Lin Hwai-min: Der Tänzer aus Taiwan

Lin Hwai-min: Der Tänzer aus Taiwan

Man muss die Verehrung erlebt haben, die diesem zarten Menschen entgegengebracht wird. Um zu ermessen, wie tanzend ein ganzes Land verändert werden kann. Und um ein bisschen von der schicksalsgebeutelten Insel Taiwan zu begreifen, die er wie niemand sonst repräsentiert.

Lin Hwai-min ist weder Politiker, Schriftsteller noch Wirtschaftsboss, sondern „nur“ Choreograf einer Tanztruppe. Aber was für einer!

Seit fast 30 Jahren zieht Lin mit seinem Cloud Gate Tanztheater durch die Welt: Moskau, Madrid, São Paulo, Kapstadt, L.A., Sydney. Immer erntet das Ensemble Ovationen und hymnische Kritiken – für poetische, perfekte, kraftstrotzende Darbietungen.

In Taiwan aber ist Cloud Gate ein nationale Institution. Die Regierung hat einen Cloud-Gate-Tag ausgerufen, und in Taiwans neonlichterner Hauptstadt Taipeh heißt eine Straße nach der Tanzgruppe. Als Lin beim Abendessen in einem Restaurant eine Zigarette auf dem Gehsteig raucht, wird er von einer Gruppe Punks mit Verbeugungen bedacht. Der 62-Jährige, der mindestens zehn Jahre jünger wirkt, nimmt’s bescheiden. Da es keinen Aschenbecher gibt, sammelt er die Zigarettenstummel der Mitrauchenden ein und drückt sie der wartenden Kellnerin in die Hand.

Demnächst tritt Cloud Gate beim „Movimentos“-Festival in Wolfsburg auf, und Lin wird für sein Lebenswerk ausgezeichnet. In den Sechzigern und Siebzigern trainierte er in New York bei den großen Neuerern des modernen Tanzes, Martha Graham und Merce Cunningham. Heute hat Lin seine eigene, einzigartige Körpersprache entwickelt, die westlichen Tanz mit fernöstlichem Kampfsport und taiwanischer Mythologie vereint.

Welch ein Kontrast: Als Lin 1973 Cloud Gate gründete, herrschte in Taiwan noch der greise Diktator Tschiang Kai-shek. Er war Ende der Vierzigerjahre vor Maos Truppen nach Taiwan geflüchtet und hatte dort die „wahre“ Republik China ausgerufen. „Die Diktatur war total“, erinnert sich Lin, „die Körper waren diszipliniert, sogar das Tragen von Jeans galt als aufmüpfig“. Nun aber kam einer, der für die Zensoren weder greifbar noch begreifbar war.

Sein Ensemble nannte Lin nach dem ältesten bekannten chinesischen Tanz und entwarf das Stück „Legacy“ über die Besiedelung Taiwans. Es war die erste Theaterarbeit, die sich mit der Geschichte der Insel beschäftigte – und eine offene Herausforderung der Diktatur, die alles Taiwanische verboten hatte. Doch am Tag der Premiere entzog US-Präsident Jimmy Carter Taiwan die diplomatische Anerkennung und machte den Kotau vor China. So wurde „Legacy“ unbeabsichtigt zu einem Selbstbehauptungsstück, das den Machthabern in die Hände spielte.

Aber Lin traf einen Nerv. Die Taiwaner strömten in seine Inszenierungen, sie dürsteten nach neuen Ausdrucksformen. Der enorme Druck belastete den jungen Choreografen zeitweilig so sehr, dass er zum Whisky griff, und „fast wäre ich abgestürzt“. Doch Lin fing sich und öffnete Taiwan für die Welt des modernen Tanzes – und mit den Jahren auch die Welt für Taiwan. Cloud Gate wurde zum Aushängeschild der Insel, die im Westen bis heute eher als Produzent von Elektronikartikeln und potenzielles Opfer einer chinesischen Invasion gilt.

Markantester Ausdruck von Taiwans Streben nach wirtschaftlichem Aufstieg und politischer Anerkennung ist das höchste Haus der Welt: Der erdstoßsichere Taipeh 101 ragt mit seinen 509 Metern aus dem Häusermeer wie ein Bambusbaum heraus. Doch Lin Hwai-min war noch nie oben. Auch dem Effizienzwahn des aufstrebenden Tigerstaates nach dem Ende des Kriegsrechts 1987 hat er sich stets verweigert. „Wir haben zu viel von der westlichen Konsumkultur gefressen“, meint er, „ohne sie zu verdauen“.

In Deutschland stellt Lin den dramatischen Zyklus „White“ vor – vier Werke, die er zwischen 1986 und 2006 schuf. Geprobt wird in einer ehemaligen Haftanstalt für politische Gefangene. Cloud Gate zog in das Quartier, nachdem das ursprüngliche Tanzstudio in den subtropisch zugewucherten Bergen abgebrannt war. So stehen Lins zwei Dutzend Tänzer nun in einer Halle, in der einst Oppositionelle indoktriniert wurden, von denen viele heute Lins Freund sind.

Ganz in Schwarz, sitzt Lin am Rand der Probefläche, schlägt die Beine übereinander. Die atonale Neue Musik eines zeitgenössischen japanischen Komponisten setzt ein, und die weiß gewandeten Tänzer rennen auf Lin zu, die Blicke auf einen Punkt in der Ferne konzentriert. „White III“ von 2006 ist das Resultat von Lins Meditation über die Nichtfarbe Weiß. Anders als seine frühen, offen politischen Werke ist es eher abstrakt, wird von hypnotischer Strenge beherrscht. Mal geben sich die Tänzer einem wellengleichen Gliederrollen hin, agieren synchron wie ein Fischschwarm; dann stieben sie auseinander, und ihre Arme und Beine werden zu ziellos stoßenden Lanzen. Das Bemerkenswerteste aber ist, wie sie in diesem scheinbaren Chaos unabhängig vom Rhythmus der Musik agieren. „Meine Tänzer zählen nicht“, flüstert Lin, „sie achten nur auf ihren Atem“.

Nach der Probe widmet sich Lin dem Kostüm einer Tänzerin, die anders als ihre Kolleginnen relativ üppige Brüste hat. Das sehe ihm zu sehr nach Bikini aus, sagt er. Einen Tänzer lässt er immer wieder üben, sich aus dem Sitz in den Stand hochzuschrauben. „Mehr Energie!“ Die Energie, das Qi, ist für Lin der Schlüssel zum Tanz. Einmal pro Woche schickt er seine Truppe in einen Kalligrafiekurs, wo sie die Dosierung des Qi lernen soll. Außerdem lässt er regelmäßig einen der besten Tai-Chi-Meister kommen. Da stehen die bewegungshungrigen Tänzer dann regungslos und tun nichts anderes als atmen. „Atmet bis in die Zehenspitzen“, sagt der Meister. „Euer Stand wird fester und euer Sprung höher sein.“

Viel wichtiger als die Tourneen rund um den Globus sind für Lin die Auftritte in den Bergdörfern Taiwans, denn „dort zeigt sich, was ein Stück taugt!“ Es ist auch eine Heimkehr. Lin wuchs im Süden Taiwans in ärmlichen Verhältnissen auf. Als es zum Mittagessen Süßkartoffeln gibt, erinnert er sich, wie er mit seinem Bruder oft eine einzige dieser Früchte teilen musste. Lins Vater ermutigte ihn dennoch zu tanzen, warnte aber, dass das ein einsames „Bettlerleben“ werden würde. Doch da täuschte er sich. Einmal im Jahr bespielt Cloud Gate den Tschiang-Kai-shek-Park im Zentrum Taipehs. Vor 60 000 Zuschauern.

Viele Taiwaner betrachten Lin heute als Vaterfigur und Lehrer. Er arbeitet nach wie vor nicht profitorientiert und hat 22 Tanzschulen im ganzen Land gegründet. Dort müssen sich Lehrer und Schüler zur Begrüßung umarmen, was für viele Taiwaner eine kleine Revolution ist. Lin nennt es „Körperbewusstsein schaffen“. Auch er umarmt und tätschelt seine Umgebung ausgiebig.

Nach den Proben fährt Lin mit der U-Bahn nach Hause, eine Stunde Fahrt an den Stadtrand. In seiner einfachen hellen Wohnung hat er einen von Orchideen umrankten Schrein für seine Eltern eingerichtet. Als Buddhist spricht er täglich mit ihnen. In einem schallisolierten Zimmer bewahrt er seine Video-Sammlung auf, einen anderen Raum hat er als Malstudio für seinen Partner eingerichtet.

„Aber das Wichtigste ist der Fluss“, sagt Lin. Am mächtigen Tanshui, der dunkel vor dem Balkon entlang fließt, siedeln wieder Vögel, seit Taiwan den Umweltschutz entdeckt hat. „Sie sind die herrlichsten Tänzer“, sagt Lin – tatsächlich erinnern seine Choreografien oft an Vogelfiguren: Kraniche, Krähen, Tauben. Eine andere Inspirationsquelle ist das Palastmuseum mit seinen 650 000 Objekten, die Tschiang Kai-sheks Truppen auf die Insel verfrachteten. Stundenlang kann Lin dort vor einer Kalligrafie meditieren.

Doch die Schätze gelangten mit Gewalt nach Taiwan: Noch ehe Tschiang 1950 die Republik China ausrief, begingen seine Truppen ein Massaker an den Taiwaner, bei dem mehr Menschen umkamen als in den 50 Jahren japanischer Besatzung zuvor. Später bekam Lin die Diktatur selber zu spüren: Als er in den Siebzigern mit langen Haaren vom Studium in den USA zurückkehrte, schleppten ihn drei Polizisten zum Friseur. Der jedoch weigerte sich, tätig zu werden. Als junger Mann hatte Lin die Geschichtensammlung „Cicada“ veröffentlicht, die bis heute zu den meistverkauften Büchern Taiwans zählt. Den Polizisten war das egal, und als Lin nach Hause kam, war seine Mutter erleichtert – über die kurzen Haare.

Seine Tänzerinnen übrigens ermutigt Lin, Kinder zu kriegen, „sonst enden sie noch mit Hunden oder Pflanzen“. Die Kinder kommen dann mit auf Tournee, und Lin wird zum Babysitter. Er nennt sie „Cloud-Gate-Babys“.