Kopfdribbling statt Schussübung

Kopfdribbling statt Schussübung

Nach zwei Jahren merkte er, dass es so nicht funktionierte.

Jorginho, mit bürgerlichem Namen Jorge José de Amorim, Ex-Profi bei Bayern München und 1994 Weltmeister mit Brasilien, hatte zum Ende der Karriere sein Geld in die Gründung einer Fußballschule gesteckt. Sie liegt in einer der vielen vergessenen Ecken im Norden Rio de Janeiros, dem Complexo do Muquiço.

Das Viertel zeichnet sich durch einen der längsten Sozialwohnungsriegel Lateinamerikas aus; durch einen verseuchten und stinkenden Abwasserkanal, in dem furchtlose 12-Jährige baden; und durch die Gewaltherrschaft wechselnder Drogengangs.

Bis heute hat Muquiço im Gegensatz zu den Favelas in Rios Südzone, wo sich die Touristen während der Fußball-WM aufhalten werden, keine Einheit von Rios Befriedungspolizei UPP erhalten. Die Bewohner in Muquiço gehören zur brasilianischen Unterschicht oder leben im Elend unter einer Betonbrücke, über welche die mehrspurige Avenida Brasil rauscht.

Jorginho war in Muquiço aufgewachsen, zunächst in einer Holzhütte, später in Block 19. Zuhause schlug der Vater die Mutter, ehe der genau wie Jorginhos Schwester starb – da war der spätere Profi elf Jahre alt. Draußen musste er mit ansehen, wie seine Freunde im sinnlosen Drogenkrieg umkamen. Nun wollte Jorginho, der längst in den noblen Süden Rios entkommen war, seinem Viertel etwas zurückgeben. Im Jahr 2000 startete er „Bola pra Frente“ – „Den Ball nach vorne spielen“. Die Idee: Jugendliche werden zu Fußballern ausgebildet und entkommen der Armut.

„Das klappt gar nicht“, sagt Jorginho heute. „Wenn es wirklich mal einer schaffen sollte, ist das ein Wunder. Die Kids kamen damals mit Erwartungen, die enttäuscht wurden.“ Jorginho sitzt in Jeans und T-Shirt im Büro seiner Schule. Er ist braungebrannt, was seine grünen Augen gut zur Geltung bringt, am Handgelenk prangt die Riesenrolex. Der 49-Jährige ist auf Jobsuche, seit er 2013 als Trainer von Rios Club Flamengo entlassen wurde.

„Nach zwei Jahren“, sagt er, „haben wir das Konzept der Schule umgeworfen“. Klar, der ummauerte Kunstrasenplatz blieb, dort wird heute gekickt und getobt. Doch hinzu kamen nun Klassenräume, in denen die sechs- bis 17-Jährigen eine Art Nachhilfe bekamen. Die öffentlichen Schulen Brasiliens waren schon damals schlecht, man wollte die Defizite ausgleichen. Kopfdribbling statt Schussübungen. Es war die Abkehr vom Gedanken, dass der Fußball für die Jugend aus den Armenvierteln ein Ausweg ist – so wie es Sportprojekte rund um die Welt suggerieren. Und natürlich öffnete man sich auch für Mädchen. Das Logo von „Bola pra Frente“ ist heute ein Fußballplatz, der sich zu einem Buch wellt.

Das heißt nicht, dass Fußball in Muquiço keine Rolle mehr spielt. Im Gegenteil: Seine Rhetorik und Regeln bilden die Basis einer eigens entwickelten Pädagogik, bei welcher der Gemeinschaftsgedanke im Vordergrund steht. Der Klassenraum ist zur Mannschaftskabine geworden und vor dem Unterricht wärmt man sich auf: mit Palaver, um erst mal alles loszuwerden, was einen bedrückt.

Beim Besuch in einem der kleinen Unterrichtsräume erklärt eine Lehrerin gerade das Alphabet anhand von Begriffen, die alle kennen: K wie Kaká, P wie Pênalti (Elfmeter), S wie Seleção (das brasilianische Nationalteam). Für Mathe nutzt sie Fußballresultate und Tabellen. Benimmt sich ein Schüler daneben, wird erst die Gelbe Karte und später die Rote verliehen. Darüber stimmt die Klasse ab. „Der Karton geht nicht ans Kind, sondern ans unsportliches Verhalten“, sagt die Lehrerin. „Wir wollen keine Athleten ausbilden. Wir wollen Bürger formen.“ Bei den Älteren wandelt sich dann der Fokus. Es geht um Kunst, Kultur, die Persönlichkeitsbildung.

Jorginho, der früher seinen evangelikalen Glauben offensiv ausstellte, heute aber glücklicherweise diskret damit umgeht, hat große Sponsoren für seine Schule gefunden, darunter Unternehmen mit zweifelhafter Reputation, was Arbeitsrechte und Demokratieverständnis angeht: Nike, Nestlé, das Globo-Medienhaus sowie das von Daimler und dem Schweizer Richemont-Konzern finanzierte Heiße-Luft-Event „Laureus Awards“.

Beim Gang übers Gelände wird man von einer Pressefrau darauf hingewiesen, dass man niemanden fotografieren dürfe, der nicht die komplette Nike-Uniform trage, was dann aber – sehr brasilianisch – nach dem Hinweis nicht mehr zu gelten scheint. Ebenso solle man sich bitteschön an die ausgewählten Gesprächspartner halten – was ebenso lax gehandhabt wird.

Wie dem auch sei: 98 Prozent der Jugend Muquiços besucht „Bola pra Frente“, und man verzeichnet 14000 Abgänger. Eine, die gerade fertig wird, ist die 17-Jährige Darine Rodriguez, ein schwarzes Mädchen mit leuchtend blauen Augen. Sie sitzt mit Gleichaltrigen in einem Klassenraum. Alle hier haben gerade eine Ausbildung oder einen Job begonnen, viele in einem der Partnerunternehmen der Schule. „Nun lernen wir, wie man sich in der Berufswelt verhält“, sagt Darine: „Kleidung, Körpersprache, verbaler Ausdruck.“

90 Prozent der Jugendlichen, die „Bola pra Frente“ besucht haben, finden anschließend Arbeit. Das ist ein unfassbar starker Wert, weil Jugendliche aus Favelas – zumal wenn sie schwarz sind – meistens nur im informellen Sektor unterkommen: Putzfrau, Straßenverkäufer, Aushilfsarbeiter. Darine hilft hingegen heute ihrer Mutter, die Rechnungen zu bezahlen. „Ich muss doch kein Fußballer sein, um etwas zu gelten“, sagt sie.