Sie nannten ihn El Caracho, er war Anfang dreißig und wollte einen Kaffee trinken, es war gegen 19 Uhr 30. Eine Woche danach sind die Blutflecken noch immer zu sehen auf dem Asphalt vor der kleinen Bar im Zentrum von Corinto, einer Kleinstadt im Südwesten Kolumbiens.
Éder Cuetia wurde auf offener Straße erschossen, seine Mörder kamen mit dem Motorrad und waren ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie aus der Dunkelheit aufgetaucht waren. Masken sollen sie getragen haben. Aber spricht man an diesem Nachmittag mit den Männern vor der Bar, dann weiß keiner Genaueres.
Éder Cuetia ist nicht der erste junge Mann, der in den vergangenen Monaten in Corinto erschossen wurde. „Ungefähr einer pro Woche“, sagt Fabio Secqe. „Sie wollen uns einschüchtern. Sie wollen Angst säen.“ Der 36-jährige Secqe ist Chef des Kleinbauernverbands der Region mit 1300 Mitgliedern. Der Ermordete war einer von seinen Leuten. Er gehörte zur Bauernwacht, die die Campesinos gegründet haben. „Zur Selbstverteidigung“, sagt Secqe. Denn mit dem Rückzug der linken Farc-Guerilla sei in der Region nicht etwa Ruhe eingekehrt. Ganz im Gegenteil. „Neue bewaffnete Gruppen sind aufgetaucht“, sagt Secqe.
„Rechte Paramilitärs, die die Macht übernehmen und den Drogenhandel managen wollen. Sie nennen sich Schwarze Adler.“ Für Fabio Secqe steht daher fest, dass es die Paramilitärs waren, die Èder Cuetia erschossen haben. „Unsere Bauernwacht ist ihnen ein Dorn im Auge, sie wollen den Drogenhandel kontrollieren.“
Secqe steht in Jeans und T-Shirt vor dem Sitz des Kleinbauernverbands von Corinto. Wie viele Menschen in der Region ist er indigener Herkunft, hat mandelförmige, wachsame Augen. An der Wand des Hauses prangt das Wappen des Campesinos. „Der Boden gehört allen“, heißt es darin. Darüber haben die Bauern ein Transparent angebracht. Es wirbt in großen Lettern für den Frieden in der Region. Eigentlich absurd, sagt Secqe, dass man dafür werben müsse. Aber so sei das.
Kolumbien steht an einem Scheideweg. Für das südamerikanische Land schien Ende November mit der Verabschiedung des Friedensvertrags zwischen der marxistischen Farc-Guerilla und der Regierung eine neue Ära zu beginnen. Für seine Bemühungen verlieh man Kolumbiens Präsident Manuel Santos den Friedensnobelpreis. Aber jetzt, nur ein halbes Jahr später, wackelt der Frieden. Er wird durch Gruppen bedroht, die es gar nicht mehr geben dürfte.
2006 wurden die kolumbianischen Paramilitärs offiziell aufgelöst. Sie waren in den Neunzigern von Großgrundbesitzern zur Verteidigung gegen die Farc-Guerilla gegründet worden. Nun zeigt sich, dass ihre Auflösung ein Bluff gewesen sein könnte. Denn kaum haben sich die Farc zurückgezogen, tauchen die Paramilitärs überall im Land wieder auf. Sie töten, erpressen, handeln mit Drogen und Gold. „Es ist, als ob die Paras nie verschwunden wären“, sagt Fabio Secqe. In Kolumbien spricht man bereits vom „Neo-Paramilitarismus“.
Allein in diesem Jahr wurden in Kolumbien laut Vereinter Nationen 42 Aktivisten verschiedener sozialer Bewegungen mutmaßlich von Paramilitärs ermordet. Im Jahr 2016 zählte die UN 127 Morde. Es trifft Kleinbauern, Indigene, Gewerkschafter, Schwarze, Frauen. Meist standen sie wirtschaftlichen Interessen im Weg – neben Drogen und Gold geht es um Land.
Auffallend viele Opfer gibt es in zwei kolumbianischen Departements. In Chocó an der Pazifikküste und im benachbarten Cauca. Hier, im Norden Caucas, liegt die Gemeinde Corinto.
Für den Drogenhandel ist sie ein strategisch perfekter Ort. Eine weite Ebene mit Zuckerrohrfeldern geht hier in die Anden über, an deren Hängen Tausende Kleinbauern ihre Felder und Höfe haben. Das wirkt pittoresk, die Berge sind von einer atemberaubenden Schönheit, und befänden sie sich in einem friedlicheren Land, wären wahrscheinlich tausende Touristen zum Wandern hier. Aber schon im Krieg zwischen Farc und Regierung war dies eine der am härtesten umkämpften Ecken Kolumbiens. Zum einen, weil die verarmte Region eine Hochburg der Farc war. Zum anderen verläuft hier eine Drogentransitroute aus den Anden zum Pazifik. Drittens aber gedeihen an den fruchtbaren Berghängen Marihuana und Coca.
Fabio Seqce bricht am Abend zu einem Checkpoint der Bauernwacht in die Berge auf. Mit dem Motorrad fährt er über eine Schotterpiste, nach zwanzig Minuten hält er an einer Weggabelung. Dort haben die Campesinos einen Schlagbaum über die Straße gelassen und einen Holzverschlag gebaut. Fünf Bauern tun Dienst, sie kochen Kaffee über einem Lagerfeuer und essen Maisfladen. Ausgerüstet sind sie mit Macheten, Taschenlampen und Funkgeräten, über die Lageberichte der anderen sechs Checkpoints knistern.
Als die Nacht sich vollends über die Anden gesenkt hat, flackern plötzlich tausende kleine Lichter an den Berghängen auf. Sie sind rasterförmig angeordnet und die Szenerie hat etwas von einer riesigen Kunstinstallation. „Das sind die Led-Leuchten über den Cannabis-Feldern“, sagt Fabio Secqe. „Die Pflanzen sollen auch nachts wachsen.“
Einer der Bauern am Feuer ergänzt: „Wir ernten vier mal im Jahr. Hier wächst das beste Marihuana der Welt.“ Ohne Umstände geben alle fünf Bauern zu, dass sie ihren Lebensunterhalt zu 90 Prozent aus dem Verkauf von Marihuana und Coca bestreiten. Ihre Ernten verkaufen sie sackweise an zumeist junge Männer, die aus der rund zwei Stunden entfernten Großstadt Cali kommen, man handele die Preise aus. „Klar“, sagt einer der Bauern, „ich würde auch lieber Kaffee und Bananen anbauen. Aber dann würde ich verhungern. Die Preise sind viel zu niedrig, und es gibt keine Vertriebswege.“
Dann schimpfen die Campesinos auf die Regierung, die ihnen vor dem Friedensabkommen eine Landreform, feste Preise und Vermarktungsstrukturen für legale Produkte versprochen hatte. Aber geschehen sei gar nichts. „Früher behauptete die Regierung, wir seien Farc-Sympathisanten und beschoss uns aus Kampfflugzeugen. Heute werden wir von den Paramilitärs bedroht, die die Region kontrollieren wollen. Frieden sieht anders aus. Wir haben Angst.“
Bis zum Ende der Nacht bleibt es ruhig am Checkpoint. Aber unten in Corinto gibt es ein weiteres Opfer. Ein junger Mann wird am Dorfplatz erschossen, nur 200 Meter gegenüber der Polizeikaserne. Deren Kommandant ist ein schneidiger Typ, er deutet vor dem festungsartig verbarrikadierten Bau an, dass es bei dem Mord um eine offene Rechnung im Drogenmilieu gegangen sei. Woher er das wisse? – „So ist das hier“, antwortet er. „Die Region ist immer noch sehr heiß. Passen Sie auf sich auf!“ Und dann erzählt er, dass aus einem Demobilisierungscamp der Farc-Guerilla in den Bergen rund 20 Mann abgehauen seien. „Die haben ihre Kalaschnikows mitgenommen.“
Das Lager, von dem der Kommandant spricht, liegt in der Gemeinde Miranda, zehn Kilometer von Corinto entfernt. Aus Miranda fährt man dann noch einmal 30 Minuten mit dem Motorrad über eine verschlungene Staubpiste in die spektakulär schönen Berge. Vor dem Indio-Dorf Monte Redondo passiert man zunächst ein Zeltlager der Vereinen Nationen. Es folgt das Camp einer schwerbewaffneten Expeditionseinheit der kolumbianischen Armee, die Soldaten treten gerade zum Morgenappell an. Schließlich, am anderen Ende des Dorfes, das Demobilisierungslager ihrer alten Feinde von den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens, den Farc.
Es ist komplett mit schwarzer Plane umzogen. „Zu unserem Schutz“, sagt Germán Ballesteros, der sich am Eingang als Kommandant der „Mobilen Einheit Gabriel Galvis“ vorstellt. Er sagt, dass im Nachbardepartement Chocó gerade ein ehemaliger Farc-Kämpfer umgebracht worden sei. Der Verdacht falle auf Paramilitärs.
Ballesterors ist leicht aufgedunsen, trägt einen dürren Schnauzer und erfüllt so gar nicht das Klischee vom taffen Dschungelkämpfer. Aber man merkt ihm schnell die politische Schulung der Farc an. Er spricht von den gesellschaftlichen Widersprüchen und dem Kapitalismus, der den Menschen weismachen wolle, dass sie eben nicht alle gleich seien. „Aber das sind sie!“
Zur Geschichte von den desertierten Guerilleros bemerkt Ballesteros: „Totaler Quatsch.“ Auch die Beobachter der Vereinten Nationen, mit denen man später spricht, wissen nichts davon.
In Monte Redondo wurden die Sechste Front der Farc sowie Ballesteros Einheit zusammengezogen, rund 350 Frauen und Männer. Der Guerilla-Kommandeur führt über das Camp. Es besteht aus Holzhütten auf einer abschüssigen Wiese, die mit Plastikplanen verkleidet sind, außerdem einem Fußballplatz sowie Essensbaracken. Die Ex-Guerilleros sitzen vor ihren Hütten, sie spielen Karten oder sind mit dem Ausbessern der Gebäude beschäftigt; eine Gruppe nimmt an einem Kochkurs teil. Das Lager haben die Farc fast komplett selbst gebaut. Dabei wäre auch dies laut Friedensvertrag die Aufgabe der Regierung gewesen.
„Wir“, betont Germán Ballesteros, „erfüllen unser Pflichten aus dem Abkommen. Wir wollen zeigen, dass wir nicht die Bösen sind.“ Er führt zu zwei Holzbaracken. „Dort werden wir unsere Waffen unter UN-Aufsicht abgeben“, sagt er. Aber noch sei es zu früh dafür. „Wir beobachten sehr genau das Auftauchen der Paramilitärs. Und auch, ob die Regierung den Kleinbauern wie versprochen hilft.“ Es klingt wie die Drohung, zurück zu den Waffen zu kehren, wenn man sich von der Regierung betrogen fühle. Zum Abschied macht Ballesteros eins klar: „Der Staat hat uns nie besiegt. Also sollte er sich nicht als Sieger aufspielen.“
Es verfestigt sich der Eindruck, dass in Cauca großer Frust über das Friedensabkommen herrscht. Die Enttäuschung ist nicht nur bei Kleinbauern und Farc zu spüren. Sie ist auch José Leonardo Valencia anzumerken. Der Bürgermeister von Miranda hat am Mittag die Repräsentanten verschiedener dörflicher Institutionen in das Kulturzentrum des Orts eingeladen, darunter Sportvereine, Feuerwehr, die Vereinigung der Kriegsopfer, der Frauenverband. Man will einen Friedensrat gründen. Zunächst wird die Nationalhymne Kolumbiens angestimmt, Valencia singt inbrünstig mit, dann ergreift er das Mikrofon. „Die Regierung kann doch nur Frieden schaffen, wenn sie in die Armen investiert“, ruft er in die Halle.
„Aber alles, was aus Bogotá kommt, sind Worte, Worte, Worte. Die Regierung wälzt alles auf uns ab.“
Valencia ist ein kräftiger Afro-Kolumbianer mit silbergrauem Haar und lautem Lachen. Immer wieder lässt er kleine Scherze in seine Rede einfließen. Dennoch sind seinen Worten deutlich die Besorgnis und die Aufgebrachtheit über die Nachlässigkeit der Regierung zu entnehmen. Es sind ländliche Ortschaften wie Miranda und Corinto, die am meisten unter dem Krieg gelitten haben. Nun sollen sie hier ganz allein den Frieden managen.
Nach dem Treffen sagt Valencia, der von einem bewaffneten Leibwächter begleitet wird, dass Bogotá ihm umgerechnet 320000 Euro zur Verbesserung der Infrastruktur versprochen haben. Aber er warte seit Monaten auf das Geld. „Der Frieden fällt nicht vom Himmel. Wir vertun gerade eine einmalige Chance. Eine zweite haben wir nicht.“
Nur wenige Tage später ruft der Campesinoverband im Norden Caucas zu einer großen Versammlung in der Ortschaft Palo auf, einer Nachbargemeinde von Miranda und Corinto. Man wolle auf die „humanitäre Krise“ in der Region aufmerksam machen, die durch die Gewalt der Paramilitärs ausgelöst werde.
Einer, der den Aufruf unterzeichnet hat, ist der Bauer und Menschenrechtsbeauftragte Gerardo Barona. Kaum ist das Schreiben verbreitet, geht bei ihm eine Drohung per Whatsapp ein. „Wir haben dich ausfindig gemacht, du Kröte. Wir wissen, wo deine Familie lebt und wie du dich bewegst. Wir geben dir 48 Stunden Zeit, um zu verschwinden, wenn du nicht sterben willst. Aufmerksam: Àguilas Negras.“
Gerard Baron ist 30 Jahre alt, hat helle Haut, trägt eine Zahnspange. Ganz cool sitzt auf einem Plastikstuhl im Schatten eines ausladenden Mangobaums in Palo. Der 30-Jährige sagt, dass er solche Drohungen ja nun gewohnt sei. Er hat eine Schusswunde am Arm, die Kugel kam von der kolumbianischen Armee, die vielerorts mit den Paramilitärs gemeinsame Sache machte. Vier Monate saß Barona im Gefängnis, weil er 2012 gegen ein Freihandelsabkommen mit den USA demonstrierte und den Panamerikanischen Highway blockierte. Weil er dafür eintrat, brachliegende Ländereien an Kleinbauern zu verteilen, bezeichnete ihn der örtliche Armeekommandant als Farc-Unterstützer. Es kam einem Todesurteil gleich. Seinen Vater haben die Paramilitärs entführt, einen seiner Cousins haben sie umgebracht.
Barona, der mit seinen bunten Turnschuhen und der Baseballkappe eher wie ein Teenager wirkt, hat – das kann man so sagen – den kolumbianischen Bürgerkrieg überlebt. Nun muss er den Frieden überstehen. Er sagt einen Satz, der einen erschaudern lässt. „Eigentlich trage ich ja ständig einen Sarg mit mir umher.“
Bevor Barona aufbricht, um das Treffen in den Nachbargemeinden vorzubereiten, kommt Fabio Secqe, der Campesino-Führer aus Corinto auf seinem Motorrad vorbei. Er hat schlechte Nachrichten. In einem Bergfluss wurde eine Leiche gefunden, es war wieder einer von seinen Leuten.