Taschentücher und Wodka sollten wir jetzt rüberbringen. Einfach klingeln: Hallo wir sind’s, deine Nachbarn von der anderen Straßenseite, wir wollten dich trösten.
Wir haben’s dann doch nicht gemacht, waren zu feige. Gegenüber wohnte diese wildhübsche Volksbühnen-Schauspielerin. Jeden Tag stand sie rauchend auf dem Balkon oder tanzte nackt in ihrer Dachgeschosswohnung, in die wir dank einer gardinenlosen Fensterfront schauen mussten. Allerdings war das mit der Nacktheit nichts Besonderes, da die Schauspielerin ohnehin in jedem Stück der Volksbühne früher oder später unbekleidet auf der Bühne stand. Die Volksbühne war damals, Ende der neunziger Jahre, noch ziemlich angesagt.
Ab und zu saß auch ein leitender Angestellter des Hauses im Bademantel auf dem Balkon der Schauspielerin. Man frühstückte. Wir vermuteten, dass er es gewesen sein musste, der die Schauspielerin so unglücklich machte. Den ganzen Vormittag brüllte sie nun schon in ihr Handy: „Du Schwein“ und „diese Schlampe“. Vielleicht handelte es sich auch nur um eine Probe. Die Schauspielerin zog dann bald fort.
Dafür wohnen heute Filmdarstellerinnen hier, deren Namen nichts zur Sache tun. Sie sind auch nicht exhibitionistisch veranlagt. So wie sich die Lottumstraße ohnehin stark verändert hat, aber dazu später. Einige werden sich jetzt natürlich fragen, was eine so kleine Straße in einer Serie zu suchen hat, die sich „Lebensadern“ nennt. Es handele sich ja wohl eher um ein Äderchen: schnurgerade, 34 Häuser, 300 Meter. Ja, das stimmt, aber erstens sind das hier die schönsten 300 Meter Berlins, wenn im Frühjahr die 61 japanischen Kirschbäume blühen. Zweitens ist sie eine der besterhaltenen Straßen Berlins, weil die alliierten Bomben hier auf wundersame Weise vorbeifielen. Und drittens kommt es ja wohl darauf an, was in diesen 34 Häusern vor sich geht. Und da kann man nur sagen: eine Menge. Das kann die Polizei bestätigen.
Vor längerer Zeit blockierten wieder mehrere Einsatzfahrzeuge die Straße. Sonderkommandos durchsuchten Nummer 10a nach Sabotagewerkzeug. Dazu muss man wissen, dass die 10a eins der letzten linken Wohnprojekte in Prenzlauer Berg ist – ein gallisches Haus sozusagen. 1990 wurde es besetzt, und an die Fassade (nie saniert!) haben die Besetzer ein Krokodil und einen Piraten mit Enterhaken gemalt. Außerdem hält ein sinister lächelnder Anarchist ein Bömbchen in der Hand. Dahinter hat die Kneipe Bandito Rosso ihre Vereinsräume. Dort wird das Programm von der Autonomen Antifa Prenzlauer Berg, der Linken Liste und der Antifaschistischen Initiative Weinrotes Prenzlberg gestaltet. Das sei hier alles einmal aufgezählt, um dem ortsfremden Leser zu demonstrieren, dass nicht der ganze Prenzlauer Berg von Medienmuschis bevölkert wird, die mit dem Cayenne zum Öko-Laden fahren. Zumindest noch nicht.
Und doch hat die Verbürgerlichung auch die 10a erreicht. Jeden Sonntag schauen sie im Bandito Rosso den „Tatort“. Wenn auch unter sehr eigenwilligen Gesichtpunkten. Man wolle, so heißt es, „Bullen bei der Arbeit“ beobachten: „Polizeiübergriffe, unrechtmäßige Hausdurchsuchungen, Nötigungen von ZeugInnen“. Dazu gibt es Schnittchen (gegen Spende).
Um den Themenkomplex abzuschließen: Anfang der Neunziger war in der Lottumstraße so gut wie jedes zweite Haus besetzt. Zu dieser Zeit terrorisierten Neonazi-Banden den Osten des wiedervereinigten Berlins. Besonders gerne zog der Mob nach Spielen des BFC Dynamo im nahen Jahnsportpark los. Der Schriftsteller Ahne („Zwiegespräche mit Gott“), der seit Ende der Achtziger in der Lottum wohnt, erinnert sich, dass einmal eine Polizeistreife vorfuhr und die Hausbesetzer per Megaphon vor den Faschos warnte. Allerdings könne man, so die Beamten, da nichts machen, weil man die Schönhauser 20 beschützen müsse – „aber ihr wisst ja, wie man Mollis baut, oder?“
Apropos Explosionen: Die Lottumstraße ist nach dem preußischen Kriegsminister Carl Friedrich Heinrich von Wylich und Lottum (1767–1841) benannt, dem es den Quellen zufolge jedoch an militärischem Talent mangelte. Ihm gehörte das Areal, auf dem sich die Lottumstraße bis 1880 von einem Viehweg in eine richtige Straße verwandelte. Und da hier, wie schon erwähnt, die Alliierten schlecht zielten, stammen die Häuser und das Kopfsteinpflaster noch aus dieser Zeit. Manchmal kann man daher Studenten der Urbanistik beobachten, die von ihren Dozenten durch die Straße geführt werden: So sah Berlin mal aus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Lottumstraße dann zum Zentrum des Schwarzhandels. Von hier aus wurde die West-Berliner Wirtschaft untergraben. So berichtete „Der Spiegel“ im Juli 1951 von einem Engpass auf dem West-Berliner Schwarzmarkt wegen eines Krachs „zwischen Sowjetdienststellen und den schwarzen Grossisten für Zigaretten, Monopolsprit, Nescafé und Nylonstrümpfe“. Die Schwarzhändler holten sich damals die amerikanischen Zigaretten in der Lottumstraße ab (Kiste à 10 000 Stück, 95 Dollar) und schwärmten dann aus nach West-Berlin.
Später machte auch Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck in der Lottumstraße einschneidende Erfahrungen. Ende der Siebziger wohnte er hier und notierte: „Ein ausgesprochenes ,Nachtjacken-Viertel’. Die Kohlen mussten wir vier Stockwerke hochtragen. Das Klo befand sich auf dem Hof hinter einem Holzverschlag. Wenn man früh zum Dienst musste, waren mehrere Mietparteien sehr bemüht, das Örtchen beizeiten aufzusuchen.“
Heute haben die Wohnungen hier ihr eigenes Örtchen, und nur in wenigen wird noch mit Kohlen geheizt. Meine gehört dazu (4. Stock, wie bei Platzeck). Deswegen zahle ich eine fürs Quartier geradezu altertümliche Miete. Denn die Gentrifizierung greift auch hier um sich. Am westlichen Ende ziehen sie gerade einen Wohnkomplex mit Eigentumswohnungen hoch. Auf der Internetseite des Immobilienunternehmens heißt es: „Die Choriner Höfe sind der Lebensmittelpunkt für Menschen, die dabei sein wollen, wenn es passiert.“ Und: „Die Amtssprache dieser ,Weltenbürger’ ist Englisch.“
Jero ist erst einmal Berliner, und daher ist seine Amtssprache auch Berlinerisch. Der Rauschebartträger ist Sendetechniker bei Pi Radio, das dienstags und donnerstags aus dem Keller der Lottumstraße 10 funkt: 88,4 Mhz, ab 20 Uhr. Die Sendungen heißen „Sand FM“ (Wüstenmusik) oder „Mondkalb“ (Satiremagazin). Jero sagt: „Wir ham die Gegend sexy jemacht und jetzt kommen die Poser. Hätt’n wa dit jewusst, wär’n wa woanders hinjegangen.“ Tatsächlich sind fast alle, die zu Wendezeiten in der Lottum lebten, weg. Ein paar Alkoholiker halten durch. Einige gelb schimmernde Laternen. Und Schriftsteller wie der erwähnte Ahne. Sein Kollege Falko Hennig („Alles nur geklaut“), der hier in einer vor Büchern berstenden Zweizimmerwohnung lebt, spricht von einer „Epoche, die zu Ende geht“.
Hennig dokumentiert seit mehreren Jahren den Wandel der Straße, fotografiert Hauseingänge, Hinterhöfe oder brennende Geländewagen. Daraus soll irgendwann einmal ein Film werden, ein Heimatfilm. Es ist auch Hennigs Versuch, das alles irgendwie zu überstehen, was ja gar nicht möglich ist. Jero legt dann im Radio Udo Jürgens auf: „Lieb Vaterland, wofür soll ich dir danken? Für die Versicherungspaläste oder Banken?“
Wer übrigens die letzten Neuigkeiten aus der Lottumstraße erfahren will, also beispielsweise, welcher Schauspieler hergezogen ist und überhaupt, wer mit wem, der geht zu Armin ins Bistro L 21. Armin steht im Morgengrauen auf, um die besten Buchteln Berlins zu backen. Deswegen sitzen die Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Schriftsteller und Weltenbürger dieser Straße bei ihm. Nicht nur, aber auch wenn sie Liebeskummer haben.