Als zerklüftete Berge am Horizont aufragen, macht der Tourleiter die Regeln klar. Fotografieren sei in Kaesong stark eingeschränkt, keine Häuser, keine Menschen und um Himmels willen keine nordkoreanischen Soldaten, mahnt er.
Alle Kameras würden beim Verlassen der Stadt kontrolliert. Weiterhin, sagt er, solle man die Menschen nicht fragen, ob man eine Anstecknadel mit dem Konterfei Kim Il-Sungs kaufen könne. Es könnte als Beleidigung missverstanden werden, denn die Nadeln sind keine touristischen Souvenirs. Wer sein Handy nicht schon am südkoreanischen Kontrollpunkt abgegeben habe, müsse es jetzt tun.
Zehn Minuten sind es noch bis an die Grenze. Jenseits beginnt eine Welt, in der alles anders ist.
Dicht hintereinander fahren acht Reisebusse durch die vier Kilometer breite Pufferzone zwischen dem kapitalistischen Süd- und dem kommunistischen Nordkorea. Beide Länder befinden sich seit 1953 offiziell im Kriegszustand. Die Straße ist autofrei, rechts und links wachen Maschinengewehrposten der südkoreanischen Armee. Doppelzäune reißen die von Sträuchern bewachsene Landschaft auseinander, daneben stehen baumlange Kerls mit Ray-Ban-Brillen und starren nach Norden. „Die haben alle den schwarzen Gurt in Taekwondo“, bemerkt ein Südkoreaner im Bus stolz.
Dann, auf halber Strecke durch die sogenannte Demilitarisierte Zone, überqueren die Busse den 38. Breitengrad, die Waffenstillstandslinie. Jetzt übernehmen die Nordkoreaner: schmächtige Figuren in Uniformen aus grobem Stoff, tellergroße Hüte auf dem Kopf. In der Ferne flattert die nordkoreanische Fahne mit dem roten Stern an einem der höchsten Flaggenmasten der Welt, 160 Meter hoch.
Bill Clinton hat diese Grenze einmal als den „gruseligsten Ort der Welt“ bezeichnet. Dank eines gewagten Versuchs hat sie nun einen Teil ihres Horrors eingebüßt. Die Bustour gehört dazu: Seit Anfang des Jahres dürfen Gruppen aus Südkorea erstmals eine nordkoreanische Stadt besuchen. Kaesong, zehn Kilometer hinter der Grenze gelegen und 70 Kilometer von Seoul entfernt. Je nach Quelle leben hier zwischen 140.000 und 340.000 Menschen. Für alle Koreaner besitzt die Stadt einen mythischen Status, weil hier von 918 bis 1392 die Könige der Koryo-Dynastie herrschten.
Außerdem aber liegt in Kaesong die erste Sonderwirtschaftszone Nordkoreas, eine kapitalistische Exklave inmitten des Kommunismus. In einem 16 Hektar großen Gewerbepark stellen hier nordkoreanische Arbeiter für südkoreanische Firmen Exportprodukte her. Das Gelände wurde vor acht Jahren von den Machthabern in Pjöngjang an den Multikonzern Hyundai im Rahmen der „Sonnenscheinpolitik“ des südkoreanischen Präsidenten Kim Dae-Jung verpachtet. Später kam heraus, dass Hyundai Pjöngjang geschmiert hatte.
Auch die Bustouren, die seit Dezember 2007 täglich stattfinden, sind von Hyundai organisiert. Schon Wochen vorher muss man sich anmelden und 190 Dollar zahlen, von denen 100 direkt an den Norden fließen. Fast alle Südkoreaner, die mitfahren, sind rüstige Senioren, ausgestattet mit Treckinghüten, Kameras und Sonnenschirmen. Die meisten erinnern sich noch an das Korea vor dem Kriegsausbruch 1950. „Es ist mein erster Besuch im Norden“, sagt ein Herr in Joggingschuhen, der sich als Mr. Lee vorstellt. „Ich wurde in Pjöngjang geboren, der Krieg verschlug meine Familie nach Seoul.“
Die Busse halten vor der nordkoreanischen Grenzstation, ein verspiegelter Kasten, den die Südkoreaner den Brüdern im Norden hingestellt haben. Wie sie ohnehin die gesamte interkoreanische Infrastruktur finanziert haben: Straßen, Brücken, Stromleitungen, Strom inklusive.
Rund 300 Südkoreaner und ein Grüppchen Europäer stellen sich an. Durch die Halle dudelt ein Volkslied: „Willkommen in Nordkorea, schön dich zu sehen!“ Nach der Passkontrolle sitzen zwei neue Begleiter im Bus: Mr. Kim hat vorne Platz genommen, Mr. Jung ganz hinten. Die nordkoreanischen Aufpasser sind identisch gekleidet: Lederslipper, Bundfaltenhose, helle Hemden. Über beider Herzen prangt eine Anstecknadel mit dem Porträt des „Großen Führers“ Kim Il-Sung, Vater des jetzigen Diktators Kim Jong-Il, dem „Lieben Führer“.
Während Mr. Kim vorne ein Volkslied schmettert, das von den Südkoreanern mit donnerndem Applaus bedacht wird, beantwortet Mr. Jung hinten Fragen. Er trägt eine blau getönte Brille im spitzen Gesicht, das von Segelohren gerahmt ist. Seit Jung vor 33 Jahren in Kaesong geboren wurde, hat er die Stadt nie verlassen – für Reisen braucht man eine Genehmigung. Wenn er nicht als Touristenführer unterwegs ist, arbeitet er auf einer Ginsengplantage, die Wurzeln aus Kaesong gelten als die besten der Welt.
Den Industriepark hält Jung für eine tolle Sache. Aber man werde nicht die Entwicklung Chinas durchmachen: „Wir sind selbstständig!“, zitiert er die Juche-Ideologie von Kim Il-Sung, die den Sonderweg Nordkoreas als autarke Nation vorschreibt und „ewige Staatsdoktrin“ ist. „Außerdem“, sagt Jung, „ist Nordkorea eine Stufe weiter in der gesellschaftlichen Entwicklung als der Rest der Welt“. Die Frage, warum Nordkorea dann trotz Überlegenheit zwölf Monate brauche, um so viele Waren auszuführen wie Südkorea an zwei Tagen, möchte der südkoreanische Dolmetscher aus Höflichkeit nicht übersetzen.
Die Sonderwirtschaftszone beginnt gleich hinter der Grenze. Der frische Asphalt flimmert in der Sonne, junge Bäume säumen die makellos gekehrten Bürgersteige, und jede der Fabrikhallen ist von einem Metallzaun umgeben. Anachronistisch wirkt das Porträt des „Ewigen Führers“ Kim Il-Sung an einer verspiegelten Glasfassade. „Mit General Kim werden wir siegen!“, heißt es darunter.
72 Fabriken gibt es bereits in Kaesong, in denen fast 25 000 Arbeiter Hemden, Handys, Kühlschränke und Kabelsätze für Autos herstellen. Das Geschäft für westliche Firmen im vermeintlichen Arbeiterparadies ist lukrativ: Alle Investitionen sind von Südkorea zu 90 Prozent abgesichert, und Nordkorea verlangt nur zwischen 10 und 14 Prozent Einkommensteuer. Die monatlichen Löhne liegen mit 57 Dollar noch unter denen in Vietnam. Da sie zudem direkt an den nord-koreanischen Staat gezahlt werden, kommen nur 30 Dollar bei den Arbeitern an. Die westlichen Firmen dürfen ihre Arbeiter jederzeit entlassen, Gewerkschaften sind verboten, Überstunden werden nicht entlohnt. Einig sind sich Kapitalisten und Kommunisten auch darin, dass Liebesbeziehungen zwischen südkoreanischen Vorgesetzten und nordkoreanischen Arbeiterinnen tabu sind.
In den nächsten Jahren will Hyundai in Kaesong Hotels bauen, einen See und Golfplätze anlegen. 700 000 Arbeiter sollen dann in 2000 Fabriken Waren im Wert von 20 Milliarden Dollar produzieren. Doch noch gibt es nicht mal eine Internetverbindung nach Seoul. Die Fabriken kommunizieren mit ihren Zentralen per Telefon und Fax.
Offensichtlich wirken diese Zustände aber nicht abschreckend. Die deutsche Firmengruppe Prettl aus Pfullingen hat 11.000 Quadratmeter gepachtet. Was genau der Spezialist für Autoelektronik dort herstellen wird, weiß er noch nicht. Auf die Frage, warum man ausgerechnet in Nordkorea investiere, blafft ein Prettl-Sprecher: „So ist halt das Geschäft.“ Mit Geschäft meint er wahrscheinlich neben den geringen Lohnkosten die Diszipliniertheit der nordkoreanischen Arbeiter. Bei einem Handyhersteller, bei dem keiner der neuen Angestellten jemals einen Computer gesehen hatte, zeichneten sie sich vorher die Tastatur auf Zettel um zu üben.
Für alle überraschend hält der Bus dann nicht vor einer der Fabriken. Die nordkoreanischen Behörden haben den geplanten Besuch kurzfristig abgesagt. Für diese Willkür sind sie berüchtigt: Einem US-Amerikaner verweigerten sie einmal die Einreise, weil gerade die New Yorker Philharmoniker in Pjöngjang spielten und schon genug Amerikaner im Land seien. Diesmal steht hinter der Absage das Ende der Sonnenscheinpolitik. Seit der Hardliner Lee Myung-Bak südkoreanischer Präsident ist, drohen die Nordkoreaner regelmäßig damit, alle Südkoreaner aus Kaesong auszuweisen, wenn Südkorea nicht dies oder jenes tue, etwa das Abwerfen von Flugblättern durch südkoreanische Nationalisten stoppe.
Also passiert der Bus das Gewerbegebiet, an dessen Rändern neue Fabrikhallen hochgezogen werden. Gleich dahinter erhebt sich Kaesong aus einer grünen Ebene. Am Stadtrand stehen kleinere Wohnblocks, die einst zartrosa gewesen sein müssen. Dazwischen wachsen Paprika und Mais. Auf jedem freien Quadratmeter, so scheint es, wird etwas angebaut. Seit kurzem gestattet Nordkoreas Führung die Produktion für den Eigenbedarf.
Das Zentrum Kaesongs wird dominiert von einem der 20.000 Bronzestandbilder Kim Il-Sungs, die es überall im Land gibt. Von der Anhöhe aus ist eine schnurgerade Schneise durch die Stadt geschlagen, an der rechts und links 20-stöckige Hochhäuser wie Wachtürme stehen. Auf den Straßen, deren Dimensionen an die ehemalige DDR-Parademeile Stalinallee in Ost-Berlin erinnern, fährt kein einziges Auto. Das Erstaunlichste aber ist: die unendliche Stille. Kein Flugzeug am Himmel, kein ferner Zug, keine Fabrik, kein Presslufthammer. Man befindet sich in einer Großstadt, aber es herrscht bis auf ein paar zeternde Spatzen absolute Ruhe.
Die Menschen sind zu Fuß unterwegs oder sitzen auf Damenrädern, die sie auf den Gehwegen fahren. Wenn sie aber eine leere Straße überqueren, schieben sie. Auf den Kreuzungen stehen erstarrte Verkehrspolizisten in weißen Uniformen. Für einen einzigen Lkw schlägt einer die Hacken zusammen, hebt den Arm, wendet sich und weist die Richtung. Dann steht er wieder stramm. Es ist das absurde Theater einer durchdisziplinierten Gesellschaft, in der jeder Dissens mit Kollektivstrafen für ganze Familien geahndet wird, von Folter bis zu öffentlicher Hinrichtung. Der Verdacht, der Partei nicht ausreichend zu dienen, reicht aus, um abgeholt zu werden.
Halt an einer Brücke aus dem Jahr 919: Hier wurde der letzte Herrscher der Koryo-Dynastie ermordet. Sein Blut klebt noch auf den Steinen, wie dunkle Flecken beweisen sollen. Die Südkoreaner interessieren sich aufrichtig für den geschichtsträchtigen Ort. Dann wenden sie sich den Süßigkeiten zu, die adrette Hostessen für ein paar Dollar anbieten. Die Mädchen sind auffällig geschminkt, seit kurzem gibt es kleine Konsumläden in Kaesong, in denen Brot und Eis verkauft werden, aber auch Blusen und Lippenstifte.
Einige der Südkoreaner versuchen Gespräche mit den Aufpassern zu beginnen. Herr Lee freundet sich mit Mr. Jung an, sie reden über die Olympischen Spiele. Jung erzählt, dass Nordkorea fünf Medaillen gewonnen hat, aber von den 31 Medaillen der Südkoreaner, die Lee ins Feld führt, weiß er nichts. Wegen der nordkoreanischen Störsender ist es unmöglich, in Kaesong etwas anderes als das staatliche Fernsehen zu schauen.
Es geht weiter. Einige Passanten drehen die Köpfe nach dem violetten Bus, es bleiben die einzigen sichtbaren Reaktionen, die der Besuch auslöst. An den Häuserwänden prangen Propagandabilder: Kim Il-Sung, umringt von Kindern, im Weizenfeld, auf einem Berg. Ab und zu auch: Arbeiter, Bauern und Soldaten, die ihre Arme einem roten Stern entgegen recken. „Wir beneiden niemanden!“, heißt es dazu.
Am nördlichen Ende geht Kaesong in eine hügelige Landschaft über. Von einer Brücke sieht man eine vierspurige Autobahn, der Beton flimmert in der Mittagshitze. Manchmal, sagt Jung, werde dort Getreide getrocknet. Entlang des Wegs wuchern Bäume und Sträucher, Bäche schlängeln sich durch ein smaragdgrünes Meer aus Reisfeldern, ein Kormoran steigt auf. Es ist eine scheinbar vorindustrielle Idylle. Frauen in langen Röcken und mit Kopftüchern bearbeiten mit Hacken die Felder. Andere tragen Kartoffelsäcke entlang eines von Pappeln gesäumten Flusses. In einem Bauerndorf stehen zwölf identische Häuschen, dahinter ragen Tafeln auf: „Kauft keine amerikanischen Produkte!“ Vor dem Dorfeingang wacht ein Soldat. Er sei dort zu unserem Schutz, sagt Mr. Jung. Wer angreifen könnte und welche US-Produkte man boykottieren soll, ist nicht ganz klar.
Beim Betrachten der Umgebung Kaesongs deutet nichts auf die Hungersnot hin, die von den UN in diesem Winter befürchtet wird. Doch so fruchtbar die Felder hier im südlichen Nordkorea sein mögen – im Norden des Landes herrscht Kargheit. Die UN-Welternährungsorganisation schätzt, dass fast die Hälfte der Nordkoreaner mangelernährt ist. Einen auch nur ansatzweise dicken Nordkoreaner bekommt man nicht zu Gesicht.
Nach dem Abstecher fahren die Busse in Kaesong in einen Hof ein, der umschlossen ist von traditionellen einstöckigen Holzhäusern mit geschwungenen Ziegeldächern. Als das Tor geschlossen wird, beginnt davor plötzlich eine Maschine zu dröhnen. Die Südkoreaner werden in ein Restaurant geführt, an jedem Platz warten 13 kleine Messingschalen mit Kohlgemüse, Fleisch und Fisch, dazu wird Tee serviert. Eine Demonstration des Überflusses. Einige lassen ihr Essen in der Hoffnung stehen, dass sich die Bedienungen etwas mit nach Hause nehmen. Bei der Fahrt aus dem Hof ist dann komischerweise nichts von einer Baustelle zu sehen.
Rückfahrt nach Seoul, eine Stunde. Der plötzliche Lärm, die Verkehrsmassen, die Leuchtreklame betäuben die Sinne. Die Stadt wirkt wie die Kulisse zu einem Science-Fiction-Film. Er spielt auf einem anderen Stern.