Früh um 4:30 Uhr ist Norbert Lammert mit dem Direktflug aus Frankfurt gelandet. Der deutsche Botschafter empfing ihn und brachte ihn ins Hotel.
Bevor er von dort erneut aufbrach, ist Lammert noch einige Runden in Pool geschwommen. Nun steht der amtierende Bundestagspräsident in einem grauen Anzug auf dem Balkon der Casa Stefan Zweig im brasilianischen Bergort Petrópolis, rund eine Autostunde von Rio de Janeiro entfernt.
Hinter dem für seinen klugen Humor beliebten CDU-Politiker erheben sich mächtige, tropisch überwucherte Berge, unter ihm dröhnt der Verkehr, die Morgensonne gleißt.
Petrópolis wurde Anfang des 19. Jahrhunderts als kaiserliche Sommerfrische gegründet und von armen deutschen Einwanderern erbaut. Es gibt hier Fachwerkhäuser und Viertel die Bingen und Ingelheim heißen. 300.000 Menschen leben in der etwas chaotisch gewachsenen Stadt, in der man stolz auf den Kaiserpalast, die Bohemia-Brauerei und das „Bauernfest“ mit Bratwurst und Bier ist.
Zu den Orten, die man ebenfalls besuchen sollte, gehört das letzte Wohnhaus von Stefan Zweig, der 1934 vor den Nazis aus Österreich flüchtete und 1940 in Brasilien landete. Er bewunderte das südamerikanische Land für seine scheinbare gesellschaftliche Harmonie und die Abwesenheit von Rassenhass. Bis heute ist Zweigs Buchtitel „Brasilien – Ein Land der Zukunft“ ein geflügeltes Wort und Anlass für sarkastische Wortspiele.
Man hat Lammert hierher eingeladen, damit er an einer kleinen Podiumsdiskussion teilnimmt. Es soll um „die beunruhigenden Zeichen der Zunahme der Fremdenfeindlichkeit und der sozialen und religiösen Intoleranz“ gehen, wie es im Text des Veranstalters, der Konrad-Adenauer-Stiftung, heißt. Es ist also ein durch die Wahl in Deutschland höchst aktueller Themenkomplex.
Aber auch in Brasilien fühlt man sich angesprochen. Hier steht ein rechts-autoritäres Großmaul – man kann es nicht anders sagen – in Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr an zweiter Stelle. Es scheint, als ob Faschismus und Vulgarität weltweit auf dem Vormarsch sind. Wer heute Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ noch einmal liest, wird erstaunliche und erschreckende Parallelen erkennen. So ist der Besuch Norbert Lammerts im Zweig-Haus auch alles andere als eine Nostalgie-Veranstaltung.
Geführt wird der Bundestagspräsident von der Zweig-Übersetzerin Kristina Michahelles. Sie bringt ihn in das karge Zimmerchen, in dem sich der Bestsellerautor 1942 mit seiner jungen Frau Lotte durch die Einnahme von Gift das Leben nahm. Die Gründe waren wohl: Vereinsamung, Depressionen und der Untergang des geistigen Europas, das Zweig, den Pazifisten und Juden, so geprägt und das er selbst mitgeprägt hatte.
Lange bleibt Lammert vor der Kopie des Abschiedsbriefs von Zweig stehen. „Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen“, erklärt Zweig darin. „Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.“
Wenig später spricht Lammert vor den rund 50 Besuchern: ein Mix aus Akademikern und Honoratioren, darunter auch Österreichs Botschafterin Dr. Irene Giner-Reichl, die eigens aus Brasília angereist ist.
Lammert, seines Zeichens auch ehemaliger Kulturstaatsminister, stellt die wechselseitige Beziehung von Politik und Kultur heraus; sagt, dass auch Politik immer nur in einem bestimmten kulturellen Klima entstehe. Und ohne die AfD zu nennen, gibt er zu, dass er das Zurückfallen Europas in überwunden geglaubte Nationalismen nicht für möglich gehalten habe. Er warnt: „Das geistige Europa wurde einst durch die Rivalität der Nationalismen zerstört.“
Lammert kommt auf US-Präsident Donald Trump zu sprechen, sagt, dass er nicht glaube, dass dieser überhaupt ein Programm habe. Und dass es schlimm sei, dass ausgerechnet in einer Zeit, in der die Komplexität wachse, die Neigung zu möglichst simplen Antworten zugenommen habe. Alte Gespenster seien auf allen Kontinenten aufgetaucht. Lammert wirft den Teufel an die Wand: „Der Fortschritt ist aufhaltbar. Er ist in Europa aufhaltbar. Und auch in Ihrem Land!“
Nun wird ja immer wieder öffentlich bedauert, dass Lammert nicht mehr als Präsident und ordnender Faktor dem nächsten Bundestag vorsitzen wird. Seine charmante Strenge wurde von allen Fraktionen geschätzt und wäre umso mehr vonnöten, da zu erwarten ist, dass mit der AfD die Beleidigung und die Unanständigkeit ins Parlament einziehen werden. Befragt ob er es bedauere oder vielleicht sogar froh darüber sei, dass er den Posten nicht mehr haben werde, antwortet Lammert nicht direkt. Aber er sagt, dass ihm zu seinem Lebenslauf die Erfahrung des Umgangs mit Rechtspopulisten nicht fehle. Und er schließt: „Man sollte gehen, wenn niemand einen Zweifel daran hat, dass man der Aufgabe gewachsen ist.“ Da applaudiert das Publikum. Die Brasilianer unter den Zuhörern beziehen den Satz auf ihren unbeliebten Präsidenten Michel Temer. Die Deutschen hingegen hören Kritik an Angela Merkel heraus.