Von Niklas Franzen und Philipp Lichterbeck / Foto: N. Franzen
An einem Mai-Samstag entrollen 47 junge Männer vor São Paulos berühmtem Kunstmuseum MASP ein schwarzes Transparent. „Wir sind Demokratie!“, steht in weißen Lettern darauf, die Gruppe reckt die Fäuste, macht Fotos und geht wieder nachhause. Alle tragen Atemschutzmasken. Was niemand ahnt: Die winzige Demo ist der Beginn einer Protestbewegung gegen Brasilien rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro. Für viele ebenso überraschend: Es sind Fans von São Paulos Fußballverein Corinthians, die den Startschuss geben. „Wenn die Linke nichts macht“, sagt einer von ihnen zu Zeit-Online, „dann übernehmen wir das eben!“
Der Satz mag aus dem Mund eines Fußballfans vielleicht überraschend klingen. Tatsächlich aber gibt es eine Tradition des politischen Engagements brasilianischer Fanclubs, insbesondere bei den Ultras von Corinthians, den Gaviões da Fiel – die Sperber der Treue. Sie wurden 1969 im Widerstand zur Militärdiktatur gegründet und zählen heute mit 115.000 Mitgliedern zu den größten Fan-Organisationen Brasiliens, haben Ableger in Japan und unterhalten sogar eine Sambaschule. Einer ihrer Gründer ist Chico Malfitani. Der heute 70-Jährige sagt, dass es absurd sei, was in Brasilien passiere: „Unter Bolsonaro droht die Rückkehr zur Diktatur.“ Um zu erklären, wie Malfitani zu dieser drastischen Einschätzung kommt, muss man etwas weiter ausholen.
Seit März hat die Covid-19-Pandemie Brasilien fest im Griff. In fast allen Städten des Landes herrschen Quarantänemaßnahmen. Die meisten Brasilianer halten sich daran – nur viele Anhänger Jair Bolsonaros nicht, trotz 45.000 Toten und fast einer Millionen Infizierter. Viele von ihnen glauben, dass Covid-19 ein „Grippchen“ sei und dass alles übertrieben werde. So hat es der Präsident gesagt, der seine Anhänger nun auffordert, illegal in Krankenhäuser einzudringen und zu filmen, wie viele Betten dort unbelegt seien.
Zur Unterstützung ihres Idols demonstrieren die „Bolsonaristas“ – so heißen die Anhänger des Präsidenten – jeden Sonntag in Brasília und São Paulo, viele ohne Masken aber im gelben Trikot von Brasiliens Fußballnationalteam. Immer radikaler sind ihre Forderungen in den letzten Wochen geworden. Nach einer Schließung des Kongresses, zum Beispiel, oder einer Militärintervention.
Bolsonaro widerspricht dem nicht, sondern heizt die Stimmung weiter an. Er beschimpft politische Gegner als „Dreck“ und „Gülle“, brüllt Journalisten an („Halt’s Maul, sag ich, halt’s Maul!“); und er droht unverhohlen den demokratischen Institutionen, von denen er glaubt, dass sie ihn beim Regieren behinderten, weil sie von Linken unterwandert seien. „Es reicht, verdammte Scheiße!“, rief Bolsonaro vor einigen Tagen vor jubelnden Anhängern in Richtung von Brasiliens Verfassungsgericht.
Nicht wenige Brasilianer befürchten nun wie Fanclub-Gründer Malfitani einen Coup von oben; die Kommentatoren warnen vor einem neuen Autoritarismus. Bolsonaro könnte, so die Angst, unter einem Vorwand den Kongress mithilfe des Militärs dichtmachen. Es wäre nichts völlig Neues in Brasilien. Die Streitkräfte putschten schon einmal – 1964 war das und ihre brutale Herrschaft dauerte bis 1985. Bereut haben sie das nie und wegen einer Amnestie auch nie für ihre Verbrechen bezahlt.
Bolsonaro, der selbst Hauptmann der Reserve ist, macht aus seiner Bewunderung der Diktatur keinen Hehl. Sie habe lediglich einen Fehler gehabt, sagt er: „Es wurde nur gefoltert und nicht getötet.“ Doch das ist natürlich eine Lüge, denn die Militärs ermordeten Tausende Oppositionelle, Ureinwohner und Kleinbauern. Nun sitzen die Militärs wieder in der Regierung, weil Bolsonaro Dutzende Generäle und Offiziere zu Ministern und Behördenchefs gemacht hat, häufig ohne entsprechende Qualifikationen.
So angewidert viele Brasilianer vom Treiben Bolsonaros sind, so haben sie doch wochenlang machtlos zugesehen. Sie hielten sich wegen der Covid-19-Pandemie weitgehend an die Ausgehverbote der Lokalbehörden.
Ende Mai ist dann Schluss mit der Zurückhaltung, drei Wochen nach jener Demo der 47 vor dem Kunstmuseum, die der zarte Beginn war. Es ist Sonntag und über São Paulos Prachtmeile, die Avenida Paulista, kommt ein Pulk von mehr als 1000 zumeist schwarz gekleideten jungen Männern und einigen Frauen marschiert. Sie skandieren „De-Mo-Cracia!“ und zünden Pyrotechnik. Die allermeisten gehören wieder den Gaviões da Fiel von Corinthians an.
Es sind kraftvolle und energiegeladene Bilder, und sie verbreiten sich in Windeseile über die sozialen Netzwerke. Viele Brasilianer haben regelrecht auf diesen Moment hin gefiebert. Schnell wird bekannt, dass auch in 15 weiteren Städten antifaschistische Fußballfans gegen Bolsonaro auf der Straße sind. Die Nationale Vereinigung der Organisierten Fanclubs (Anatorg) gibt bekannt, dass man „gegen Ultra-Konservatismus, Rassismus und Faschismus“ demonstriere.
Endlich!, denken viele. Es steht jemand auf gegen diesen Präsidenten, der Brasilien in die Katastrophe führt: eine Gesundheitskatastrophe, eine ökologische Katastrophe, eine politische Katastrophe und auch eine gesellschaftliche Katastrophe, denn das Land ist tief gespalten in rechts und links.
„Wir gehen wegen der Corona-Pandemie ein hohes Risiko ein“, sagt einer der Corinthians-Fans an diesem Sonntag. „Aber die Zeit erfordert diese Antwort.“ Vor sich tragen die Ultras ein Transparent, auf dem das Bild des bis heute berühmtesten Corinthians-Spielers zu sehen ist: Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveira oder einfach nur Sócrates. Bis heute gilt der hochaufgeschossene Mittelfeldmann, der Brasiliens Nationalelf als Kapitän in die WM 1982 führte, als der Prototyp des politisch engagierten Fußballers.
Anfang der 1980er Jahre gründete der ausgebildete Arzt mit einer Handvoll Teamkollegen die „Democracia Corinthiana“. Sie setzten eine Spieler-Selbstverwaltung durch (über alles wurde abgestimmt, auch ob man trinken und rauchen dürfe), und sie übertrugen ihre Ideen auf die Gesellschaft. Ihre Trikots ließen sie beispielsweise mit Botschaften bedrucken, die gegen die Diktatur gerichtet waren, etwa der Aufforderung, wählen zu gehen. Einmal trugen sie ein Transparent über den Platz: „Gewinnen oder verlieren – aber immer mit Demokratie.“
„Natürlich ist Doktor Sócrates bis heute eine Inspiration für uns“, sagt Gaviões-Gründer Chico Malfitani über den 2011 verstorbenen Spieler, mit dem er befreundet war. „Er würde heute mit uns marschieren.“
Allerdings – und das ist überraschend – sind heute nicht nur Corinthians-Fans auf der Demo, sondern auch Anhänger der Lokalrivalen São Paulo FC und Santos. Und sogar einige Ultras von Mancha Verde (Grüner Fleck) des Clubs Palmeiras sind erschienen. Sie sind eigentlich mit den Gaviões da Fiel verfeindet, es gab Prügeleien und auch schon Schießereien.
Weil bei diesen Fan-Kämpfen in Brasilien nicht selten Menschen getötet werden, verbot die Stadt São Paulo 2016 Gästefans bei Lokalderbys. Ebenso muss man erwähnen, dass einige Fanclubs teils ins organisierte Verbrechen verwickelt sind, das in Brasilien allgegenwärtig ist.
Umso erstaunlicher ist es daher, dass nun Anhänger der vier großen Clubs von São Paulo gemeinsam demonstrieren, manche sprechen sogar von einem historischen Moment. „Die Farben sind jetzt egal“, sagt Wagner Rocha am Rande der Demo. Der 30-Jährige mit Schiebermütze und grünem Palmeiras-Trikot trinkt ein Dosenbier und gehört zu Mancha Verde. Er berichtet, dass man von den Gaviões da Fiel eingeladen worden sei. Klar, es gebe es immer noch die alte Rivalität, aber nun müsse man gemeinsam die Demokratie verteidigen.
Traurig ist Rocha darüber, dass viele Palmeiras-Fans rechts stünden. Ebenso wie der Verteidiger des Clubs, Felipe Melo, der sogar Wahlkampf für Bolsonaro machte. Der Präsident wiederum trägt gerne das grüne Trikot des Clubs. „Wenn ich das sehe, könnte ich kotzen“, sagt Rocha. Neidisch sei er deswegen auf die linke Tradition der Gaviões da Fiel.
Als Chico Malfitani diese 1969 gründete, bekam er schnell die Repression des Militärregimes zu spüren. Gegenüber Zeit-Online berichtet er, wie er damals verhaftet wurde, im Stadion von der Polizei verprügelt, und als Journalist zensiert. Doch den Zulauf zu seinem Fanclub bremste das nicht. Die Gaviões wurden damals auch zum Sprachrohr für die Arbeiter und Armen aus den Vorstädten São Paulos.
1979 wurden sie erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im Derby gegen Santos entrollten sie ein Transparent, das sie in einer Trommel versteckt ins Stadion geschmuggelt hatten. „Breite, allgemeine und uneingeschränkte Amnestie“, stand darauf. Es war die Aufforderung an die Diktatur, alle politischen Gefangenen freizulassen.
Nach der Re-Demokratisierung Brasiliens 1985 rückte das Politische bei den Gaviões da Fiel dann in den Hintergrund. Erst die Präsidentschaft des rechtsextremen Jair Bolsonaro hat ihre rebellische Seele wieder zu Leben erweckt. Auf der Demo stimmen die Fans einen Gesang an: „Oh, oh, oh, die Vorstadt unterstützt keinen Diktator.“ Dazu hüpfen sie und trommeln. Die meisten tragen den typischen Look des Stadtrands: Baseballkappen, verspiegelte Sonnenbrillen, schlecht gestochene Tattoos. Einer der Anführer ist Gaviões da Fiel ist Emerson Osasco. „Die größte Epidemie ist diese faschistische Regierung“, sagt er zu Zeit-Online.
Kurz darauf wird der 35-jährige Schwarze landesweit bekannt, als er sich mit erhobener Faust und einem Malcolm-X-Shirt ganz alleine einer Gruppe von Bolsonaristas entgegenstellt. „Brasilien hat genug vom Rassismus“, ruft er – und wird sofort umringt und beschimpft als „Hurensohn“ und „Scheißkerl“. Mittelfinger werden ihm ins Gesicht gestreckt.
Das Video der Szene verbreitet sich schnell und Osasco wird für seinen Mut gelobt. Allerdings hat die Aktion ein Nachspiel für ihn, und man kann daraus ermessen, wie es derzeit um Brasiliens Demokratie bestellt ist. Das Unternehmen, bei dem Osasco als Softwareentwickler arbeitet, entlässt ihn wenige Tage später. Die Firma äußert sich nicht zu den Gründen, aber Osasco sagt, dass sein politisches Engagement als Grund angeführt wurde.
Die Demo endet dann in Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Beamten feuern Tränengas und Schockgranaten auf die Fans. Als Antwort skandieren die Gaviões: „Hey, Bolsonaro, steck’s dir in den Arsch!“