Leo Sánchez nimmt das Mikrofon nur zögernd, senkt den Blick, starrt auf die Spitzen seiner Cowboystiefel.
Dann sagt er mit unbewegter Miene: „Die Tempelritter haben meinen Vater und meinen Bruder umgebracht. Ich danke der Bürgerwehr, dass der Terror ein Ende hat und wir unser Land wiederbekommen.“ Die Menge auf dem Dorfplatz von Tancitaro applaudiert. So wie bei jedem der Bauern, die nun einer nach dem anderen vortreten und mit tonlosen Stimmen berichten, was ihnen angetan wurde.
In kurzen Reden fassen sie lange Geschichten des Leids zusammen. Sie handeln von Mord, Raub und vor allem von einem furchtbaren Gefühl: absolute Ohnmacht. Einer mit Schnauzer und breitkrempigem Hut erzählt, wie er an einen Baum gekettet und 24 Stunden lang misshandelt wurde. Er hatte seine eigene Avocadoplantage betreten, nachdem die Mafia ihn zuvor enteignet hatte. „Ich hoffe, dass unsere Selbstverteidigungskräfte keinen Schritt zurückweichen und eine neue Zeit für Tancitaro angebrochen ist“, sagt er. „Viva México!“ Die Menge antwortet: „Viva!“
Tancitaro, ein Dorf mit 5000 Einwohnern, liegt in den Bergen des westlichen mexikanischen Bundesstaats Michoacán. Es ist umgeben von ausgedehnten Avocadoplantagen, fast jeder hier hat mit Anbau, Ernte und Vermarktung der kostbaren Frucht zu tun, am Ortseingang steht sogar eine Avocadoskulptur. Doch ein ländliches Idyll ist Tancitaro nie gewesen.
Jahrelang wurde die Gemeinde vom Drogenkartell „Família Michoacana“ beherrscht. Es spezialisierte sich auf die Herstellung synthetischer Drogen und vertrieb das konkurrierende und für seine Brutalität berüchtigte Kartell der Zetas aus Michoacán, was ihm zunächst große Sympathie in der Bevölkerung eintrug. Dann änderte die Família jedoch ihre Strategie.
Weil der seit 2006 tobende Drogenkrieg dem Kartell die Geschäfte erschwerte, verlegte die Família sich auf die Erpressung von Schutzgeldern, Raub und Entführungen. Alle mussten Abgaben oder Lösegelder zahlen, vom kleinen Tortillaverkäufer über den Taxifahrer bis hin zum Großbauern. Im Jahr 2011 übernahm schließlich eine Abspaltung der Família die Macht in vielen Orten Michoacáns: die „Caballeros Templarios“, die Tempelritter. Sie setzten das alte Geschäftsmodell fort, wobei ihnen die Polizei half und mitverdiente. In Tancitaro erschienen manchmal Beamte und erklärten eine Plantage samt Maschinen für enteignet. Wer sich wehrte, wurde terrorisiert.
Bis dann im Februar 2013 die Selbstverteidigungskräfte, die „Autodefensas de Michoacán“, die ersten Orte von den Caballeros Templarios zurückzuerobern begannen. Seitdem sind sie auf dem Vormarsch.
Es ist die jüngste Entwicklung im mexikanischen Drogenkrieg, in dem seit 2006 je nach Schätzung zwischen 70 000 und 120 000 Menschen umgebracht worden sind. Einfache Bürger greifen zu den Waffen, weil sie einem Staat nicht mehr trauen, der zwar mehr Sicherheit verspricht, aber immer mehr Unsicherheit schafft. In Michoacán, wo der Staat sogar zum Komplizen der Mafia geworden ist, übernehmen die Autodefensas nun seine Schutzfunktion.
Die Autodefensas sind es auch, die zu der Zeremonie auf dem Dorfplatz von Tancitaro geladen haben, bei der 25 Familien ihr Land zurückerhalten. Unter ihnen ist die von Leo Sánchez.
„Es war ein Freitag vor vier Jahren“, erinnert sich der 28-Jährige. „Wir sollten 80 000 Pesos Schutzgeld an die Tempelritter zahlen“, umgerechnet 4000 Euro. „Wir besaßen damals zwei Avocadoplantagen mit insgesamt 23 Hektar. Aber wir hatten das Geld einfach nicht.“ Am darauffolgenden Montag kam ein Truck ohne Kennzeichen auf das Grundstück der Familie gerollt. „Drei Männer mit Gewehren stiegen aus“, sagt Leo Sánchez. „Sie nahmen meinen Vater und meinen kleinen Bruder mit.“ Nach der Entführung fuhr Leo Sánchez nach Morelia, die 170 Kilometer entfernte Landeshauptstadt Michoacáns, und bat auf dem dortigen Armeestützpunkt um Hilfe. Das Militär galt lange Zeit in Mexiko als letzte vertrauenswürdige Institution. Aber die Soldaten lachten Sánchez aus. „Wir fühlten uns total alleine gelassen“, sagt er.
Sechs Monate später wurden die verscharrten Leichen gefunden. Sánchez’ Vater war erschossen worden, den Bruder hatte man erstickt. Leo Sánchez floh mit seiner Frau, seinen beiden Kindern und seiner Mutter aus Michoacán. Mittellos zogen sie in ein Armenviertel der Millionenstadt Guadalajara, während sich die Tempelritter auf der Familienranch breit machten. Nun, nachdem die Mafia aus Tancitaro vertrieben ist, würde Leo Sánchez gerne zurückkehren. „Aber wir wollen erst einmal abwarten, wie sich die Situation entwickelt und ob die Bürgerwehr sich halten kann.“
Wer durch Michoacán reist, hört Geschichten wie die von Leo Sánchez dutzendfach. Es ist ein von der Mafia versehrtes Land. Die Behörden sahen weg – oder machten mit. Einige Männer, die sich zu Leo Sánchez gesellen, sagen, dass mit den Einnahmen der Mafia die Wahlkämpfe von Politikern bis hin zum Gouverneur finanziert wurden. Einer erzählt wie sein Nachbar, der sich bei der Polizei über die Tempelritter beschwert hatte, kurz darauf ermordet wurde.
Michoacán, einer der schönsten Bundesstaaten Mexikos mit bis zu 4000 Meter hohen Bergen, fruchtbaren Ebenen, Stränden und einer großen indigenen Bevölkerung, gilt nicht umsonst als Wilder Westen Mexikos: schwer zu überschauen, voller Waffen und Drogen und mit einer langen Geschichte von Gewalt, Korruption und Rechtlosigkeit.
Gegen Ende der Zeremonie auf dem Dorfplatz in Tancitaro ergreift einer der Anführer der Bürgerwehr das Wort. Estanislao Beltrán wird wegen seines Rauschebarts auch „Papa Schlumpf“ gerufen. Doch der nette Spitzname täuscht. Der 55-Jährige führt eine Truppe von schwer bewaffneten Zivilisten an, ihre Zahl wird mittlerweile auf 20 000 geschätzt, Zahl steigend.
Das Dorf Tancitaro eroberten die Autodefensas im November, in einigen Häusern sind noch die Einschusslöcher der schweren Kämpfe zu sehen. Sie vertrieben die Tempelritter und setzten die Ortspolizisten fest. Am Dorfplatz stehen nun die Polizeiwagen, auf denen hinter dem Wort „Polícia“ der Zusatz „Comunitaria“ steht: Bürgerpolizei. Maskierte und schwer bewaffnete Autodefensas bewachen alle Zufahrtsstraßen zum Ort.
Erst vor kurzem nahm die Truppe dann die 35 000 Einwohner zählende Stadt Nueva Italia ein. Sie ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, liegt auf dem Weg zwischen Mexiko-Stadt und Lázaro Cárdenas, einem der größten Frachthäfen Lateinamerikas. Auch deswegen reagiert die mexikanische Regierung überstürzt. Jahrelang hatte sie untätig dem Konflikt zugeschaut, nun entsandte sie waffenstarrende Einheiten der Bundespolizei und der Armee, um die Autodefensas zu entwaffnen.
Doch der Versuch scheiterte. Die Bevölkerung fragte sich, warum ausgerechnet die Bürgerwehr ihre Waffen abgeben sollte, aber nicht die Tempelritter, die immer noch viele Orte beherrschen. Die Menschen stellten sich vor ihre Befreier und bei den Tumulten erschossen Soldaten mehrere Bewohner, darunter ein elfjähriges Mädchen.
„Ohne Waffen würden uns die Tempelritter massakrieren“, rechtfertigt Estanislao Beltrán die Weigerung der Autodefensas, ihre Waffen abzugeben. Er werde erst Ruhe geben, wenn alle 113 Gemeinden Michoacáns von den Tempelrittern gereinigt seien. Man sei zwar willens mit der Bundespolizei zusammenzuarbeiten, aber dazu müsse die Regierung erst einen Vertrauensbeweis liefern und die sieben Anführer der Mafia festnehmen. Das Gerücht, dass seine Truppen vom Drogenkartell aus dem benachbarten Bundesstaat Jalisco unterwandert sei, weist Estanislao Beltrán zurück. Tatsächlich gibt es dafür keine Beweise.
Die mexikanische Regierung hat unterdessen, von der Macht des Faktischen eingeholt, eine Kehrtwende vollzogen. Präsident Enrique Peña Nieto kündigte an, die Autodefensas in die regulären Sicherheitskräfte integrieren zu wollen. Wie das funktionieren soll, ist völlig unklar.
Doch wie ist es möglich, dass einfache Zivilisten einen ganzen Staat aufrollen und plötzlich die Lösung für einen komplexen Konflikt zu sein scheinen? Der Impuls zur Gründung der Autodefensas ging von mehreren Viehhaltern aus. In ihren Gemeinden hatten die Tempelritter begonnen, Frauen und Mädchen zu entführen und zu vergewaltigen, von denen viele schwanger zurück kamen. Schnell schlossen sich andere Männer der Untergrundbewegung an. Sie überraschten die Tempelritter, deren Gewohnheiten sie gut kannten, töteten zahlreiche von ihnen, nahmen ihnen die Kalaschnikows und AR-15-Gewehre ab, errichteten an allen Einfallstraßen Kontrollpunkte und erklärten die Ortschaften für befreit.
Nun, ein Jahr später, stehen die Autodefensas in der wichtigen Regionalhauptstadt Apatzingán. Sie galt als „Hauptstadt der Tempelritter“, in welcher der katholische Priester, ein scharfer Kritiker der Mafia, nur noch mit schusssicherer Weste vor die Gemeinde trat.
Wegen der Einnahme Apatzingáns herrscht auch an einem Kontrollpunkt im nahen Nueva Italia große Hektik. Am Straßenrand stehen Barrikaden aus Sandsäcken, drum herum tränken drei Dutzend Männer Wolle mit Petroleum und stecken sie in Blechkanister. Nachts zündeten sie die Wolle an, um die Straße zu erleuchten, sagt einer, erst 18 Jahre alt. Lässig trägt er sein US-Sturmgewehr AR-15 um die Schulter.
Die Autodefensas stellen ein riesiges Arsenal an Waffen zur Schau, von Pistolen über Kalaschnikows bis zu schweren Maschinengewehren. Die Männer sagen, dass sie die Gewehre den Tempelrittern abgenommen oder von der Bevölkerung geschenkt bekommen haben. Doch es ist kein Geheimnis, dass auch verschiedene Unternehmer der Region die Autodefensas finanziell unterstützen.
Erste Stimmen warnen deshalb bereits davor, dass sich in Mexiko das kolumbianischen Szenario wiederholen könnte. Dort hatten Großgrundbesitzer in den 90er Jahren Privatarmeen aufgestellt, um sich gegen die FARC-Guerilla und das Medellin-Kartell zu schützen. Die Truppen verselbstständigten sich jedoch, verübten zahlreiche Gräueltaten an Zivilisten und sind heute die größten Kokainhändler des Landes. Die Anführer der mexikanischen Autodefensas betonen daher bei jeder Gelegenheit, dass man die kolumbianische Erfahrung nicht wiederholen wolle.
Und der Kommandeur einer Barrikade in Nueva Italia spricht schlicht vom „Job“, den man zu machen haben. Und dass er so schnell wie möglich zu seiner Familie zurück wolle, die sich versteckt halte, solange er im Krieg sei. Bevor Adolfo Rosales zur Kalaschnikow griff, war er Tagelöhner, der sich auf den Zitronenfeldern rund um Nueva Italia verdingte. „Wenn ich 100 Pesos am Tag verdiente, musste ich 30 Pesos an die Tempelritter zahlen“, sagt der 46-Jährige. Manchmal zwangen die Tempelritter seine Arbeitgeber auch, eine Ernte verrotten zu lassen, damit der Preis der Früchte stieg, die sie anderen Bauern unter dem Marktpreis abnahmen. „Dann war ich ohne Arbeit. Zum Glück haben wir den Mut gefunden, uns zu wehren.“ Kämpferischer Stolz ist es, den man bei den meisten der Männer findet, ein politisches Bewusstsein vermisst man hingegen.
Rosales trägt eine Wollmaske, um nicht erkannt zu werden. Aber viele Männer zeigen ihre Gesichter und haben kein Problem damit, fotografiert zu werden. Als ein waffenstarrender Konvoi der Bundespolizei vorbeifährt, ignorieren sich beide Seiten. Geschätzte 50 000 Männer sollen in Michoacán inzwischen insgesamt unter Waffen stehen. Aber wie es scheint, vertraut die Bevölkerung einzig der Bürgerwehr.
Eine junge Frau kommt zur Barrikade und händigt Kalaschnikow-Magazine aus, die Männer stecken sie in ihre Westen. Wenig später hält ein Pick-up-Truck. Eine Familie bringt Verpflegung: Tortillas, Reis, geschnittenes Fleisch. Der Mann am Steuer berichtet, dass sein 23-jähriger Bruder von den Tempelrittern entführt und ermordet wurde, obwohl man Lösegeld gezahlt habe. Er sagt: „Dank der Autodefensas kann man wieder atmen.“ Tatsächlich haben sie in Michoacán in wenigen Wochen geschafft, was der mexikanische Staat in vielen Jahren nicht fertig gebracht hat.