-Camp zum bestorganisierten der Stadt machen: Zwischen den Zelten herrscht Abstand, der so etwas wie Privatsphäre ermöglicht; man hat Orte für Versammlungen eingerichtet und Kanäle gegraben, in denen das Wasser nach Regengüssen abfließt.

Und dennoch breitet sich auch hier die Cholera aus, weil sich die allgemeinen hygienischen Zustände in Port-au-Prince, wo eine Millionen Menschen praktisch im Freien leben, ständig verschlechtert haben. Nach dem großen Beben wütet der Tod nun in den Eingeweiden ihrer Bewohner. Und manchmal scheint es, als ob das Bakterium auch die Köpfe der Haitianer befallen hat.

„Die Menschen glauben jeden Quatsch.“ Sterling Augustin kämpft sich seit einer Stunde durch das Labyrinth aus Zelten auf der Champs de Mars, dem ehemaligen, schönen Park im Zentrum von Port-au-Prince, der von seinen Ausmaßen mit dem Berliner Alexanderplatz vergleichbar ist. Augustin soll die Zehntausenden, die hier leben, über die Cholera-Gefahr aufklären. Der 24-Jährige trägt ein weißes T-Shirt, Jeans und Turnschuhe. Er spricht zwei Frauen an, die Wäsche waschen und entrollt ein Poster, auf dem zu sehen ist, wie man Trinkwasser mit Chlor desinfiziert und Lebensmittel reinigt. Doch die Frauen sagen gleich, dass die Cholera „politisch“ sei. Sie sei von Ausländern eingeschleppt worden, wahrscheinlich von einer NGO, die noch mehr Spendengelder kassieren wolle. Augustin antwortet, dass man sich gegen die Cholera schützen müsse, egal woher sie komme. An seiner nächster Station behauptet ein alter Mann, dass die Vereinten Nationen die Cholera gebracht hätten – und kommt damit der Wahrheit schon näher: Es waren wohl Blauhelme aus Nepal, die das Bakterium unwissentlich mit sich führten. Auch deshalb attackieren Jugendliche täglich die Fahrzeuge der Vereinten Nationen und bedrohen UN-Mitarbeiter.

Augustin ist schon seit den ersten Tagen nach dem Beben in den Camps unterwegs, täglich sechs Stunden für 400 US-Dollar im Monat, die von einem Zusammenschluss haitianischer Gesundheitsorganisationen bezahlt werden. Seitdem habe sich die Situation stetig verschlechtert, sagt er. „Die Leute haben die Hoffnung und verloren, dass sich etwas ändern wird.“

Tatsächlich meinten noch im Mai letzten Jahres die meisten Haitianer, mit denen man ins Gespräch kam, dass es nun auch eine Chance zum Neuanfang gebe. Es war so etwas wie Zuversicht spürbar. Nichts davon ist geblieben. Trotz der Milliarden Dollar an Hilfsgeldern, sieht es in Port-au-Prince immer noch so aus, wie am Tag nach dem Beben. Für den US-amerikanischen Soziologen Timothy Schwartz, der seit fast 20 Jahren in Haiti lebt, ist das keine Überraschung. Er ist mit seinem Motocross-Motorrad bis in die abgelegensten und desolatesten Winkel des Landes gefahren und hat beobachtet, wie die westliche Hilfe seit Jahrzehnten scheitert. Auf die Frage, was dieses Mal passiert sei, antwortet er: „Same old shit!“

Zunächst strömten Tausende von Helfern nach Haiti und agierten völlig chaotisch, was auch daran lag, dass die gesamte Führung der Vereinten Nationen unter den Trümmern des Luxushotels Montana begraben lag. Es gab keine Prioritäten, weil alles dringend war. Der haitianische Staat, der so etwas wie Koordination hätte leisten können, ist eine Farce: eine bloße Ansammlung von Namen und Titeln. Weil das Beben zudem am frühen Abend zuschlug und alle Ministerien zerstörte, erwischte es die Beamten, die um diese Zeit noch arbeiteten – also die engagierten.

Dann zogen nach einem halben Jahr plötzlich viele der Nichtregierungsorganisationen ab, die zuvor Nahrungsmittel geliefert und medizinische Versorgung geleistet hatten. Sie verstanden ihre Aufgabe als Erste Hilfe. Was auch damit zu tun hat, dass sie die meisten Spendengelder erhalten unmittelbar nachdem die Bilder einer Katastrophe um die Welt gegangen sind. Andere Hilfsorganisationen verfolgten unterdessen ihre eigenen Interessen. Zwei US-Firmen, die den Auftrag hatten, haitianische Arbeitskräfte einzustellen um beispielsweise Trümmer zu beseitigen, gaben 70 Prozent der Gelder, die sie von der US-Regierung erhalten hatten, für den Kauf neuer Geräte und Materialien aus, nicht aber für Gehälter der Haitianer. Dabei war die ursprüngliche Idee hinter dem sogenannten „Cash for Work“-Programm, Bargeld unter die Haitianer zu bringen, um die lokalen Märkte wieder anzukurbeln. Die Nachrichtenagentur AP hat recherchiert, dass wegen dieses Missbrauchs täglich nur 8000 und nicht die vorgesehenen 25.000 Haitianer Arbeit bekamen.

Die Hilfsagentur der US-Regierung, USAID, wendete sehr fragwürdige Kriterien zur Geldvergabe an. Von den 1583 Firmen, die Aufträge im Wert von 267 Millionen Dollar erhielten, waren nur 20 in haitianischem Besitz. Diese erhielten lediglich 4,3 Millionen Dollar, also 1,6 Prozent der Hilfsgelder. USAID fungierte somit in erster Linie als „Entwicklungshelfer“ der US-Wirtschaft.

Die Organisation verteidigt sich nun mit dem Argument, das man die Korruption in Haiti umgehen wolle – was tatsächlich schwer zu widerlegen ist. Noch in der Nacht des Erdbebens, als die meisten Überlebenden mit bloßen Händen in den Trümmern nach Verschütteten suchten, knallten in den Bergvillen rund um Port-au-Prince die Champagnerkorken. Die hellhäutige Elite wusste, dass Milliarden von Dollars ins Land strömen würden. Schon bald erhob man Zölle auf dringend benötigte Hilfslieferungen, was nichts anderes als Wegelagerei auf dem Rücken von Hungernden war. Jüngstes Beispiel für die korrupte politische Klasse: Patrick Delatour, Haitis Tourismusminister und hochrangigstes Mitglied in der Planungskommission zum Wiederaufbau von Port-au-Prince, besitzt Anteile am größten Betonkonzern des Landes. Er macht keinen Hehl daraus, dass er seine Privatinteressen auch weiterhin verfolgen werde. Größter Teilhaber der Firma ist sein Vetter. „Haitis Regierung organisiert die Korruption“, sagt Tim Schwartz.

„Wir brauchen einen Mann wie Hugo Chávez!“ Thomas Primactéus sammelt die Reste seines Lebens zusammen: ein paar Holzlatten, Wellblech und Dutzende Romane. Fast ein Jahr hat der 53-Jährige in einem Flüchtlingslager vor dem eingestürzten Präsidentenpalast gelebt, seine Bleibe war eine sechs Quadratmeter Meter großer Verschlag. Nun hat er genug. Die Situation im Camp sei unerträglich geworden, sagt er: „Es haben sich Banden gebildet, die die Campbewohner terrorisieren. Es wimmelt von Ratten und Kakerlaken. Essen kommt keins mehr.“ Primactéus ist eine imposante Erscheinung: schlank, hochaufgeschossen, Polo-Hemd, Leinenhose, Adidas-Turnschuhe, höflich. Und er spricht ein makelloses, gewähltes Englisch, was im seltsamen Kontrast zum Elend um ihn herum steht.

Primactéus ist ein DP, eine Deported Person. Seine Eltern flohen 1972 vor der Duvalier-Diktatur in die USA. Dort hat er in der Luftwaffe gedient, war in Frankfurt und Südkorea stationiert und an der Panama-Invasion beteiligt. Nach seiner Militärzeit war er Restaurant-Manager und hat in einer New Yorker Uni-Klinik gearbeit. Dann hat er Kreditkarten gefälscht, wurde verraten und nach mehr als 30 Jahren in den USA unter Anwendung des „USA Patriot Act“ nach Haiti deportiert. Er war noch nicht lange wieder im Land, als die Erde bebte. Seitdem hauste Primactéus vor dem Präsidentenpalast, ernährte sich von Brot und Kaffee, magerte ab und las viel, Lieblingsbuch: Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“.

Wohin er jetzt gehen soll, weiß Primactéus nicht. Aber das sei ja auch völlig egal, solange Haiti von Banditen regiert werde. Als ob das unbewältigte Erdbeben und die Cholera nicht schon genug seien, wird das Land von einer weiteren Pest heimgesucht: Wahlbetrug. Die Partei des Noch-Präsidenten René Préval hat ihren Kandidaten Jude Célestin in die Stichwahl gehievt, was zu heftigen Ausschreitungen mit Toten geführt hat. Wahlbeobachter der Vereinten Nationen, die die unverfälschten Resultate aus allen Wahlbüros kennen, sagen unter Zusicherung von Anonymität, dass Célestin es unter keinen Umständen in die Stichwahl geschafft habe. Auf den ersten beiden Plätzen lägen die etablierte Politikerin Mirlande Manigat und der Pop-Sänger Michel „Sweet Micky“ Martelly.

Nun wartet das Land angespannt auf eine Lösung des Dilemmas. Soll es teure Neuwahlen geben oder nur eine Neuauszählung der Stimmen, wie sie die Regierung bevorzugt. „Wenn sie Célestin wieder an zweite Stelle setzen, explodiert Haiti“, sagt Primactéus, und alle Umstehenden nicken und ballen die Fäuste. Aber was Wahlen in Haiti angeht, hat der Obdachlose ohnehin eine Meinung, die dem westlichen Demokratieverständnis widerspricht. „Es gibt keine Demokratie ohne Bildung, Nahrung und Gesundheit.“

Richard Morse besitzt das berühmteste Hotel der Karibik. Das Hotel Oloffson ist ein zweistöckiges Herrenhaus im Zuckerbäckerstil mit weißen verschnörkelten Holzveranden und Säulen. Hier ließ Graham Greene seinen Roman „Die Komödianten“ spielen, heute schätzen vor allem Journalisten den abgewetzten Charme des Hauses, in dessen Garten Dutzende von Voodoo-Puppen und Skulpturen stehen. Als eins der wenigen Hotels im Zentrum von Port-au-Prince hat das Oloffson das Erdbeben überstanden. “Alt und gut”, sagt Richard Morse.
Der 54-Jährige ist auch der Kopf vom RAM, einer der bekanntesten haitianischen Bands. Jeden Donnerstag spielen das 18-köpfige Orchester bis in die frühen Morgenstunden vor Hunderten von Gästen in der Hotellobby. Diesen Donnerstag hat Morse das Konzert abgesagt. Sein Vetter ist Michel Martelly, der sich um die Präsidentschaft bewirbt und als Kandidat des einfachen Volkes gilt. Morse wollte verhindern, dass das Konzert von Provokateuren der Regierungspartei gestört wird: „Wir ermutigen die Haitianer, sich auszudrücken, das gefällt einigen im Land nicht.“

Morse frühstückt zwei gekochte Eier mit grüner Tabasco-Sauce und redet mit der Langsamkeit von jemandem, der in seinem Leben zu viel Marihuana geraucht hat. Aber er ist einer der wenigen reichen und ausgebildeten Haitianer, die das Land problemlos verlassen könnten und trotzdem geblieben sind. Mehr als 80 Prozent der Universitäts-Absolventen gehen in die USA, Kanada und Europa, womit Haiti Weltspitze ist, was die Abwanderung Qualifizierter betrifft. „Aber was soll ich woanders?“, fragt Morse. „Die Haitianer sind spirituell und kulturell die tiefsten Wasser der Welt“, sagt er. „Und wenn Michel Martelly Präsident wird, wird das ganze Land singen und tanzen.“ Morse hat ein Lied über das Erdbeben geschrieben. Die ersten Zeilen gehen so: „Guten Morgen, Frau Wetter. Was hast Du mir angetan? Wo ist meine Mutter, wo ist mein Vater, wo ist meine Kuh, wo ist meine Ziege, wo sind meine dritten Zähne? Was soll ich nur in diesem Land? Was kann ich hier noch tun?“