Der Favela-Maler von Rio de Janeiro

Der Favela-Maler von Rio de Janeiro

Im ersten Moment dachte Jan Siebert, jemand hätte einen Kanonenschlag gezündet. Dann begriff er, dass eine Kugel neben ihm eingeschlagen war.

Im Laternenlicht erkannte er einen Trupp Polizisten um die Ecke lugen. Er sagt: „Sie hielten meinen Pinsel in der Dunkelheit für eine Waffe und schossen. Berufsrisiko.“

Jan Siebert ist Maler. Er lebt seit acht Jahren in Brasilien, die letzten drei in Vidigal, einer Favela in Rio de Janeiro, deren Häuser südlich des Luxusviertels Leblon einen Berghang hinauf wachsen. Wegen der zentralen Lage und der Aussicht aufs Meer wohnen heute viele Ausländer in Vidigal, es gibt Hostels, die Immobilienpreise sind teils ins Absurde gestiegen, es herrscht ein regelrechter Kampf um die besten Lagen.

Für Siebert ist das Panorama unwichtig. Er interessiert sich für die Eingeweide der Favela: ihre düsteren Gassen, steilen Treppen, räudigen Ecken und stinkenden Winkel. Wenn er einen Ort für sich entdeckt hat, kommt er nachts, baut seine Staffelei auf und malt mit Hilfe einer Taschenlampe. Vier bis sechs Stunden dauere eine Session, sagt Siebert, für ein Bild brauche er rund zehn Nächte. Trotz der traurigen Motive wehrt sich der gebürtige Hamburger dagegen, als „Maler der Armut“ oder gar „des Elends“ bezeichnet zu werden.


An einem gleißenden Mittwochmorgen steht der 41-jährige Siebert mit seiner brasilianischen Freundin auf dem Balkon seiner Wohnung inmitten der Tausenden wie übereinander gestapelten Favelahäuschen. Er trägt ein T-Shirt, Shorts und Flipflops, und macht ein leicht gequältes Gesicht. Denn obwohl es noch früh ist, hat ein Nachbar schon die Lautsprecher seiner Stereoanlage aufgedreht: Es schmachtet Roberto Carlos, der brasilianische Julio Iglesias. Doch der Blick von hier oben ist sensationell, geht auf das Viertel Ipanema mit seinem berühmten Strand und weit hinaus auf den Atlantik, über den ein Frachter in die Bucht von Guanabara einfährt, vorbei am Zuckerhut.

„Ich weiß nicht genau, warum mich eher die unromantischen Orte anziehen“, sagt Siebert zu seiner Motivauswahl. Man komme an eine Stelle, die man nicht kenne und erforsche sie. Es gehe um physische Fakten. Um Symmetrien und Formen. Um die Musik eines Ortes. Sieberts Bilder der Nacht sind nüchtern, genau, atmosphärisch und meist menschenlos. Auf einem ist eine verwinkelte Treppe zu sehen, die zwischen mehreren Häusern hinabführt. Die Steine schimmern bräunlich, die Fassaden der Häuser sind vergammelt. Das Gemälde zeigt den Ort, an dem die Polizisten auf Siebert feuerten. Er hat es „Schießerei“ genant. Seine Gemälde sind immer mehr als reine Bestandsaufnahmen. Die Leere in ihnen fragt, was hier vorher geschehen ist und was vielleicht noch passieren wird. Eine Liebesszene, ein Verbrechen, gar nichts?

Siebert bezeichnet sich als realistischen Maler. Er hat einen unbrasilianisch emotionslosen, man möchte fast sagen: deutschen Blick auf die Dinge. Es ist ein schöner Widerspruch. Da wohnt einer in Rio de Janeiro, einem Ort, dem wie keinem zweiten die Klischees anhaften – und alles, was er sucht und zeigt, sind Anti-Postkarten.

Nun wird Siebert diesen Herbst im Hamburger Levantehaus ausstellen, denn seine Käufer findet er größtenteils immer noch in Deutschland, darunter einige treue Sammler. Allerdings steige auch das Interesse in Brasilien langsam, sagt er – ausgerechnet an eine Frau aus Leblon, Rios Luxusviertel, hat Siebert zuletzt ein Gemälde verkauft. Es mag damit zusammenhängen, dass auch wohlhabendere Brasilianer begonnen haben, die Favelas, die sie lange Zeit als No-go-Areas betrachteten, in einem neuen Licht zu sehen? Der Sinneswandel hat viel mit der Befriedungspolizei UPP zu tun, die seit 2008 in die Viertel entsandt wird, um die Macht der Drogengangs zu brechen. Mit umstrittenem Ergebnis. „Vidigal ist mit der UPP nicht unbedingt sicherer geworden“, sagt Siebert, „die Polizisten, die auf ihn schossen, gehörten zur Befriedungseinheit.“ Der Maler hat den Fall zur Anzeige gebracht, aber bis heute keine Antwort erhalten. Dabei ist es nicht die erste brenzlige Situation, die er während seiner mehr als 15-jährigen Karriere in Lateinamerika erlebt hat.

Weil es ihm zu technisch erschien, brach Siebert mit Mitte zwanzig sein Studium an der Hamburger Fachhochschule für Gestaltung ab und ging nach Mexiko-Stadt, schrieb sich dort an der Kunstakademie ein. Dann zog er in den Küstenort Veracruz und begann mit dem Studium nächtlicher Szenen an vermeintlichen Nicht-Orten: Parkplätze, verlassene Straßen, Eisenbahndepots. „Es war schon damals spannend, zu sehen, wie die Ölfarben, die ich im Licht von schummrigen Laternen gemischt hatte, unter der Sonne aussehen würden“, sagt er. Mittlerweile hat er seine Methoden perfektioniert, bildet das Spiel von künstlichem Licht, Schatten und Halbschatten ebenso komplex ab wie die nächtlichen Fehlfarben.

2003 zog Siebert nach Brasilien, zunächst in den pittoresken Kolonialort Paraty, wo „mir bald die Idylle auf den Kopf fiel“, wie er sagt. Er ging in die Millionenstadt São Paulo, malte nachts Betonunterführungen und düstere Plätze, an denen Junkies und andere Ausgestoßene hausten, „der Gestank nach Pisse und Exkrementen war während des Arbeitens fast unerträglich“, erinnert er sich. Dann entdeckte Siebert Brasiliens größte Hafenstadt: Santos. Nachts gesellte er sich im alten, morschen Zentrum zu den Prostituierten, die schnell Vertrauen zu dem Deutschen fassten – „ich war für sie harmlos, kurios, vielleicht etwas komisch“. Zunächst standen die Frauen auf der Straße für Siebert Modell, später nahmen sie ihn ins Bordell mit, wo er sie porträtierte. Die konzentrierten szenischen Gemälde aus Santos gehören zu Sieberts stärksten Arbeiten – und erinnern an Edward Hopper. Da ist die gleiche urbane Melancholie, die gleiche Einsamkeit. Auf einem Bild zeigt Siebert drei Mädchen in Miniröcken, die neben drei Hauseingängen warten. Menschen, die verloren gegangen zu sein scheinen. Siebert sagt: „Das Nachtleben ist das wirklichste, weil dort die Sehnsüchte und Ängste der Menschen zum Vorschein kommen.“

Schon in Santos malte Siebert auch in einer Favela, bildete eine „Boca de Fumo“, eine Drogenverkaufsstelle samt bewaffneter jugendlicher Dealer ab. „Es entstand eine heikle Allianz“, sagt er. „Wenn die Polizei anrückte, floh ich mit den Jungs und fand mich in irgendwelchen Verstecken wieder.“ Unterdessen sorgten die Dealer dafür, dass seine Staffelei verschwand – und wenn die Razzia vorüber war wieder an Ort und Stelle stand. „Es war gefährlich“, erinnert sich Siebert, „mitgefangen, mitgehangen“.

Wir steigen über steile Treppen die Favela hinauf, wollen an einen Ort, an dem Siebert nach Sonnenuntergang malen möchte. Unterwegs wird er von Schwangeren, Betrunkenen, Arbeitern und Hausfrauen gegrüßt, von Kindern aufgehalten, die unbedingt eins seiner Bilder sehen wollen. Siebert kam 2009 nach Rio, von einem schillernden Eventmanager angelockt, doch aus der versprochenen großen Ausstellung wurde nie etwas. Siebert blieb trotzdem, zog nach Vidigal verliebte sich und setzte das Malen im Dunkeln fort. „Die Nacht beruhigt mich“, erklärt er seine Arbeitszeiten. „Und wenn plötzlich Licht aus einem Türspalt auf die Straße fällt, frage ich mich, was passiert dahinter. Ich zeige es aber nicht, ich stelle bloß die Frage. Es geht um das, was man an einem Ort empfindet, um innere Wahrheiten.“ So ist Siebert zum Chronisten des Unscheinbaren und scheinbar Hässlichen inmitten eines der spektakulärsten und schönsten Orte der Welt geworden.