Es ist ein verregneter Montagnachmittag in Rio de Janeiro. In einem Clubhaus im Mittelklassestadtteil Andaraí fern von Copacabana und Zuckerhut entkorkt Moacyr Luz eine Flasche Wein. Seine Hände zittern leicht, er leidet an einer frühen Form der Parkinson-Krankheit.
Bevor er großzügig einschenkt, schneidet er einen Blaukäse auf. „Saúde!“, sagt er. „Gesundheit! Auf den Samba!“ Nach den ersten Schlucken beruhigen sich die Hände des 59-jährigen Gitarristen und Sängers.
Klar gestellt werden muss zunächst, dass es sich hier nicht um die klassische Samba-Ernährung handelt. „Denn sonst trinkt der Sambista Bier und isst Frittiertes“, sagt Moacyr Luz. „Aber bei uns hat sich das so eingebürgert. Wir waren eine Gruppe von Freunden. Wir trafen uns, um Musik zu machen und ein Gläschen Wein zu schlürfen.“
Damals, das war im Jahr 2005, und es war die Geburtsstunde des „Samba do Trabalhador“. Auf Deutsch heißt das: „Samba des Arbeiters“. Die Idee dahinter sei es gewesen, erklärt Luz, Musik für die Arbeiter und Angestellten Rios zu spielen, die am Montag frei haben, weil sie Sonntags arbeiten müssen. Aus der fixen Idee wurde eine der traditionellsten Sambarunden Rios, sogar die New York Times berichtete schon.
Es treffen nun immer weitere Musiker an diesem Montag ein, sie haben Gitarren, Ukulelen und Schlaginstrumente dabei, begrüßen Moacyr Luz mit einem Küsschen auf die Stirn und setzen sich zu ihm an die improvisierte Tafel aus Plastiktischen. Luz ist ein fülliger Typ mit nach hinten gekämmten grauen Haaren, er trägt mehrere Ringe und zwei dicke Holzketten um den Hals. Ein bisschen wirkt er wie ein Pate, und im Grunde ist er das ja auch. Er hält den Samba do Trabalhador seit zwölf Jahren am Leben.
Immer weitere Weinflaschen werden nun geöffnet und Häppchen gereicht und Moacyr Luz erläutert, was das eigentlich ist, eine Sambarunde, eine Roda de Samba. Das Wichtigste, sagt er, sei das Gemeinschaftserlebnis, denn wie der Name ja schon enthülle, handle es sich um eine Runde und nicht die übliche Musiker-auf-der-Bühne-und-Publikum-davor-Anordnung. Bei der Sambarunde sitzen die Musiker an einem Tisch und die Zuhörer gesellen sich klatschend, tanzend und singend um sie herum. Die Zahl der Musiker kann variieren. Hier, beim Samba do Trabalhador, sind es rund ein Dutzend. Aber es reichen schon ein Sänger, eine Akustikgitarre und ein Rhythmusinstrument, um ein Sambaründchen einzuberufen.
Diese Offenheit macht die Roda de Samba zu einer der schönsten und typischsten Erfahrungen, die man in Rio de Janeiro machen kann. Es gibt feste Runden wie den montäglichen Samba do Trabalhador, zu denen Hunderte Besucher strömen. Gleichzeitig kann man jeden Tag irgendwo spontane Minirunden in Bars erleben.
Das Repertoire an Stücken, das sich anbietet, ist unerschöpflich; und es ist immer wieder verblüffend wie die Cariocas, die Bewohner Rios, ihre Musik auswendig kennen und mitsingen. Moacyr Luz, der selbst über 200 eigene Songs aufgenommen hat, erklärt es damit, dass im Samba die Geschichte Brasiliens und die Seele der Brasilianer stecke. In den Texten gehe es meist um traurige Dinge, um die alltäglichen Schwierigkeiten des Lebens „in unserem so ungerechten Land“. Der Rhythmus aber widerspreche dieser Traurigkeit. Er sei fröhlich, animierend und sage: „nicht resignieren, nicht bitter werden, nicht zurückschauen, es geht weiter, jeden Tag!“
Tatsächlich gibt es wohl kaum ein zweites Land, in dem die Menschen sich so wenig damit beschäftigen, was war und stattdessen versuchen, das Beste aus der Gegenwart zu machen. Diese Leichtigkeit, der dennoch etwas Melancholisches innewohnt, ist perfekt im Samba ausgedrückt.
Im Clubheim in Andaraí greifen sie nun zu den Instrumenten. Rund 200 Menschen sind erschienen, aber manchmal haben wir bis zu 1000 Besucher, sagt Moacyr Luz. Der Eintritt beträgt umgerechnet sechs Euro, andere Runden sind gratis.
Das Clubheim ist denkbar einfach. Es besteht aus einer hohen Halle mit Plastiktischen und Getränkeverkauf. Aber es hat eine lange Tradition. 1951 wurde hier der Renascença Clube von Afro-Brasilianern gegründet, die sich von den Gesellschaftsclubs der Weißen ausgeschlossen sahen. An den Wänden prangen riesige Plakate mit den Gesichtern schwarzer Helden und Heldinnen: Joaquim Barbosa, der erste schwarze Präsident des Obersten Gerichtshofs; oder Ruth de Souza, die als erste schwarze Schauspielerin auf der Bühne von Rios Stadttheater stand. An der Frontseite der Halle heißt es unter dem Wappen des Renascença Clubes: „66 Jahre Widerstand.“
Moacyr Luz, selbst kein Schwarzer, stimmt dem zu. Der Samba, das sei die Musik derer, die unten seien. Aber er überwinde auch die Rassen- und Klassenschranken Brasiliens. Denn bei so einer Sambarunde seien alle gleich, ausgedrückt im demokratischen Kreis.
Dann geht es los. Mehrere Gitarren setzen ein, dazu Ukulelen, Tamburins, Ratschen, Bongos, Glocken und die typische kleine Reibetrommel, die auf Portugiesisch so heißt, wie sie sich anhört: Cuíca.
Das erste Stück ist ein Klassiker und zugleich ein Statement: „Não Deixe O Samba Morrer“ von 1975: „Lass den Samba nicht sterben.“ Die Halle singt geschlossen mit. Als der Song endet, macht Moacyr Luz eine Ansage. Er äußere sich ja sonst nicht politisch. Aber der neue Bürgermeister von Rio sei eine Schande. „Er steht gegen alles, was unsere Stadt ausmacht.“ Hinter dem Zorn steckt die Karnevalsfeindlichkeit von Marcelo Crivella, seit Januar Stadtoberhaupt und im ersten Beruf Pastor einer konservativen evangelikalen Kirche. Diese lehnt Ausschweifungen (Alkohol, Tabak, außerehelichen Sex) ab und hält den Karneval zwangsläufig für Teufelszeug. In diesem Jahr blieb Crivella dem Umzug der Karnevalsschulen im Sambodrom fern. Es war ein Affront. Nun hat er den Karnevalsvereinen die Zuschüsse gekürzt und strenge Regeln für Musikveranstaltungen auf der Straße erlassen. Moacyr Luz ruft: „Dieser Crivella wird den Geist Rios nicht brechen.“ Er erntet großen Applaus.
Nun mag sich mancher fragen, woher der Samba, dieser brasilianischste alle Musikstile eigentlich stamme. Es war zwischen 1910 und 1920, als er in den Vergnügungsvierteln Rios aus verschiedenen Stilen hervorging, insbesondere dem Choro. 1917 wurde der erste Samba auf Schallplatte gepresst: „Pelo Telefone“ – Durchs Telefon. 1928 gründete sich in Rio die erste Sambaschule, sie nannte sich „Deixa Falar“ – „Lass sie Reden“. Bald entwickelte sich die Musik zum Artikulationsinstrument der Armen und Schwarzen. Und damit auch zur Musik der Favelas.
Im Renascença Clube folgt nun ein Samba nach dem anderen mit diesem trippelnden und swingenden 2/4-Takt, bei dem man irgendwann ganz von selbst mitsteppt und mitklatscht. Bis Moacyr Luz um 22 Uhr, nach fünf Stunden, zum Aufbruch bläst. Zum Abschluss wieder ein Klassiker: „Canto Das Três Raças“, „Gesang der drei Rassen“, eine Hommage an Brasiliens ethnische Vielfalt und den Widerstand von Ureinwohnern und Schwarzen. Dann heißt es: austrinken und Sachen packen.