Haiti: Die Atis Rezistans

Haiti: Die Atis Rezistans

Früher hielten sie ihn für einen gefährlichen Freak. Heute schicken sie ihre Kinder zu ihm. André Eugène streicht über einen Totenschädel, davor reckt sich ein armlanger Holzphallus gen Himmel. „Ohne Penis kein Leben“, sagt Eugène, „ohne Leben kein Tod“.

Es war nicht einfach, Eugène zu finden. Am südlichen Ende des Boulevard Dessalines hatte es geheißen. Nur, der Boulevard Dessalines existiert nicht mehr. Das Erdbeben, das vor anderthalb Jahren Port-au-Prince zerstörte, hat die Straße in eine Schuttwüste verwandelt. Also marschiert man den zerlöcherten Asphalt entlang, steigt über schwärende Müllhaufen und schmierige Pfützen, weicht bunt bemalten Bussen und dröhnenden Diesellastern aus, schiebt sich an schwitzenden Getränkeverkäufern und resoluten Bäuerinnen vorbei, erschrickt beim Anblick von zwei sonnenverbrannten Albinokindern.

Dann, auf einer staubigen Brache, eine acht Meter hohe Figur aus Stoßdämpfern und Metallstreben. „Papa Legba!“, sagt die Frau, die darunter Wäsche schrubbt: der Wächter der Wegkreuzungen. Ein Pfad führt vorbei, gesäumt von weiteren Skulpturen, wild durcheinander geschmissen, Reifen, Knochen, Schläuche. Der Weg endet an einem Betonhäuschen. Davor sitzt ein bulliger Typ in kurzen Hosen. Er schnitzt an einem Holzklotz, sein Meißel treibt grobe Stücke heraus. André Eugène blickt auf, nimmt einen Schluck Bier und reicht eine lauwarme Flasche herüber. „Woanders gehört die Kunst der Bourgeoisie“, sagt er. „Wir sind Ghettokünstler. Wir sind die Atis Rezistans.“

Es liegt wohl auch an dieser stolz zur Schau getragenen Herkunft, dass Eugène heute einer der gefragtesten Künstler Haitis ist. Seine Arbeiten werden in New York, London und Paris gezeigt, sie versprechen Exotik und die vermeintliche Authentizität des Elends. Nun ist Eugène mit seinem Kollektiv Atis Rezistans („Widerstandskünstler“) auf der Biennale in Venedig vertreten. Es ist das erste Mal in deren 116-jährigen Geschichte, dass Haiti eine Länderschau bekommen hat.


Der haitianische Pavillon besteht aus zwei Schiffscontainern: Sie sollen die Ausbeutung des Landes und die Unbehaustheit seiner Bewohner symbolisieren. Viel mehr noch aber bilden sie den passenden Rahmen für die Widerstandskünstler, deren Werke immer in die Welt zurückzustürmen scheinen, aus der sie stammen. Es ist eine kaputte und kranke Welt, in der die Menschen mit Würde ums Überleben kämpfen, obwohl sie längst alle Hoffnung verloren haben müssten. Denn in Port-au-Prince sieht es immer noch so aus wie wenige Wochen nach dem Beben. Damals meinten viele Haitianer, dass nun die Chance zum Neuanfang bestünde. Doch dann mussten sie feststellen, dass versprochene Hilfsgelder nicht flossen, unsinnig eingesetzt werden oder in dunklen Kanälen verschwanden.

Zwei US-Firmen etwa, die den Auftrag hatten, Haitianer zur Trümmerbeseitigung einzustellen, gaben 70 Prozent ihres Budgets für neue Maschinen aus, nicht aber für die Gehälter der Einheimischen. Obendrein kamen Hurrikane, die von UN-Soldaten eingeschleppte Cholera sowie die versuchte Wahlfälschung. Seit Mai wird Haiti nun von dem ehemaligen Pop-Sänger Michel Martelly regiert, der versprochen hat, alles besser zu machen. „Wir haben Hoffnung“, sagt Eugène. „Seit 200 Jahren schon.“

Das zentrale Werk im haitianischen Container spiegelt die Ausgesetztheit wider. Eugène und sein Kollege Jean Hérard Celeur haben drei menschliche Schädel auf Motorradgestänge montiert und ihnen einen monströsen Phallus vorangestellt. Es ist eine Science-Fiction-Version von Albrecht Dürers apokalyptischen Reitern, sie symbolisiert die Seuchen, die Haiti heimsuchen, seit seine Sklaven 1804 gegen alle Widerstände der weißen Welt ihre Freiheit erkämpften: Schulden, Hunger, Korruption, Gewalt, Aids, Strukturanpassungsprogramme. Das mag man für ziemlich plakativ halten, doch entspringen diese wie alle anderen Arbeiten der Atis Rezistans zunächst einmal einer tiefen Spiritualität.

„Unser Schaffen ist Papa Gede gewidmet“, sagt Eugène. Papa Gede ist im Vodou-Glauben der Chef der Friedhöfe und Meister der Libido. Er schimpft, trinkt, trickst und protzt mit sexuellen Andeutungen. Der Phallus wird zum religiösen Symbol. Man kann das befremdlich finden, in einem Land, in dem die Menschen täglich mit Existenziellem wie Geburt und Tod konfrontiert werden, ist es das nicht.

Eugène geht in sein Haus, betritt ein Zimmerchen ohne Fenster. Das Licht der Taschenlampe fällt auf eine durchgelegene Matratze, ein Che Guevara-Poster, einen Laptop. Eugène zieht einen Kunstkatalog von einer Ausstellung in Schweden hervor. Draußen gibt er den Band einigen Jugendlichen, die ihn begierig inspizieren. „Meine Azubis“, sagt Eugène. Die Jungs gehören zu den 80 Jugendlichen, die bei ihm lernen, wie man Kunst macht. Sie malen Fratzen auf Holz, kleben Puppen dazu und hängen ihre Werke an die Mauern rund um Eugènes Grundstück. „25 Dollar“, sagt ein Junge, „Einheitspreis!“

Der Nachwuchskünstler lebt in einem der Zelte auf der Brache nebenan. Ein Dutzend Familien haben sich hier nach dem Beben niedergelassen. Dahinter erstreckt sich das Viertel der Schreiner, deren Hocker im Nachbarland als dominikanische Souvenirs verkauft werden. Hier wurde Eugène 1959 geboren. Als junger Mann war er auf dem Bau beschäftigt, dann entdeckte er das Schnitzerhandwerk. Irgendwann begann er, seine Figuren mit Abfall zu kombinieren: Lautsprecherboxen, Glühbirnen, Metallschrott.

Im Jahr 2000 gründete Eugène mit zwei befreundeten Künstlern das Kollektiv Atis Rezistans. Ihre Werke beschrieben nicht nur die Notwendigkeit zur Improvisation in einer chronischen Mangelwirtschaft – Wahnsinn, wie die Schrauber auf der Straße Autowracks wieder zum Laufen bringen –, sondern erhoben sie zur legitimen Ausdrucksform einer improvisierten Nation. Sie waren die Antithese zu den typischen haitianischen Bildern vom idyllisierten Landleben: explosiv, sakral-genital, prophetisch. „Die Nachbarn hatten Angst“, erinnert sich Eugène. „Wir benutzten auch menschliche Schädel, die wir in trockenen Flussbetten fanden.“

Es ist also verständlich, dass Eugène und seine Kollegen zunächst nur im Ausland gefragt waren. 2004 wurde die Gruppe ins Frost Art Museum nach Miami eingeladen. Ihre Werke flogen nach Florida, aber den Künstlern verweigerten die USA die Einreise. „Lebende Haitianer kriegen keine Visa“, sagt Eugène, „nur tote“. 2007 bat dann das Internationale Sklaverei Museum in Liverpool um eine Skulptur. Auch hier blieb ein schaler Beigeschmack: England nutzte die Museumseröffnung dazu, sein Gesetz zur Abschaffung des Sklavenhandels zu feiern.

Ende 2009 veranstalteten die Atis Rezistans dann ihre eigene Show: die Ghetto Biennale. In der Ausschreibung wurde nach Werken der Ausgestoßenen des 21. Jahrhunderts verlangt. 35 Künstler aus allen Weltteilen kamen auf eigene Rechnung. Es ist wohl auch dem Erfolg dieser Schau zu verdanken, dass die Nachbarn ihre Furcht verloren. „Sie haben begriffen, dass wir keine schwarzen Magier sind“, sagt Eugène, „sondern gut für die Community“. Die Leute begannen, ihre Kinder zu ihm in die Lehre zu schicken. Nach dem Erdbeben brachten sie ihm sogar die Schädel ihrer toten Verwandten – Eugène sollte ihnen ein zweites Dasein schenken.

Einer von Eugènes Jungs nimmt einen bei der Hand und führt durch das Labyrinth aus Wellblechhütten hinter Eugènes Haus. Dort liegt die Werkstatt von Jean Hérard Celeur, einem Gründungsmitglied der Atis Rezistans. In seinem engen Atelier fallen zwei weibliche Figuren auf, die ein lesbisches Paar bilden. „Sie stehen für die Liebe“, sagt Celeur. Die Figur daneben zeigt eine Schwangere, der Trümmer auf den Bauch gestürzt sind. „Das Erdbeben“, sagt Celeur. Im Flur thront eine zwei Meter große hölzerne Marienstatue, in deren Gesicht Celeur Nägel eingeschlagen hat. „Der Nagel ist das Symbol des Schmerzes und der Kraft“, sagt der Bildhauer. „Er ist das Symbol unseres Landes.“