Ghana: Ohne Kompass

Ghana: Ohne Kompass

Stille über dem Ozean. Zwei Stunden lang dröhnte der Außenborder, dann hat Joshua Akaa ihn per Knopfdruck abgestellt. Schweigend steht der Fischer am Heck seiner Piroge und lauscht in die Nacht hinein. Es ist fünf Uhr morgens auf dem Golf von Guinea, über dem 38-Jährigen treiben Wolkenfetzen vor den Halbmond, unter ihm schlägt das Wasser schmatzend gegen die Holzplanken des Boots.

Nach einer Weile sagt Joshua: „Ich kann die Fische hören. Ich weiß, wohin sie schwimmen.“ Er setzt den Motor wieder in Gang und steuert weiter hinaus aufs offene Meer. Als die letzten Lichter der Küstendörfer am nördlichen Horizont verschwunden sind, drosselt er die Fahrt. Er wirft eine Handvoll Sand ins Wasser und entscheidet: „Hier!“

Wieder einmal soll sich Joshua Akaa irren.

Drei Stunden zuvor hatte sich Akaa mit den Hilfsfischern James und Ahene am Strand von Kokrobite getroffen, wo seine Piroge im Sand liegt. Joshua schraubte seinen Yamaha-Motor am Boot fest und schob das acht Meter lange Gefährt mit seinen Männern ins Meer. Kokrobite befindet sich 30 Kilometer westlich von Accra, der Hauptstadt Ghanas. Früher war es ein reines Fischerdorf, dann entdeckten Touristen die Palmenbucht, und Ausländer investierten in kleine Hotels und Strandbars. Seitdem kommen Rucksackreisende, Entwicklungshelfer und Botschaftsangehörige, um sich zwischen den bunten Boten der Schiffer zu sonnen. Deren Profession scheint nur noch pittoreske Folklore zu sein. In Wirklichkeit spielt sich vor den Augen der Touristen ein Drama ab, das sie nicht sehen können. Es handelt von der Leere. Leere im Meer, Leere im Netz und leere auf dem Teller.

Als Joshuas nächtliche Entscheidung gefallen ist, schmeißt er einen Anker aus zusammengeschweißten Stahlstreben ins 25 Meter tiefe Meer. Er steuert sein Boot parallel zur Küste, und James und Ahene beginnen damit, das Netz auszubringen. Es ist aus Nylon und circa zwei Meter breit. Plastikschwimmer auf der einen und Gewichte an der anderen Seite halten es in der Senkrechten. Das Auswerfen ist eine monotone Tätigkeit, die von den Männern schweigend verrichtet wird. Nur ab und zu stimmt einer einen Gesang an: „Looloo, looloo, looloo.“ In ihrer Sprache, dem Ga, das rund um Accra gesprochen wird, heißt „loo“ Fisch. „Looloo, looloo, looloo.“

Als es eine Stunde später graurosa über dem Ozean dämmert, ist das Netz ausgebracht. Das Wasser im Umkreis von mehreren Kilometern ist mit Fischerbooten übersät. Da gibt es bananenförmig geschwungene Pirogen mit Außenbordern, wie die von Joshua. Einige Segler, nicht größer als die sprichwörtlichen Nussschalen, tanzen auf den Wellen. Aber auch große, imposante Holzschiffe auf denen ein Dutzend Seeleute die Netze bereits im Akkord über die Reling ziehen. Keins der Boote hat Lichter an Bord. „Positionsleuchten? Wer soll die bezahlen?“, fragt Joshua.

Er und seine Crew sind sechs Nächte in der Woche auf dem Wasser, aber sie haben keinen Kompass, kein Funkgerät und keine Handys. Joshua Akaa fährt seit 26 Jahren hinaus aufs Meer. Bis auf den kleinen Außenbordmotor fischt er noch so wie sein Urgroßvater. „Sterne, Wind, Wellen, Intuition“, antwortet er auf die Frage nach seinen Navigationsinstrumenten. Dieselbe Antwort gibt er auf die Frage, woher er wüsste, wo die Fische sind.

James zieht einen Blechtopf mit gebratenen Sardinen und Yams unter einer Sitzbank hervor. Die Männer schaufeln sich das Essen wortlos mit schwieligen Händen in den Mund. Joshua hat eine Baseballkappe ins rundliche Gesicht gezogen, aus deren Schatten zwei unruhige Augen hin- und herwandern. Auf seinen Wangen prangen Stammesnarben, seinen Oberkörper hat er in einen blauen Mantel gehüllt, der sowohl gegen die nächtliche Kühle wie gegen die aufsteigende Sonne schützt. Seine beiden Gehilfen tragen weite, fleckige Baumwollhosen und Hemden. Der 32-jährige James hat ein knochiges, ausgezehrtes Gesicht mit breiter Nase über die sich tiefe Furchen eingegraben haben. Ahene ist 19 Jahre alt, großgewachsen, mit langen muskulösen Armen, sehnigen Beinen und einem breiten Lächeln. Beide arbeiten seit einigen Jahren auf Joshuas Boot und bekommen am Ende jeder Fahrt jeweils 25 Prozent des Fangs. Joshua stellt Motor, Benzin und Netz. So ist die Abmachung.

Nach dem Frühstück balanciert James barfuss an den Bug des Schiffs und beginnt, das Netz an einem Strick einzuholen. Der Motor bleibt aus, und so zieht James das Boot mit Muskelkraft durchs Wasser, Meter um Meter in Richtung des ersten Ankerplatzes. Joshua und Ahene nehmen das Netz auf und legen es sorgfältig auf den Boden zwischen die Holzbänke. „Loo, loo, loo“, schallt es über das Wasser, “loo, loo, loo”.

Joshuas Boot heißt „Oneday“. Es ist aus dem leichten hellen Holz des Abachi-Baums geschnitzt. An einer Stelle unterhalb des Bugs hat Joshua in blauer Farbe „John 3:16“ schreiben lassen: „…damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden.“ Ganz weltlich flattert an einer langen Stange die Fahne von Ghanas Regierungspartei, der sozialdemokratischen NDC. Seit Ghanas 2012 verstorbener Präsident John Atta Mills von der NDC den Treibstoff der Fischer subventioniert, sind sie feste NDC-Anhänger. Joshuas 20 PS starker Außenbordmotor hat eine Füllung von 24 Litern, die kosten umgerechnet 20 Euro. Wenn es schlecht läuft, dann ist das ein Tageslohn.

Es dauert einige Minuten, bis die ersten Fische in den Maschen zappeln: Es sind drei Rote Schnapper. Dann muss James seine Arbeit unterbrechen, weil sich das Netz der „Oneday“ mit dem eines anderen Boots verheddert hat. Ahene springt ins Meer und schafft es nach mehrmaligem Tauchen, die Netze zu entwirren. Mit der Zeit zieht James immer mehr Fische ins Boot, aber keiner ist länger als 20 Zentimeter. Es sind Schnapper, Makrelen und Sardinen. Die Männer lassen sich die Enttäuschung nicht anmerken. Nur als Joshua einen Riss im Netz bemerkt, flucht er. „Das war ein großer Bursche!“ Als das schwarze Fähnchen, das den Netzanfang markiert, am Horizont zu erkennen ist, übernimmt Ahene den Job von James. Das erste, was er zutage fördert, sind zerfetzte Quallen. Es folgen Plastiktüten, Plastikflaschen, Kunststoffsandalen sowie weitere Makrelen, Sardinen und Schnapper.

Die einzige Unterbrechung ist der Streit mit der Besatzung eines anderen Boots, der „Drogba“. Zehn Männer wuchten dort ein fast leeres Netz an Bord. Man beschuldigt sich gegenseitig brüllend übers Wasser hinweg, nicht gegrüßt zu haben. Die Anspannung hat auch mit der Konkurrenz zu tun. „Es gibt zu viele Fischer“, sagt Joshua. „Keiner wird mehr satt.“ Nach einer Stunde übernimmt er die letzte Schicht. Doch auch er hat nicht mehr Glück. Nur am Ende greift er einen wild mit dem Schwanz schlagenden Hummer aus dem Netz. Aber der kann die Stimmung an Bord auch nicht mehr aufhellen. Joshuas Intuition hat versagt.

Oder steckt etwas anderes dahinter? Ghanas Küstengewässer zählten einst zu den fischreichsten der Welt: Barrakudas, Heringe, Makrelen, Haie, Thunfische, Tintenfische und Barsche schwammen hier, außerdem gab es Hummer, Langusten, Krabben, Muscheln und Schildkröten. Ghana war neben dem Senegal die bedeutendste Fischfangnation Westafrikas mit einer mehr als 500 Jahre alten, belegten Tradition. Bis heute ist Fisch eine der wichtigsten tierischen Proteinquellen, 75 Prozent des heimischen Fangs werden lokal konsumiert. 300 Anlegestellen hat das Fishery Committee for the Gulf of Guinea an der 550 Kilometer langen ghanaischen Küste gezählt. Darunter sind die beiden Tiefseehäfen in Tema und Takoradi aber auch Dörfer wie Kokrobite, an dessen Strand nur Pirogen liegen. Etwa zwei Millionen Ghanaer leben von der Fischerei – zehn Prozent der Bevölkerung. 125000 von ihnen sind Meeresfischer wie Joshua. Die anderen arbeiten als Verkäufer, Zwischenhändler oder Bootsbauer. Doch sie alle bangen um ihre Existenz, weil Ghanas Fischgründe erschöpft sind.

„Wir fangen nicht mehr viel“, stöhnt Joshua. „Aber manchmal haben wir auch volle Netze“, versucht er seine Klage sofort abzumildern. Es scheint, als ob ihm die schlechten Fänge unangenehm seien. Als ob sie seine Fähigkeiten als Fischer – und damit seine ganze Identität – in Frage stellen würden. Dabei ist Joshua in einen Kampf verwickelt, den er gar nicht gewinnen kann: Handwerk gegen Industrie, Holzkanu gegen Fabrikschiff, Intuition gegen satellitengestützte Ortungstechnik.

Der Wandel begann, als die Vereinten Nationen in den 1980er Jahren beschlossen, die Hoheitsgewässer von Meeresanrainern auf 200 Seemeilen auszuweiten. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die Zone zwischen der 12. und der 200. Seemeile zur wirtschaftlichen Nutzung ausgeschrieben werden musste, wenn ein Land diese nicht selbst abfischen konnte. Dazu entschloss sich etwa die Elfenbeinküste, das Nachbarland Ghanas. Sie hat der Europäischen Union in einem „Fischereipartnerschaftsabkommen“ bis 2013 das Recht abgetreten, in ihren Gewässern Thunfisch zu jagen. Dafür zahlt die EU fast 600000 Euro jährlich. Andere Ländern bekommen deutlich mehr. Etwa Mauretanien, das jedes Jahr 70 Millionen Euro kassiert. Diese werden nicht von den Reedern der Fangschiffe bezahlt, sondern von den EU-Steuerzahlern. Dass die Gelder oft nicht zur Förderung einer „verantwortungsvollen Fischereipolitik“ in Afrika verwendet werden, wie es in den Verträgen heißt, sondern in die Taschen korrupter Beamter fließen, ist ein offenes Geheimnis.

In Brüssel betont man dennoch das Positive der Abkommen: Die EU-Flotte sei ausgelastet und Arbeitsplätze seien gesichert. Außerdem würden die überfischten europäischen Fanggründe entlastet. Das Negative hat Greenpeace aufgelistet: Die Fischbestände vor Westafrikas Küste und die Leben von Millionen Menschen seien ernsthaft gefährdet. Allein der Beifang eines Supertrawlers, der während einer Fangfahrt tot oder sterbend wieder ins Meer geschmissen werde, entspreche dem jährlichen Konsum von 34000 Westafrikanern. Auch aus diesem Grund sollen die europäischen Trawler den minderwertigen Teil ihrer Beute in Afrika verkaufen. Was den Effekt hat, dass die afrikanischen Kleinfischer noch schneller in den Ruin getrieben werden, weil sie mit den Dumpingpreisen nicht mithalten können.

Ghana weigerte sich von Anfang an, Fischereiabkommen zu schließen. Das Land war selbst in der Lage seine Küsten abzufischen, weil es 140 Trawler aus sowjetischer Fabrikation besaß. Dann aber zwang die Weltbank das Land zur Abwrackung und Privatisierung der staatlichen Flotte, die überwiegend von Koreanern und Chinesen aufgekauft wurde. Immer öfter drangen nun auch ausländische Schiffe illegal in ghanaische Gewässer ein. Darunter nicht nur Schiffe unter dubiosen Flaggen wie der von Honduras, Liberia oder Panama, sondern auch russische, chinesische und europäische Trawler. Die EU-Flotte wird zu zwei Dritteln von spanischen Schiffen gebildet, aber auch deutsche und niederländische Supertrawler gehören dazu. Die größten von ihnen können pro Tag 250 Tonnen Fisch fangen, verarbeiten und einfrieren. Für die gleiche Menge bräuchte Joshua sein ganzes Fischerleben. Die britische Beraterfirma Marine Resources Assessment Group schätzt, dass Ghana täglich illegal um Fische im Wert von 100000 US-Dollar gebracht werde.

Ein weiterer Effekt der Raubfischerei ist die Verdrängung der alten, in Ghana registrierten Kutter mit ihren neuen chinesischen oder koreanischen Mannschaften. Sie müssen immer näher an die Küste heranfahren und machen dort wiederum Joshua die Fische streitig. Wegen ihrer engmaschigen Netze werden Jungfische mitgefangen, womit Nachwuchs sowie Nahrung für Raubfische fehlt. Außerdem wenden sie das verpönte Lichtfischen an sowie das verbotene Paartrawlen: Dabei wird ein Netz zwischen zwei Kutter gespannt und alles Leben dazwischen regelrecht wegrasiert.

Es ist neun Uhr, die Sonne sticht bereits herab, als Joshua den Außenborder starten will, um nach Kokrobite zurückzufahren. Doch so sehr er auch an der Anlasserschnur reißt – der Motor springt nicht an. Joshua klappt den Außenborder hoch, nimmt die Verkleidung ab, schraubt herum, verstellt und reinigt das Innere der Maschine. Beim nächsten Versuch knattert der Motor los, säuft aber sofort wieder ab. Joshua schraubt und fummelt. Es sind bange Minuten. Es ist niemand in Sicht, der Joshua den langen Weg zurückschleppen könnte. Und das Ruder am Heck taugte als Antrieb vielleicht in den Kanälen Venedig, aber nicht auf dem offenen Meer. Schließlich nimmt Joshua den Benzinfilter heraus, versucht ihn zu überbrücken. Und tatsächlich, der kleine Motor tuckert los, einwandfrei, bis Land in Sicht ist.

Am Strand von Kokrobite wartet eine Gruppe Jugendlicher und Kinder als Joshua die „Oneday“ geschickt von einer Welle auf den Strand tragen lässt. Mit Stricken ziehen sie das Boot über Planken auf den Sand und fangen sofort damit an, die Fische aus den Netzen zu ziehen. Der Boden der „Oneday“ bedeckt sich langsam mit silbern glänzenden Makrelen und Sardinen, alle klein bis mittelgroß. Am Ende wird der Fang aufgeteilt. Es bildet sich eine Traube. Die Frauen der Fischer verkaufen viele Fische schon am Strand für einige Ghanaische Cedis, umgerechnet ein bis zwei Euro, und tragen den restlichen Fang in Bottichen ins Dorf.

Joshua, Ahene und James setzen sich in den Schatten der „Oneday“ und flicken mit langen Nadeln das Netz. Nach anderthalb Stunden verstauen sie es wieder im Boot. Es ist Nachmittag als Joshua den Außenborder abschraubt und nach Hause trägt. Er bewohnt mit seiner Frau und 13 Kindern ein kleines, bröckelndes Steinhaus. Vorne ist die Küche und der Essraum mit einigen Stühlen, hinten stehen die Betten eng beieinander. Ein Fernseher ist da, ein paar Hühner laufen umher, die Toilette ist im Hof. Es ist nicht schwierig zu erkennen, dass Joshua von der Hand in den Mund lebt.

Er könne sich keine andere Arbeit vorstellen, als zu fischen, sagt Joshua. Er besitzt weder Land, noch ist er besonders gebildet. Seit er zwölf Jahre alt ist, fischt er. Darauf ist er stolz. Es nützt ihm bloß wenig, wenn es nichts mehr zu fangen gibt. Als Joshuas Frau nach Hause kommt, bringt sie 37 Cedis mit, umgerechnet 15 Euro, und einige Fische für das Abendessen. „Manchmal bringt sie auch 100 Cedis mit“, sagt Joshua, „und manchmal gar nichts“. Von dem Geld muss Reis, Yams, Öl und Wasser gekauft werden. Und Treibstoff für den Außenborder. Es war ein schlechter Tag sagt Joshua. „Morgen fangen wir mehr.“