Mexiko: Krieg um die Agave

Mexiko: Krieg um die Agave

Eines weiß der Maestro ganz sicher: „Ohne den Mezcal hätte Porfirio Díaz die Schlacht verloren. Die Franzmänner waren ja doppelt so viele. Ging ja gar nicht anders, muss der Schnaps gewesen sein.“ Die Logik leuchtet ein.

Als General Porfirio Díaz seine Truppe auf dem Wallnussbaumhügel, einer sonnenverbrannten Erhebung bei Miahuatlán im Südwesten Mexikos, gegen ein französisches Heer führte, waren die Mexikaner numerisch unterlegen, schlechter ausgerüstet und miserabel ausgebildet. Die Schlacht von Miahuatlán bezeichnete Díaz, später Diktator Mexikos und erst durch die Revolution 1911 hinweggefegt, als strategische Großtat. Doch für Maestro Agustín Güendulaín steht fest, dass andere Kräfte am Werk waren: „Der Einfluss des Mezcals darf nie unterschätzt werden!“

Güendulaín hat vor der weißgetünchten Kirche von Miahuatlán gewartet. Es ist neun Uhr morgens, und in den Gassen des tausendsechshundert Meter hoch gelegenen Ortes hält sich eine schneidende Kühle. „Stärkung“, fragt Güendulaín und stoppt seinen klapprigen Ford-Pickup vor einem Verkaufsstand mit zwei Dutzend Flaschen Mezcal, einige mit Früchten, Kräutern oder Wurzeln gefüllt. Er schnappt sich eine Flasche, schraubt sie auf: „Ein Tobalá“, sagt er, „mit Chilischoten, gut am Morgen.“ Da hat er recht, Wärme und Wachheit sind die unmittelbaren Effekte. Etwas später setzt, nach dem zweiten Gläschen und nicht verwunderlich, eine gewisse Heiterkeit ein. „Wenn du unser Land verstehen willst, musst du Mezcal trinken“, sagt der Maestro.

Agustín Güendulaín, von runder Statur, mit kleinen Augen, ortsüblichem Schnauzer und stattlicher Gürtelschnalle, ist keiner, der daherredet. Der Einundvierzigjährige ist ein Maestro Mezcalero, Mezcal-Produzent in der fünften Generation. Mit acht Jahren wurden ihm erstmals die Lippen benetzt, mit elf half er seinem Vater, den Stoff zu brennen, der heute eine ganze Region prägt und am Leben erhält: einen hochprozentigen Schnaps aus der Agave, die viele wegen ihres Aussehens für einen Kaktus halten, die aber ein Spargelgewächs ist, produziert von Familienbetrieben in der wüstenartigen Hochebene des mexikanischen Bundesstaats Oaxaca.

Die Geschichte des Mezcal reicht mindestens vierhundert Jahre zurück. Das Wort stammt aus der Indianersprache Nahuatl und bedeutet „im Ofen gekochte Agave“. Schon vor der spanischen Eroberung vergoren die Völker Zentralmexikos den Saft der Pflanzen, die Europäer brachten die Technik des Destillierens mit. War der Mezcal danach jahrhundertelang als Fusel der Armen verschrien, hat er sich im vergangenen Jahrzehnt zum Modegetränk entwickelt, auch international, vor allem in den Vereinigten Staaten. Die Produktion nimmt stetig zu, immer mehr Marken drängen auf den Markt.

Seinen Erfolg verdankt der Mezcal seinen vielfältigen Aromen, seiner kleinbäuerlichen Herkunft, seiner Reinheit und Stärke sowie dem Gerücht, er wirke ähnlich wie Absinth, nämlich bewusstseinsverändernd. In Oaxaca, der gleichnamigen Hauptstadt des Bundesstaates, eröffnen immer neue Mezcalerías, in denen man Dutzende verschiedener Mezcals verkosten kann, Bars und Restaurants kreieren Mezcal-Cocktails, es finden Mezcal-Messen und Mezcal-Feste statt. Gebrannt wird der Stoff indes immer noch in urigen, oft indianisch geprägten Dörfern. Es ist dieser erdige oder auch mystische Charakter, der den Mezcal ausmacht. Obwohl mittlerweile auch industrielle Hersteller auf den Markt drängen. Zum Leidwesen der kleinen Fabrikanten und auf Kosten der Qualität.

„Mezcal wird handwerklich gemacht, oder es ist kein Mezcal“, sagt Meister Agustín kategorisch und kommt auf ein weiteres heikles Thema zu sprechen: „Manche vergleichen Mezcal ja mit Tequila. Aber das ist Quatsch!“ 2,5 Millionen Liter Mezcal füllen er und seine Kollegen jährlich ab. Die Tequilaproduktion liegt 100 Mal höher. Sie ist heute weitgehend automatisiert und in der Hand von Getränkekonzernen. Der wahre Mezcal hingegen wird von Kleinbauern wie Güendulaín in schweißtreibender, wochenlanger Handarbeit hergestellt – „von der Ernte bis zum letzten Tropfen“, wie er sagt.

Es ist also ein ungleicher Wettbewerb zwischen Mezcal und Tequila, und so seufzt der Maestro genervt, als uns auf der Fahrt zu seiner Destillerie außerhalb von Miahuatlán ein Lastwagen entgegenkommt, der randvoll mit schweren Agavenherzen beladen ist. Güendulaín, der in seinem Leben noch nie Tequila getrunken hat – „wässriges Zeug für Schwächlinge“ -, sagt, dass der Laster den Dieben aus Jalisco gehöre. Jalisco ist die Heimat der Tequila-Industrie, und weil dort die blauen Agaven knapp geworden sind, der einzige zulässige Tequila-Rohstoff, kaufen die Firmen nun die Felder Oaxacas leer. „Sie zahlen drei mal höhere Preise als wir“, meint Güendulaín. „Sie wissen, dass sie uns erledigen, aber das ist ihnen recht. Sie wollen mit dem Mezcal Schluss machen. Wir sind ihnen zu gefährlich geworden.“

Es herrscht wieder Krieg rund um Mihuatlán, Krieg um die Agave.

Kurioserweise haben die scheinbar Schwächeren einen Trumpf: Maestro Güendulaín und seine Mezcalero-Kollegen sind nicht von einer Agavenart abhängig. Mezcal kann aus mehr als dreißig „magüeys“ hergestellt werden, wie Agave auf Spanisch heißt. Diese wachsen oft wild, haben charakteristische Aromen und tragen schöne, teils indianische Namen wie Papalometl, Tepextate, Tobaziche, Tobalá. Doch sie sind rar, brauchen lange bis zur Reife und können nur schwer kultiviert werden. Auf einem Feldweg stoppt Güendulaín seinen Pickup und führt uns durchs Dornengestrüpp zu einer mächtigen Pflanze mit ausladenden spitzen Blättern. „Der König“, sagt er, „ein magüey mexicano, Reifezeit vierundzwanzig Jahre“. Die blaue Agave brauche hingegen nur acht bis zehn Jahre. Die Mezcal-Herstellung ist ein Generationenprojekt.

Kurz darauf passiert Güendulaín mit seinem Wagen einen Torbogen: „Willkommen in San Luis Amatlán – Wiege des guten Mezcal“, steht darauf. Das Dorf inmitten einer grüngelb schimmernden Berglandschaft ist Heimat gleich mehrerer Schnapsbrennereien. Die von Agustín Güendulaín könnte die Kulisse für einen Spaghettiwestern sein: ein Haus aus Feldsteinen, das Dach aus verrutschten Ziegeln, daneben ein Mühlstein, drum herum staubige Felder, auf denen glotzende Ziegen stehen, alles in das gleißende Licht der Wüstensonne getaucht. Kaum ausgestiegen, läuft Güendulaín zu einem mannshohen Erdhaufen. Er steckt seine Hand hinein, zieht sie nach einigen Sekunden zurück. „Alles gut“, sagt er, „die Temperatur stimmt! Noch ein Tag.“

Wenn sie blüht, wird der Agave die Blüte genommen. Die Pflanze soll ihren Zucker bei sich behalten. Wenn sie reif ist, schlägt man ihr die harten, wachsartigen Blätter ab. Übrig bleibt das Herz. Man nennt es „piña“, Ananas, weil es genauso aussieht, allerdings viel größer ist. Das Herz einer durchschnittlichen Agave, eigentlich ihre Wurzel, wiegt zwischen fünfzig und hundert Kilo. Mit scharfen Lanzen wird es aus dem Boden gehebelt. „Aus zehn Kilo Agavenherz machen wir einen Liter Mezcal“, sagt Güendulaín. Es wird eine Grube gegraben, Pinienholz wird entzündet, Feldsteine, wenn möglich vulkanischen Ursprungs, werden hineingelegt. Wenn sie glühend heiß sind, werden sie mit Agavenfasern bedeckt, dann die geteilten oder geviertelten Agavenherzen darüber geschichtet. Den Scheiterhaufen bedeckt man meterdick mit Erde, es darf kein Sauerstoff eindringen und keine Hitze entweichen. Der Mezcal erhält in dem Erdhaufen seine rauchige Note.

Nach fünf Tagen gräbt man die gegarten Herzen wieder aus. Ein Muli wird angeschirrt, das einen Mühlstein zieht, um die weichen Herzen zu zermalmen. Ihre faserigen Überreste werden anschließend in große Holzfässer mit warmem Wasser geschichtet. Die Fermentierung beginnt.

Güendulaín schaut in ein Fass, randvoll mit einer unappetitlich braungelben Masse, die einen süßlich-vergorenen Geruch absondert. Im Innern rumort es, auf der Oberfläche haben sich Blasen gebildet. Sie zeigen, dass die erste Etappe der Fermentierung abgeschlossen ist. Nun wird Güendulaín kaltes Wasser hinzugeben, um die Fermentierung zu verlangsamen, er wird die Pampe mit einem langen Stock umrühren, um im ganzen Fass eine gleichmäßige Gärung zu erzielen. Und dann wird er wieder warten.

Plötzlich lehnt ein Mann mit Schnauzbart, Stiefeln, und Cowboyhut am Mühlstein. Es ist Toribio Güendulaín, der Vater Agustíns. Er wolle nach dem Rechten sehen, sagt er, geht mit seinem Sohn in einen Schuppen. An den Wänden hängen Essgeschirr, Sättel, Stricke. Auf einem kleinen Altar steht ein Krug, darüber ist ein vergilbtes Bild der Jungfrau von Juquila angebracht, so etwas wie die Schutzheilige des Mezcals. Auf dem Boden stehen drei Generationen von Gefäßen: Tonkrüge, Glaskaraffen, Plastikkanister. Es ist der Fortschritt der vergangenen vierhundert Jahre. Der alte Güendulaín nimmt einen Bambusstab, saugt Mezcal aus einem Kanister an und lässt ihn in eine Schale laufen. Anhand der Blasen, die sich bilden, liest er den Alkoholgrad ab.

Die erste Destillation sei immer sehr hochprozentig, sie werde mit der zweiten oder dritten vermischt, um die optimale Prozentzahl zu erzielen. Aber unter 45 Prozent perle das Getränk nicht mehr richtig und bei den lächerlichen 38 Grad des Tequilas schon gar nicht. „El perlado“ sei mithin ein wichtiges Merkmal für den Novizen, um einen guten Mezcal zu erkennen. Dann wird getrunken, nicht in einem Zug heruntergestürzt, sondern erst gerochen dann geschlürft, wie guter Wein und Kaffee. Toribio sagt, er könne jeden Mezcal am Geschmack erkennen. Der eine schmecke zitroniger, der andere erdiger, der nächste blumiger, der übernächste nach Pinien. Dieser hier schmecke ganz klar nach wilden Gräsern – und als er das sagt, schmecken wir es auch.

Um die Mittagszeit fahren wir zum nahen Haus der Familie. Ein Pferdekarren steht im Hof, Hunde kläffen, Hühner flattern, Maiskolben sind zu einem Haufen aufgeschichtet. Die Küche ist in einem separaten Gebäude aus Lehm und Stroh untergebracht. Vater Güendulaín setzt einen Topf mit Hühnersuppe auf, stellt Chilis, Limonen und Koriander auf den Tisch. Eine Flasche Mezcal kommt hinzu, Pechuga, etwas ganz Feines. Und wie wir so in der schummrigen Küche sitzen, wie der Rauch des Ofens seinen angenehmen Duft verbreitet, die Suppe kocht und wir mit den Güendulaíns auf die Revolution, die mexikanischen Frauen und Bastian Schweinsteiger anstoßen, verschwimmen allmählich Zeit und Raum. „Im Mezcal steckt unsere Geschichte“, sagt der junge Güendulaín, „unsere Identität“. Irgendwann kommen eine Frau mit einer Ziegenherde auf den Hof gelaufen und Kinder in verstaubten Uniformen von der Schule. Aber das nehmen wir nur noch wie auf einer entfernten Leinwand wahr.

Nach dem Essen ziehen die Güendulaíns ihre Hüte ins Gesicht, wir selbst betten unseren Kopf zwischen die Arme auf den Tisch, träumen von riesigen Agaven, von Feuer und Wüste. Als wir aufwachen, glauben wir, es seien Stunden vergangen. Doch ein Blick zu Uhr zeigt, dass es nur zehn Minuten waren. Die Güendulaíns schenken nach.