Der Kampf um Amazonien

Der Kampf um Amazonien

Als der Leichenwagen von der Flussfähre rollt, bringen Soldaten in schusssicheren Westen ihre Gewehre in Anschlag.

Mit Thomas Fischermann, erschienen im ZEIT MAGAZIN 49/2014

Der kastenförmige Transporter hat gerade den Rio Madeira überquert, den mächtigsten Nebenarm des Amazonas, und setzt seine Reise auf der Transamazônica fort: eine Fernstraße aus Lehm, Tausende Kilometer lang, die von West nach Ost durch den brasilianischen Regenwald führt. Wir reihen uns in die Kolonne hinter dem Leichenwagen ein. Die Soldaten beäugen uns durch pechschwarze Sonnenbrillen. Am Himmel kreist ein Helikopter.

Wir sind in den entlegenen Nordwesten Brasiliens gereist, weil wir von einem Krieg gehört haben, einem Krieg um eine Grenze. Die Grenze verläuft zwischen Natur und Zivilisation, zwischen unberührtem Amazonaswald und gigantischen Rinderweiden und Ackern, zwischen dem Land der Indianer und dem der Weißen. Seit einigen Jahren eskaliert der Konflikt um diese Grenze, von der Weltöffentlichkeit kaum bemerkt. Es geht um die Zukunft des größten zusammenhängenden Waldgebiets der Erde, eines Schatzes, ohne den die Menschheit langfristig nur schwer überleben kann. Die weißen Siedler wollen die Bäume fällen, das Holz verkaufen und den Wald in Agrarflächen verwandeln. Umweltschützer wollen das verhindern, und auch viele Ureinwohner. Die brasilianischen Indianer kämpfen um ihren Lebensraum, die Stämme sind oft nur ein paar Hundert Menschen groß. Sie wollen wir besuchen.

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Kurz vor dem Beginn unserer Reise wurden dann drei weiße Siedler in ihrem Auto auf der Transamazônica erschossen, genau auf dem Streckenabschnitt, der vor uns liegt: Die Fernstraße durchquert hier die ausgedehnten Reservate der Stämme Parintintín, Jiahui und Tenharim. Einer der Toten liegt vor uns im Leichenwagen, unterwegs zu seiner letzten Ruhestätte. Das Heimatdorf des Mannes war eine Siedlung tief im Inneren des Amazonaswaldes. Deshalb die Soldaten. Die Reservate sind seit den Morden Sperrgebiet und nur in Begleitung der Militärs zu durchqueren. Die brasilianische Regierung will weitere Morde verhindern.

Die Soldaten signalisieren Aufbruch, unser Konvoi setzt sich in Bewegung. Es geht durch Sumpflandschaften, aus denen krächzend Aras auffliegen, ihr buntes Gefieder schillert im Sonnenlicht. Dann folgt dichter Wald. Vereinzelt stehen im Dickicht die Hütten der Indianer.

Wir sitzen in einem gemieteten VW Golf, dessen Stoßdämpfer die Schlaglöcher nur unzureichend abfedern, er schwankt und ächzt auf der buckligen Staubstrecke. Eigentlich hatte uns die brasilianische Indianerschutzbehörde Funai einen Jeep versprochen. Aber als wir in der Funai-Station in dem Amazonasort Humaitá eintreffen, steht davor ein Dutzend ausgebrannte Autoskelette. Die Station ist fast verlassen, einen einzigen Mitarbeiter treffen wir an. Er berichtet, wie kurz nach dem Dreifachmord ein wütender Mob aus 3.000 Weißen hierher zog. Die Indianer seien Mörder, skandierten sie, die Indianer sollten verschwinden – und nicht auch noch geschützt werden! Die Menge schmiss Fenster ein, legte Feuer. Brasília schickte das Militär.

Der Mann von der Indianerschutzbehörde erzählt uns auch, dass die Stammesführer der Tenharim sich seit den Morden in ihrer Siedlung Marmelos verschanzen. Über ein CB-Funkgerät nimmt er Kontakt mit dem Dorf auf, und die Ureinwohner sagen ein Gespräch mit uns zu. Die Welt soll ihre Version der Geschichte hören und von den Gründen für ihren Kampf erfahren.

Wir erreichen Marmelos nach drei Stunden Fahrt. Die Siedlung liegt am Rand der staubigen Straße, einfache Holzhäuser und Hütten, an einem reißenden Fluss, über den eine Holzbrücke führt. Doch als wir aus dem Konvoi ausscheren wollen, nehmen uns zwei Militärfahrzeuge in die Zange. Soldaten springen vor unseren Wagen, die Gewehre auf uns gerichtet. “Ihr steigt hier nicht aus!”, brüllt einer. “Weiterfahren, das ist hier der gefährlichste Ort der ganzen Strecke!”

Wir zeigen unsere Papiere vor, die Journalistenausweise, die Genehmigungen der Indianderbehörde und der Bundespolizei. Alles nützt nichts: Auf der Transamazônica hat der Kommandant des Militärkonvois das Sagen. Als wir nicht einlenken wollen, lässt er Handschellen bringen, um uns wegen “Behinderung eines militärischen Konvois” in Haft zu nehmen. Die Soldaten sind laut und ruppig, aber in ihren Blicken ist auch Angst, sie wollen weg von hier. Wir müssen dem Konvoi weiter folgen. Bis in die Nacht hinein flackern vor und hinter uns die grellen Warnleuchten der Militärfahrzeuge.

Erst im Nachhinein fällt uns auf, dass wir in Marmelos niemanden gesehen haben. Die Türen und Fenster waren verrammelt, nur ein paar Hunde streunten herum.

Die Militärs lassen uns erst in einer kleinen Ortschaft frei, die alle nur “180” nennen, sie liegt am Rande des Reservats der Tenharim. Die Transamazônica führt mitten durchs Dorf, sie ist tief zerfurcht von den Lastwagen, die quietschend vor besonders großen Schlaglöchern bremsen und schwarze Dieselwolken zwischen die Holzhäuser blasen.

In “180” findet man vor allem zwei Sorten von Geschäften: Kettensägenläden und Kfz-Werkstätten. Außerdem sind da ein paar kleine Truckermotels und die Kapelle einer Erweckungsgemeinde. In einem der Motels kommen wir unter. “180” sei das Richtige für uns, sagt der Kommandant der Soldaten. Leute wie wir, Weiße also, seien dort sicher. An den Plastiktischen der Bar serviert uns die Kellnerin dann Spieße mit Hühnerherzen und Bier der Marke Cristal. Wir kommen hier nicht leicht ins Gespräch. Wir sind die neugierigen Ausländer, die zu den Indianern wollen und sich mit den Bewachern des Leichenkonvois angelegt haben. Solche Neuigkeiten machen schnell die Runde in einem Pionierdorf mit 5.000 Einwohnern.

Bald fällt auf, was es in “180” alles nicht gibt: Post, Polizisten auf der Straße, Mobilfunkempfang. “180” hat nicht einmal eine Postleitzahl. Dann lernen wir doch noch jemanden kennen, der mit uns reden will: Marcos Aurelio Ferreira, ein Mann, der es schon seit sieben Jahren hier aushält. Er ist im Süden Brasiliens geboren, viel herumgekommen und von Beruf: Glücksritter. Der 44-Jährige mit dem schütteren Haar und den roten Adern um die Nase hat sein Leben lang als Gold- und Diamantensucher gearbeitet, stets ohne Schürflizenz, versteht sich, tief in den Wäldern Amazoniens und in manchem Indianerreservat. “Malaria, 52-mal!”, ruft er. Mit den Indianern, da kenne er sich aus: “Der Indianer ist ein Killer. Wer weiß schon, wer das nächste Opfer wird?” Ferreira berichtet, wie kürzlich, vor den Morden, eine Gruppe “von denen” in den Ort gekommen sei und Fleisch bestellt habe. “Fleisch”, wiederholt er grunzend und ruckelt wie ein Affe hin und her. “Und Coca-Cola. Und Zigaretten.” Die Indianer wüssten schon, was gut sei. Das hätten sie sich von den Weißen abgeschaut.

Am nächsten Morgen will Ferreira den Ausländern etwas zeigen. Am Rand des Ortes gibt es einen matschigen Weg, “da geht es lang”, sagt er. Der Weg führt in den Wald. Wenn Ferreira Geld braucht, leiht er sich einen Transporter, bezahlt einige Tagelöhner und fällt irgendwo da drinnen Bäume. Ein guter Tropenbaum bringe 500 Euro, davon könne er einen Monat lang leben. Das sei normal. Das machten hier viele so.

Ferreira stellt uns Delmar Gabler vor. Gabler ist der Chef der Rio Madeira Esquadrias Ltda, eines der erfolgreichsten holzverarbeitenden Betriebe am Ort. Ein Mann mit schlohweißen zurückgekämmten Haaren; ein deutschstämmiger Brasilianer, er kommt genau wie Ferreira aus dem Süden des Landes. “Alle paar Jahre ziehen wir an einen anderen Ort im Amazonaswald”, sagt Gabler, “das ist unser Geschäft.” Der ganze Betrieb wird dann verladen. Motorsägen, Stromgeneratoren, Lastwagen, alles.

Gabler versichert, dass sein Betrieb vollkommen legal operiere. Es ist in der Amazonasregion nicht verboten, Bäume zu schlagen. Man muss sich aber an strenge gesetzliche Vorgaben halten, an Quoten und Obergrenzen. Keinesfalls darf man in die Reservate der Indianer eindringen. Die sind tabu.

Sägewerke sind in “180” der wichtigste Wirtschaftszweig, 20 bis 30 davon sind im Augenblick in Betrieb. Die zwei Männer reden ganz unbefangen darüber, dass die Besitzer einiger Sägewerke das Gesetz brächen, weil sie zu viele Bäume aus dem Wald holen ließen. Ab und zu tauche die Bundespolizei mit der Umweltschutzbehörde auf, um ihre Betriebe zu schließen. “Aber dann kommen wieder neue, die an anderer Stelle aufmachen.”

Die Bewohner von “180” haben ein eigenes Verständnis von Recht und Gesetz. Schießereien, Duelle und Morde kommen immer wieder vor, erzählt Ferreira. “Es wird keinen Frieden geben, solange die Indianer an der Transamazônica leben. Sie sollen verschwinden. Wofür brauchen ein paar Hundert Indianer so viel Wald?” In der Gegend leben an die 900 Tenharims.

Das Vorrücken der Agrarwirtschaft in den Regenwald folgt einer Art Drehbuch, und Ortschaften wie “180” spielen darin eine wichtige Rolle. Die Gesetze sollen zwar die Ureinwohner und ihre Bäume schützen, aber in solchen Pioniersiedlungen, weit weg von der Hauptstadt Brasília, ist der Staat schwach. Orte wie “180” entstehen entlang der Verkehrswege, sie locken Gold- und Diamantensucher an und Banden illegaler Holzfäller, Männer wie Marcos Ferreira. Sie schlagen Schneisen und Stichstraßen in den Wald und transportieren bei Nacht ihre Beute per Lastwagen ab. Männer mit 38er-Revolvern begleiten sie, manche haben halb automatische Waffen dabei. Wenn die pistoleiros kommen, kann die Lage schnell eskalieren.

Unser Treffen mit den Tenharim kommt dann einige Tage später doch noch zustande, unter konspirativen Bedingungen. “Wir haben gesehen, wie ihr im Dorf aussteigen wolltet”, sagt einer der Clanchefs. “Wir wollten uns nicht zeigen, wir haben Angst vor der Rache der Weißen.”

Unser Treffpunkt liegt weit außerhalb des Reservats. Für die Indianer ist es ein geheimer Ort, sie bitten uns, seinen Namen auf keinen Fall zu nennen. Es ist keine entlegene Waldlichtung, keine versteckte Holzhütte, sondern die Snackbar eines Supermarkts an einer Durchgangsstraße.

Wir haben die Tenharim-Indianer bisher nur auf Fotos gesehen. Auf denen sieht man sie aufrecht stehend, mit Speeren in der Hand, sie tragen Kronen aus Papageienfedern, und ihre Gesichter sind mit breiten, pechschwarzen Strichen bemalt. Hier im Supermarkt tragen die fünf Männer Hosen und Hemden, sie haben ihre schweren, schwarzen Haarschöpfe gekämmt und reden von ihrer Angst. “Wir verstecken unsere Familien flussaufwärts”, sagt der Clanchef in perfektem Portugiesisch, “die Frauen und Kinder sind jetzt an sicheren Orten, die man nur mit Booten erreicht.”

Die Leichen der drei Weißen waren auf Tenharim-Gebiet gefunden worden. Die Polizei hat fünf Stammeskrieger als mutmaßliche Täter festgenommen, darunter einen, der Häuptling seines Dorfs werden sollte. Sie sitzen in Untersuchungshaft. Nun sehen die Siedler all ihre Vorurteile über die eingeborenen Nachbarn bestätigt, aber die Tenharim sagen, sie würden zu Unrecht verdächtigt. Für die Polizei war die Tat ein Racheakt der Indianer. Ein Häuptling der Tenharim war zuvor nachts leblos am Straßenrand gefunden worden, die Polizei erklärte: Motorradunfall unter Alkoholeinfluss. Nicht alle Tenharim wollen das glauben. Zu viele Indianer-Anführer sind in den vergangenen Jahren in Brasilien umgebracht worden, ohne dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden.

In der Snackbar rühren die Tenharim still in ihren Suppen und kauen auf ihren Hamburgern herum. Zu den Anschuldigungen wollen sie nicht viel sagen, und ganz sicher würden sie ihre Verwandten nicht belasten – mit am Tisch sitzen ein Bruder und einige Cousins der Festgenommenen. Sie erzählen, in welcher aufgeladenen Atmosphäre die Morde geschehen seien.

Die Transamazônica, die in den siebziger Jahren unter dem Militärregime durch die Territorien der Indianer gebaut worden ist, war immer schon ein Schauplatz blutiger Konflikte. Im Tenharim-Reservat war es in letzter Zeit ein Wegezoll, der zu Streit führte. Die Ureinwohner erhoben ihn bis vor kurzem für jedes Auto und jeden Lastwagen. Rechtlich war der Wegezoll immer umstritten, aber die Polizei schritt nicht ein. Das ärgerte die Siedler. Über Monate hinweg, erzählen die Tenharim, seien Männer aus “180” nachts vor ihre Dörfer gezogen. Die Weißen hätten sie beschimpft und bedroht.

Nur oberflächlich ging es um den Wegzoll. Der tiefere Grund aber, vermuten die Indianer, sei ein anderer gewesen: Die Tenharim hatten begonnen, sich rabiat gegen die Holzfäller in ihrem Reservat zu wehren. Voriges Jahr hatten sie sogar einen Wachschutz eingeführt, die “indigene Vigilanz”. Junge Männer durchstreifen den Wald und melden Eindringlinge an die Indianerschutzbehörde und die Polizei. “Wir wollen eigentlich nichts, als in Frieden mit unseren weißen Nachbarn leben”, behauptet einer der Tenharim. Doch im Augenblick vermag er sich nicht vorzustellen, wie ein solcher Frieden überhaupt aussehen könnte.

Die Tenharim und andere kleine Urvölker halten dem Vordringen der Agrarwirtschaft stand. Man kann ihren Kampf auf Satellitenbildern verfolgen: Die Reservate erscheinen zum größten Teil als zusammenhängende dunkle Flächen, dort ist die Natur noch intakt. Daneben: das Werk der Holz- und Agrarindustrie. Ein Karomuster von Feldern, Weiden und Plantagen, darin einzelne Höfe und Dörfer. Ein paar Kleinstädte sind ebenfalls entstanden, sie haben jeweils nur ein paar Tausend Einwohner, aber Rathäuser, Supermärkte, Ampeln und Eisdielen.

Vor einigen Jahren schien es, als würde sich das Tempo der Abholzung des brasilianischen Regenwalds verlangsamen. Doch das ist jetzt vorbei. Allein zwischen August und Oktober verschwanden 1870 Quadratkilometer Regenwald, mehr als doppelt so viel wie im selben Zeitraum 2013. In den vergangenen 40 Jahren wurde ein Fünftel des gesamten Amazonaswalds vernichtet. Wissenschaftler warnen, dass sich ohne den Wald neue Wüsten bilden könnten – selbst Tausende von Kilometern entfernt. Denn der Regenwald bindet riesige Mengen Treibhausgase und bremst die Erderwärmung ab. Er ist der größte Wasserspeicher des Planeten, aus seinem Dunst entstehen Regenwolken, die ebenfalls Einfluss aufs Klima nehmen.

Nur etwa ein Prozent der Abholzungen finden in Reservaten der Ureinwohner statt, das zeigen die Satellitenbilder. Aber da die westliche Zivilisation vom Wachstum lebt, drängt sie nun gegen die Indianergebiete. In der Hauptstadt Brasília fordert die mächtige Agrarlobby immer neue Gesetze, um die Schutzfunktion der Reservate aufzuweichen. Zu dieser sogenannten banca ruralista zählen etwa 200 der 513 Abgeordneten im Kongress. Viele sind Großbauern oder werden von Agrarkonzernen bezahlt. Hier, im Wald, scheren sich viele aber ohnehin nicht um Gesetze. Hier werden Fakten mit Motorsägen geschaffen.

So sind die Indianer vielerorts die letzten Wächter des Amazonaswaldes geworden. Der Preis, den sie zahlen: Mehr als 600 von ihnen sind bei Landkonflikten zwischen 2003 und 2013 in Brasilien ermordet worden, darunter zahlreiche Anführer, so eine Statistik des Indigenen-Hilfswerks der katholischen Kirche. Zuletzt starb Anfang November eine Indianer-Sprecherin im Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Sie wurde erstochen aufgefunden, nachdem sie sich für Landrechte eingesetzt hatte.

Im Nordwesten Brasiliens frisst sich die Agrarwirtschaft besonders schnell in den Wald hinein. Es ist ein Gebiet, das im Westen an Bolivien grenzt und sich über die brasilianischen Bundesstaaten Rondônia und Mato Grosso bis in den Bundesstaat Amazonas erstreckt. Der Großteil der Flächen ist bereits baumlos. Wo in den achtziger Jahren Wald war, fahren wir jetzt stundenlang an Rinderweiden, Sojafeldern und Eukalyptuspflanzungen entlang. Bis sich die Landschaft allmählich verändert, der Wald dichter wird und nach mehreren Abzweigungen ein Schild vor uns auftaucht: Eintritt für Unbefugte verboten. Gezeichnet: Funai, Indianerschutzbehörde.

So gelangen wir zu den Suruí, einem Stamm von tausend Ureinwohnern, die in vielen kleinen Siedlungen über ihr Reservat verteilt leben. Einige Dorfgemeinschaften der Suruí wehren sich erbittert gegen die Holzfäller auf ihrem Land. Ähnlich wie die Tenharim.

Als wir eintreffen, teilt uns ein junger Indianer mit, dass der Häuptling uns empfangen werde, sobald die Zeit reif sei. In einer Schule am Dorfrand dürfen wir unsere Hängematten aufspannen. Dann vergehen Tage. Das Dorf sollen wir nicht betreten. Als schließlich wieder einmal die Hitze des Tages weicht und Schwärme von Moskitos ihre Jagd beginnen, werden wir auf einmal in eine Rundhütte in der Dorfmitte geführt. Sie ist nach allen Seiten hin offen und spärlich von einer Lampe beleuchtet. Der Boden besteht aus festgetretener roter Erde. Als wir hereinkommen, setzt draußen starker Regen ein, er fällt auf ein Dach aus Palmblättern.

Der Häuptling Joaquim Suruí trägt Jeans, Wildlederstiefel und Holzketten über einem Polohemd. Mit durchgedrücktem Rücken nimmt er auf einem Holzstumpf Platz, während sich hinter ihm die Dorfältesten niederlassen, halb nackte Männer mit zerfurchten Gesichtern, von Tätowierungen überzogen. Joaquims Sohn übersetzt, wenn der Vater vom gebrochenen Portugiesisch in die Stammessprache wechselt.

Die Suruí sitzen über uns zu Rate. Noch sind sie sich uneinig, ob sie uns zeigen sollen, wo in der Gegend die Holzfäller unterwegs sind. Ob sie es riskieren wollen. Der Häuptling mustert uns lange. “Einmal begegneten wir bei der Affenjagd Weißen mit Kettensägen”, sagt er. “Sie drohten, das ganze Dorf umzubringen.” Joaquim informierte die Indianerschutzbehörde: Nichts sei geschehen. “Ich wurde im Wald geboren. Ich will ihn beschützen, ich schreie: Hilfe, Hilfe, Hilfe! Aber niemand hört uns.”

Die Suruí blicken uns ernst und neugierig an. Jetzt sind wir an der Reihe. Wir erklären, warum wir die Rodungen auf ihrem Stammesgebiet mit eigenen Augen sehen wollen. Viele der Männer ergreifen das Wort, einer nach dem anderen, sie führen lange Monologe, von denen wir wenig verstehen. So geht das zwei Stunden lang. Als sie unvermittelt aufstehen, ist weder über unser Gesuch abgestimmt worden, noch wurde ein Machtwort gesprochen. Aber, von uns unbemerkt, ist doch eine Entscheidung gereift.

Es regnet feine Tropfen, als wir am nächsten Morgen im ersten Tageslicht losziehen, durch tiefen Schlamm, der bei jedem Schritt gluckst. Sieben bewaffnete Krieger begleiten uns, einer hat ein Gewehr dabei, die anderen tragen Langbögen und Pfeile. An ihren Gürteln baumeln Macheten. Es geht durch hohes Gras, bergauf, bergab, beinahe im Laufschritt, Pausen sind nicht vorgesehen. Einmal hören die Suruí ein Schwein im Unterholz, zwei Krieger spannen ihre Bögen, aber das Tier kann entkommen.

Nicht alle Indianer wollen den Wald schützen. Manche helfen den Holzfällern auch, sie bekommen Geld dafür

Nach zwei Stunden bleiben die Suruí plötzlich stehen und lauschen ins Dickicht. Sie umfassen ihre Bögen fester. Wir treten auf eine Lichtung: zersplitterte Baumstümpfe, zersägte Stämme, Furchen von Raupenfahrzeugen, weggeworfene Dieselkanister, Colaflaschen. Die Holzfäller müssen vor Kurzem noch hier gewesen sein. “Sie haben sich vor dem Regen verdrückt”, sagt einer unserer Begleiter. “Sie wollten nicht riskieren, dass ihre Laster stecken bleiben”.

Zum ersten Mal lachen die Indianer. Sie scheinen erleichtert zu sein, dass es nicht zu einer Konfrontation kommt. Nur Häuptling Joaquim lacht nicht, er wirkt an diesem Tag beschämt. Er erzählt, dass die Holzfäller in diesen Wäldern auch Verbündete hätten. Die Suruí eines anderen Dorfes kooperierten mit ihnen. Es gebe dort Indianer, die mit Weißen verheiratet seien. “Die Weißen vergiften ihre Gedanken und Gefühle”, sagt Joaquim. “Das Geld ist dann ihr Gott, und sie wissen nicht mehr, was ein Indianer ist.”

Deshalb will er alles dafür tun, um die Kultur, die Erinnerung und die Sprache seines Volkes zu bewahren. Er hat Missionaren einer evangelikalen Kirche verboten, sein Dorf zu betreten, weil sie den Leuten erzählten, ihre Tänze und Gebräuche seien Teufelswerk. Er ruft die Älteren zum Musizieren und Bogenschießen zusammen, zum Flötenschnitzen und zum Bau von Pfeilen, um die Tradition an die Jüngeren weiterzugeben.

“Der Wald ist eine Schule”, sagt Joaquim, “wir leben schon seit Tausenden Jahren darin. Wenn wir unsere Kultur verlieren, gibt es die Suruí nicht mehr”. Und dann sterbe auch der Wald. Der weiße Mann werde alles in Weideland und Sojafelder verwandeln.

Wir wollen erfahren, ob es stimmt, was Häuptling Joaquim uns erzählt hat: dass er im Kampf gegen bewaffnete Holzfäller allein gelassen wird. Dass Anzeigen nicht verfolgt werden, dass Polizei und Staat untätig sind. André Gebrim Vieira empfängt uns in seiner Polizeistation in der Kleinstadt Vilhena. Zu unserer Überraschung klagt er: “Wir fühlen uns von Brasília im Stich gelassen.”

Auf dem Weg hierher haben wir die Wachtposten der Polizei an den Eingängen der Reservate gesehen, die meisten waren unbesetzt: windschiefe Häuser, vor denen ein paar Hühner durchs hohe Gras staksten.

Manche Indianer, die für den Wald kämpfen, denken darüber nach, Touristen hierherzulocken – vielleicht zur Affenjagd

Der Polizist Vieira, ein kräftiger Mann von 43 Jahren, ist Chef der “Operation Feuerbogen”. So heißt die Polizeiaktion gegen illegale Holzfäller hier in der Gegend. Die Reservate, erzählt er, gerieten immer mehr unter Druck. Nur dort gebe es noch zusammenhängende Waldstücke mit wertvollen Bäumen wie Palisander und Mahagoni. “Doch die Region ist viel zu groß, als dass wir sie mit unseren 70 Polizisten kontrollieren könnten. Ich sehe kein Ende dieses Krieges.” Viele seiner Beamten seien jung und unerfahren, die Polizei habe in der Gegend nicht viele Freunde. “An dem Tag, an dem wir nicht aufpassen, brennen die Siedler die Polizeistation nieder.”

Auch das Misstrauen der Indianer sei groß. Längst nicht alle Indianer seien edle Waldschützer wie die Tenharim oder die Männer von Suruí-Häuptling Joaquim. Es gebe viel Streit zwischen den Dörfern, Clans und Stämmen. Etliche Häuptlinge verkauften unter der Hand kleinere Waldgebiete oder erteilten Schürflizenzen in ihren Reservaten, obwohl sie das gar nicht dürften. Die gerodeten Flächen, die aus solchen Deals resultieren, sind klein im Vergleich zum Kahlschlag außerhalb der Reservate. Doch was der Polizist Vieira erzählt, wirft einen Schatten auf die Geschichte vom edlen Indianer, der sein Land gegen weiße Ausbeuter verteidigt.

Vor dem Stamm der Cinta Larga, zu dem wir als Nächstes wollen, warnt uns Vieira. Diese Ureinwohner ließen die Polizisten kaum noch auf ihr Gebiet. “Das respektieren wir”, sagt Vieira, “die haben mehr als 300 bewaffnete Krieger.” Aber die Indianerbehörde hat uns bei den Cinta Larga schon angekündigt und uns den Hinweis gegeben: Häuptling Marcelo, den wir treffen werden, sei kein Häuptling für Romantiker, sondern einer, der mit den Waffen der Weißen zu kämpfen wisse.

Marcelo Cinta Larga holt uns mit seinem Fiat-Pick-up ab und rast die holprige Straße an der Grenze des Reservats entlang, 250 Kilometer weit. Am späten Nachmittag stehen wir schließlich in brütender Hitze in einem Sojafeld. Das Grün ist hüfthoch und reicht bis zum Horizont. “Das hier ist unser Land”, sagt Marcelo. “Die Weißen haben es geraubt.”

Häuptling Marcelos Volk zählt 2.300 Indianer. Sie leben in einem Reservat, das fast so groß wie Belgien ist. Auch hier dringen Großbauern jedes Jahr weiter ein, ganz ungeniert, denn wie sollten 2.300 Einwohner diese Fläche beschützen? Die Bauern lassen die wertvollen Bäume schlagen, roden das Unterholz mit Feuer und bepflanzen das verbrannte Land mit Monokulturen. Häuptling Marcelo führt uns zu einer Stelle im Feld, an der ein Schild der Indianerschutzbehörde steht: Es markiert die Grenze des Reservats und steht doch mitten in den illegal gepflanzten Sojastauden. “Das Schild haben sie stehen lassen”, spottet er. “Es ist nämlich strafbar, es wegzunehmen.” Er bückt sich, reißt eine Sojapflanze aus dem Boden und schleudert sie fort. Der Polizei habe er schon mehrmals von den Eindringlingen berichtet, aber nichts geschehe. “Gott hat eine Aufgabe für mich”, sagt Marcelo Cinta Larga, “ich soll das Volk der Cinta Larga gegen die Eindringlinge verteidigen.”

Dann lässt er den Motor an, fährt die Fenster hoch und schaltet die Klimaanlage auf “maximal”. Ein giftgrünes Fläschchen Raumparfüm, das am Rückspiegel baumelt, verströmt künstliches Waldaroma. Marcelo sagt: “Natürlich hat uns der Kontakt mit dem weißen Mann verändert. Wir sind ein bisschen geworden wie er.”

Seine Eltern starben, als er sechs Jahre alt war, “an den Krankheiten der Weißen”. Als Waise wuchs er in eine Welt hinein, die von ihm verlangte, mit großen Widersprüchen zu leben: der Dorf- und Stadtkultur, der archaischen Subsistenzwirtschaft und den Konsumträumen der modernen westlichen Gesellschaft. Heute besitzt Marcelo eine Hütte in seinem Dorf, aber er verbringt mehr Zeit in seinem Haus in der Stadt. Dort wohnen seine fünfte Frau und einige seiner 14 Kinder. “Unsere Waffen dürfen heute nicht mehr Pfeil und Bogen sein”, sagt Marcelo, “unsere Waffe ist die Bildung. Ohne Bildung haut dich der weiße Mann übers Ohr.” Marcelo selbst hat sich seine Schulbildung in der Abendschule erworben. Er ist dafür bekannt, dass er sich in politische und rechtliche Fragen einarbeitet, wenn es darum geht, die Interessen seines Volkes zu vertreten.

Über die Jahrhunderte haben die Bogenschützen seines Volkes viele Schlachten gewonnen. Dann kamen in den zwanziger Jahren Trupps von Kautschukzapfern und dreißig Jahre später die ersten Holzfäller und Diamantensucher, die auf dem Gebiet der Cinta Larga eines der größten Diamantenvorkommen der Welt vermuteten. 1963 eskalierte der Diamantenrausch im sogenannten Massaker vom 11. Breitengrad: Schätzungsweise 3500 Cinta Larga wurden vergiftet, mit Dynamitstangen in die Luft gesprengt, von pistoleiros erschossen, an Bäumen aufgehängt, mit Macheten erschlagen.

Es war der Auftakt zu einem langen Krieg. 2004 gerieten die Cinta Larga weltweit in die Schlagzeilen, als sie 29 illegale Diamantensucher massakrierten, die ohne ihre Genehmigung auf dem Stammesgebiet geschürft hatten. Zuletzt kidnappten sie Staatsanwälte und einen UN-Inspektor und blockierten die wenigen Fernstraßen Rondônias. “Das darf man ja heute alles nicht mehr”, sagt der Häuptling Marcelo, und dann lacht er kurz.

Dann stellt er uns noch jemanden vor, mit dem wir unbedingt sprechen sollten. Sonst würden wir die Indianer nicht verstehen. Es ist ein Mann, der noch so lebt, wie die Cinta Larga vor Ankunft der Weißen lebten: ein Pajé, der letzte Schamane seines Stammes. Er trägt den Namen Kurrupião. Hunderte von Menschen soll er von Fieber geheilt haben, von Vergiftungen und Unfruchtbarkeit. In seiner Hütte gewöhnen sich unsere Augen nur langsam an die Finsternis. Wir erkennen Hängematten, Töpfe, eine glimmende Feuerstelle. Ein dürrer Greis tritt uns entgegen, ihm fehlt ein Auge. “Ein Unfall”, erläutert Marcelo. “Er geschah, als der Pajé einmal starb und wiederauferstand.” Der Medizinmann hebt an zu sprechen, mit hoher, schwacher Stimme. “Mit dem blinden Auge sehe ich Gott”, raunt er. “Gott sagte mir, dass der Wald brennen wird. Die Welt wird sterben.”

Mit der Ankunft der Weißen ist die Welt der Ureinwohner komplizierter geworden. Wenige leben seitdem noch wie zuvor: halb nackt im Wald, medizinisch versorgt nur vom Pajé. Längst haben sich die meisten mit den Krankheiten der Weißen angesteckt, sie brauchen nun Geld für Arznei und andere Dinge, die vor allem die Jüngeren für erstrebenswert halten: für ein Motorrad, Jeans, Elektrogeräte, eine Parabolantenne und das ein oder andere Steak aus dem Supermarkt.

In dieser Welt schließt auch Marcelos Volk Verträge mit Diamantensuchern und Holzfällern. “Das ist illegal”, sagt Marcelo, “aber es ist nun mal so.” Die weißen Glücksritter dürfen ein Stück des Waldes zerstören und zahlen den Indianern dafür eine Abgabe. Solange die Sache nicht überhandnimmt und sein Volk einen fairen Anteil erhält, ist der Häuptling dafür.

Trotzdem: Ein gutes Gefühl hat er dabei nicht. Häuptling Marcelo hört das Flehen des Pajé, den Wald zu bewahren, er spürt die Zwänge, unter denen man als Führungskraft eines Indianerstammes steht. “Wir können die Ausbeutung gern stoppen”, sagt er. “Aber dann muss uns die Regierung entschädigen. Es gibt so gut wie keine Jobs für uns.” Marcelo gehört zu einer neuen Generation von Indianerführern, die es verstanden hat, dass der Schutz ihrer Wälder auch eine wirtschaftliche Frage ist. Wenn die Stämme ihre Reservate schützen wollen, brauchen sie eine ökonomische Grundlage. Sonst werden sie von der Macht des Geldes überrollt. Da helfen keine Gesetze.

Ist womöglich bald Schluss mit dem Widerstand der Indianer, Marcelo?

“Wenn die Regierung will, dass wir den Wald schützen, dann soll sie uns doch mehr Geld bezahlen.” Wenn die Weißen den Wald so wichtig fänden, sollten sie die Indianer eben als Forstwächter engagieren.

Andere Häuptlinge haben schon vorgeschlagen, die Indianer sollten den Verkauf von Kastanien und Kunsthandwerk professionalisieren. Ein Häuptling der Suruí, der viel in der Welt herumgereist ist, hat vorgeschlagen, die Indianer könnten auf ihren Gebieten Tausende neue Bäume pflanzen und CO2-Zertifikate verkaufen. Und Marcelo Cinta Larga denkt darüber nach, sein eigenes Dorf für zahlende Besucher zu öffnen: “Wir würden mit ihnen auf Affenjagd gehen, sie könnten im Fluss baden und in der Hängematte schlafen. Wäre Tourismus nicht eine Lösung?”

Es ist eine ernst gemeinte Frage, die Häuptling Marcelo uns, den Journalisten, stellt. Wir finden keine rechte Antwort. Auf unserer Reise haben wir gut 3.000 Kilometer zurückgelegt, und klar geworden ist vor allem, dass die Weißen mit ihrem Hunger nach Holz, Flächen und Geld nicht lockerlassen werden.

Es ist schon dunkel, als unsere Reise mit Marcelo Cinta Larga zu Ende geht. Wir sind auf dem Weg in sein Heimatdorf, in dem wir die Nacht verbringen wollen. Wir halten bei einem Bauern und kaufen vier Hühner, Marcelo erschlägt sie mit einem Holzscheit. Bevor wir das Dorf erreichen, kommen wir durch ein Waldstück, der Vollmond verschwindet hinter dem Blätterdach. Da taucht vor uns ein unbeleuchteter Laster auf. Er rumpelt über die löchrige Piste, schwankt gefährlich unter dem Gewicht der mächtigen Holzstämme auf seiner Ladefläche. Wir versuchen sein Kennzeichen zu erkennen, um zu erfahren, wo er herkommt, aber es ist von einer Schlammkruste verdeckt. Nach einigen Minuten biegt der Transporter von der Piste ab und passiert ein Holztor im Dickicht, das sich sofort wieder hinter ihm schließt.