Im Juni verschwanden der britische Journalist Dom Phillips und der brasilianische Forscher Bruno Pereira in einer der abgelegensten Regionen Brasiliens. Sie wurden ermordet, es war ein Verbrechen mit Ankündigung. Eine Geschichte über die Umweltmafia in Amazonien, die letzten isolierten Völker der Welt und einen bedrohten Fisch.
Ein gelbes Absperrband flattert am Ufer des Rio Itaquaí. «Bundespolizei – Nicht betreten», steht in Portugiesisch darauf. Die Aufforderung wirkt seltsam hier, mitten im Dschungel. Der Wald brütet in der Mittagshitze, nur das Krächzen einiger Papageien und das Summen der Insekten ist zu hören. Warm und braun mäandert der Itaquaí vor sich hin, das nächste Städtchen liegt zwei Bootsstunden flussabwärts, es heißt Atalaia do Norte. Auf dem Weg dorthin kommt man an drei winzigen Fischergemeinden vorbei, Straßen gibt es keine. Brasilien grenzt hier an Peru und Kolumbien, die Region ist eine der abgelegensten Ecken Südamerikas.
Hinter dem Absperrband ist die Ufervegetation leicht aufgebrochen, Büsche wurden zur Seite gebogen, Äste geknickt. Es ist die Stelle, an der vor drei Monaten ein Verbrechen geschah, das um die Welt ging. Zwei Männer verschwanden, sie wurden erschossen, wie man heute weiß, ihre Körper verbrannt, zerstückelt und tief im Dschungel vergraben.
Das Boot der beiden raste hier am Morgen des 5. Juni ins Ufer. Der Mann am Steuer hatte, von einer Kugel in den Rücken getroffen, die Kontrolle verloren. Zwei Angreifer waren von hinten gekommen und wegen des Motorenlärms wohl unbemerkt geblieben. Nun näherten sie sich dem havarierten Boot ihrer Opfer. Darin: der verletzte Steuermann, groß, kräftig, mit Bauch und dunklem Vollbart; und ein schlanker Ausländer mit blauen Augen und ergrauten Haaren, zu Tode erschrocken und mit erhobenen Armen. So haben es später die Mörder ausgesagt. Und dass sie auf diesen Moment gewartet hätten. Zwar hätten sie nicht gewusst, wer der Mann mit den blauen Augen gewesen sei. Aber es war ihnen egal. Der Große sollte sterben, weil er ihre Geschäfte störte. Der Blauäugige hatte Pech.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Doppelmord nie aufgeklärt worden wäre, wenn der Mann mit den blauen Augen nicht der englische Journalist Dominic Marc Phillips gewesen wäre. Er lebte seit 2007 in Brasilien und galt als einer der erfahrensten Korrespondenten im Land, hatte etwa für die «Washington Post», die britische «The Times» und zuletzt für «The Guardian» gearbeitet.
Die besondere Leidenschaft des 57-Jährigen galt dem Amazonas, der mit zunehmendem Tempo zerstört wird, seit Jair Bolsonaro Brasiliens Präsident ist. Seine Regierung hat den Umwelt- und Indigenenschutz zurückgefahren und die Umweltsünder immer wieder ermutigt. Wie folgerichtig wurden seit Bolsonaros Amtsantritt 2019 neue Rekordflächen an Wald vernichtet. Es geht um Holz sowie Land für Rinderweiden, Sojafelder, Minen und die Spekulation.
Dom Phillips traf einmal auf Bolsonaro. Bei einem Pressefrühstück 2019 fragte er den Präsident nach der Abholzung. Verärgert antwortete Bolsonaro: «Als erstes musst du begreifen, dass Amazonien Brasilien gehört und nicht euch.»
Zuletzt reiste Phillips häufig in den Amazonas, um für ein Buch über Strategien zum Schutz des Waldes zu recherchieren. Aber von alldem wussten seine Mörder nichts. Es war in gewisser Weise ihr Pech.
Es war der internationale Druck nach Phillips’ Verschwinden, der zum schnellen Handeln des brasilianischen Staats führte. Er schickte die Armee, die Marine und die Bundespolizei in die Gemeindehauptstadt Atalia do Norte. Dass ohne Phillips niemals ein solcher Aufwand betrieben und die Tat bis heute nicht aufgeklärt worden wäre, ist eine Einschätzung, die man hier häufig hört.
Phillips war an jenem Morgen mit Bruno Pereira unterwegs, einem Anthropologen, der für Brasiliens Indioschutzbehörde Funai arbeitete. Der 41-Jährige galt als Experte für die letzten isoliert lebenden Ureinwohner Brasiliens und wurde 2018 zum Chefkoordinator für diese Gruppen ernannt.
Aber nur ein Jahr später strafversetzte ihn die Bolsonaro-Regierung. Er hatte eine erfolgreiche Aktion gegen illegale Goldsucher in Vale do Javari geleitet, dem zweitgrößten Indigenenreservat Brasiliens, das nicht weit von hier liegt. Das passte Bolsonaro nicht, der häufig klargemacht hat, dass er die Funai für überflüssig hält. Er hat ihr drastisch die Kompetenzen gestrichen und Schlüsselpositionen mit fachfremden Militärs besetzt. Im Feld wurde hingegen Personal abgebaut.
Bruno Pereira zog die Konsequenzen. Er bat um seine Beurlaubung und begann auf eigene Faust, den Ureinwohnern im Reservat Vale do Javari zu helfen. So geriet er ins Visier krimineller Eindringlinge, zumal er jetzt nicht mehr die Uniform einer Bundesbehörde trug.
Pereria und Philipps verbrachten ihre letzten Tage in einem Holzhaus am Rio Itaquaí. In der Regenzeit könnte man direkt dort anlegen, aber da Trockenzeit ist, liegt der Flusspegel rund 20 Meter darunter und man muss das Ufer hinaufkraxeln. Ein alter Fischer ohne Zähne lebt hier, João Kokuna, Spitzname Peruano. Seine einzigen Begleiter sind ein paar Hunde, elektrisches Licht hat der 67-Jährige nicht.
Pereira und Phillips seien an einem Donnerstag gekommen, erinnert er sich. Auch einige Indigene seien da gewesen, die Phillips interviewte. Sie gehörten zur Waldpatrouille, der Evu, die die Indigenen in Vale do Javari aufgestellt haben, um Invasoren aufzuspüren. Zum Abendessen hätten sie ein Faultier zubereitet, Pereira habe probiert, Phillips abgelehnt.
Kokunas Haus liegt an einem strategisch wichtigen Punkt. Nur wenige Minuten den Rio Itaquaí hinauf liegt die Grenze zum Reservat Vale do Javari. Es ist so groß wie Portugal wird aber nur von rund 6500 Indigenen bewohnt, die zu sieben Völkern gehören. Was das Vale do Javari einzigartig macht: Nirgends auf der Welt leben mehr Gruppen isolierter Ureinwohner. Sie sind Nomaden, jagen mit Pfeil und Bogen, weswegen sie auch Flecheiros genannt werden, Pfeilmenschen. 19 verschiedene Gruppen wurden bereits gesichtet, zumeist von anderen Indigenen.
Vale do Javari, das von Hunderten Flüssen durchzogen wird, gilt als eins der ursprünglichsten Waldgebiete der Welt. Und als eins der am schwierigst zu schützenden. Indigene Führer, die man in Atalaia do Norte trifft, berichten von Goldsucher, die bis ins Zentrum des Reservats vorgedrungen seien; von Viehzüchtern, Jägern und Fischern im nördlichen Bereich; sowie von Holzfällern und der Drogenmafia, die von Peru aus kämen. Von dort rückten zudem Ölfirmen heran.
Der brasilianische Staat schaut machtlos zu. Die Umweltpolizei Ibama schloss 2018 ihren regionalen Stützpunkt, und das Militär kann die lange Grenze zu Peru kaum effektiv überwachen. Weder die Militärpolizei noch die Kriminalpolizei in Atalaia do Norte haben überhaupt ein Boot. Die einzige Behörde, die im Reservat präsent ist, ist die Funai. Aber gerade sie ist extrem geschwächt. Es fehle unter Bolsonaro an Manpower, Benzin und Booten, sagt ein Funai-Funktionär in Atalaia do Norte, der erst nach Zögern einem Gespräch zustimmt und anonym bleiben möchte.
Der Hauptzugang nach Vale do Javari liegt am Rio Itaquaí, wenige Kilometer von João Kokunas Haus entfernt. Dort gibt es eine Funai-Station mit Wachturm und Suchscheinwerfer. Aber es ist nicht schwierig, sie zu umfahren. Bei Kokunas Haus öffnet sich bei hohem Wasserstand ein Kanal zu einem See, über den man ins Reservat gelangt. Illegale Fischer kennen den Zugang – weswegen Bruno Perreria hier einen Posten der indigenen Waldwacht Evu errichten wollte.
«Das machte Bruno bei den Fischern noch verhasster», sagt der Kriminalkommissar Alex Perez auf der kleinen Polizeiwache in Atalaia do Norte, vor der die Boote von Pereira und seines Mörder liegen. Perez, ein fülliger Mann mit Bart und Brille, untersuchte als erster den Mordfall, er sitzt in einem winzigen Büro voller Aktenordner.
«Die Fischer haben es auf den Pirarucu abgesehen», erklärt Perez. Der Fisch kann länger als drei Meter werden und einige Hundert Kilo auf die Waage bringen. Sein festes Fleisch ist im gesamten Amazonasraum beliebt, was zu Überfischung und Fangverboten geführt hat. «Daher sind die Preise hoch», sagt Kommissar Perez, «es gibt Schmuggel und illegalen Verkauf». Wo der Pirarucu noch in großer Anzahl lebt? In Vale do Javari.
«Tonnenweise haben die Räuber den Pirarucu aus unseren Gewässern geholt», sagt ein junger Indigener vom Volk der Kulina im Sitz der Indigenenvereinigung Univaja in Atalaia do Norte. Er trägt Jeans, Turnschuhe und einen Kopfschmuck aus Ara-Federn. Wie alle der rund ein Dutzend Indigenen bittet er, dass sein Name nicht veröffentlicht wird. «Wir haben Angst», sagt er. «Die Morde haben gezeigt, wozu die die Eindringlinge fähig ist.»
Nach seinem Ausscheiden aus der Funai zeigte Bruno Pereira der Waldwacht in Vale do Javari, wie man eine Drohne fliegt, wie GPS-Ortung funktioniert, wie man Fotos macht, um Beweise zu sammeln. Der junge Kulina war einmal mit Pereira auf Patrouille. «Wir fanden die Köpfe vieler Pirarucus in einem See. Der Unterschied zwischen uns und den Weißen: Wir sehen 20 Wildschweine und töten zwei. Die Weißen töten 20.»
Früher meldeten die Indigenen solche Vorkommnisse bei der Funai-Station. Im Jahr 2019 arbeitete dort ein Mann namens Maxciel dos Santos. Sein Team beschlagnahmte große Ladungen Pirarucu, aber auch Tausende Flussschildkröten sowie Tapir-, Affen- und Wildschweinfleisch. Der Schaden für die Eindringlinge war enorm.
Dann wurde der 35-jährige dos Santos im September 2019 mit zwei Schüssen in den Kopf getötet. Der Mord geschah vor den Augen seiner Frau und seiner Tochter auf der Hauptstraße von Tabatinga, der größten Stadt der Region und Grenzort zu Kolumbien. Er ist bis heute nicht aufgeklärt. «Wir glauben, dass es die gleiche Gruppe war, die Pereira und Phillips tötete», sagt Kommissar Perez.
Es gab 2019 noch mehr Warnsignale. Etwas begann sich zu ändern. Die Funai-Station am Rio Itaquí wurde acht mal von Unbekannten beschossen, ohne dass man die Täter fand. Vier Nationalgardisten wurden deswegen dort stationiert.
Als man die Funai-Station erreicht, wird man von einer Wache aufgefordert, nicht an Land zu kommen. Zum Schutz der isolierten Völker herrsche immer noch ein strenges Corona-Protokoll, die Weiterfahrt sei sowieso untersagt. Man wartet, aber der Chef der Station, der ein Gespräch versprochen hatte, erscheint nicht am Ufer. Er habe Persönliches zu erledigen, lässt er ausrichten.
Die Station besteht aus mehreren Holzhäusern auf Stelzen, auch eine Krankenstation für Indigene gibt es, im Reservat grassiert die Malaria aber auch Hepatitis ist verbreitet. In einem Hangar entdeckt man zwei kleine Boote, sie haben einen 15-PS- und einen 40-PS-Außenborder. Wie man damit das riesige Reservat schützen will, bleibt ein Rätsel.
Als man wieder fahren will, wird man gebeten einen Anthropologen mit nach Atalaia zu nehmen. Es stellt sich heraus, dass der bärtige Mann der Nachfolger von Bruno Pereira ist, er hat gerade 60 Tage im Dschungel verbracht und die Bewegungen der Korubo verfolgt, ein semi-isoliertes Volks. Er wirkt erschöpft und ausgelaugt. In den Medien möchte er auf keinen Fall genannt werden, sagt er. Er habe Angst, in der Region als Funai-Funktionär erkannt zu werden.
Bruno Pereira hatte diese Angst nicht, er galt als furchtlos und ungestüm. «Er hatte das Herz eines Löwen», sagt ein Ex-Kollege über ihn. Gemeinsam mit der Indigenenwacht Evu stoppte Pereira illegale Fischer im Reservat, die mit tonnenweise Pirarucu unterwegs waren. Er setzte die Arbeit des ermordeten Maxciel dos Santos fort, den Kriminellen entgingen dadurch enorme Summen.
Wie aber finanzieren die Fischer ihre tagelangen Raubfahrten ins Reservat? «Sie leihen sich Geld bei den Drogenhändlern, die im Grenzdreieck agieren», erklärt der Funai-Mann in Atalaia do Norte. «Eine solche Fahrt ist teuer», sagt er. «Die Fischer brauchen Benzin, Waffen, Verpflegung, Werkzeuge, Kühltruhen, die sie mit Eis füllen, Salz zum Pökeln.» Eine Fahrt könne bis zu 30.000 Reais kosten, circa 6.000 Euro. Für die Drogenmafia habe der Deal einen Vorteil: «Sie waschen ihr schmutziges Geld.»
Im Sitz der Univaja zeigen die Indigenen später einen Drohbrief gegen Bruno Pereira und den Univaja-Koordinator Beto Marubo, der heute zur Sicherheit in Brasília lebt. «Ich weiß, dass es Beto und Bruno sind, die den Indios sagen, sie sollen uns die Motoren und die Fische abnehmen», heißt es darin. «Wenn es so weitergeht, wird es nur noch schlimmer für euch. Ihr seid gewarnt.»
Es gab einen besonders dreisten Fischer am Rio Itaquaí. Er heißt Amarildo Oliveira, Spitzname Pelado, der Nackte.
Der 41-Jährige machte in den letzten Jahren wenig Hehl aus seinen illegalen Aktivitäten. Er lebte mit seiner Familie in São Gabriel, einem Weiler rund 30 Minuten von Vale do Javari entfernt. Als Bruno Pereira dort vergangenen Januar vorbeifuhr, flog auf einmal eine Gewehrkugel über sein Boot. Am Ufer habe Pelado mit einer Waffe gesessen, erzählt ein Indigener, der dabei war. Aber Pereira habe gesagt, «der soll ruhig nochmal schießen».
Pereira hatte eine Pistole, .380er Kaliber, 18 Schuss. Im Mai kaufte er sich zusätzlich eine Schrotflinte in Manaus. «Neues Spielzeug», schrieb er einem Freund. «Pereira war ein Draufgänger», sagt Kommissar Perez, «er übernahm die Aufgabe eines Sheriffs im Reservat.» Er habe erledigt, was eigentlich Funai und Bundespolizei machen sollten. So habe er sich mit mächtigen Interessen angelegt.
Im Leben des Fischers Pelado, einem kleinen sehnigen Mann, vollzog sich in den letzten Jahren eine wundersame Wandlung. So erzählen es die Indigenen in Atalaia. Früher habe Pelado ein Boot mit sogenanntem Pec Pec gehabt, dem im Amazonas verbreiteten, billigen und knatternden Motor mit langer Antriebswelle. Dann sei er plötzlich mit einem teuren 60-PS-Yamaha unterwegs gewesen. Wer eine so große Anschaffung mache, kooperiere mit der Drogenmafia, sagen sie.
Die Nacht auf Sonntag verbrachten Pereira und Phillips in ihren Hängematten im Haus von João Kokuna. In der Früh fuhr plötzlich Pelado mit zwei Männern auf dem Fluss in Richtung Reservat. Die Patrouille der Evu nahm die Verfolgung auf. Als sie Pelado stoppte, hätten er und ein Begleiter Schrotflinten hochgehalten, erzählen die Indigenen. Dann habe Pelado den Motor abgestellt und sein Boot langsam den Fluss zurücktreiben lassen. Als er am Haus von João Kokuna vorbeikam, machte Phillips Fotos von ihm. «Guten Morgen», habe Pelado vom Fluss aus gerufen.
Aufgrund der angespannten Situation drängte die Indigenenpatrouille darauf, dass am nächsten Morgen zwei ihrer Männer Pereira und Phillips zurück nach Atalaia do Norte begleiten sollten. Pereira stimmte zu, entschied sich jedoch in letzter Minute um. Niemand erwartete, dass sie so früh aufbrechen würden, sagte er.
Gegen 6 Uhr machten Bruno Pereira und Dom Phillips sich auf den Weg. Pereira wollte noch in der ersten Fischergemeinde halten, São Rafael. Er hatte dort ein Gespräch mit einem Fischer über ein Programm zur nachhaltigen Fischerei vereinbart. Aber der Mann war schon zum Fischen aufgebrochen. Es ist der letzte Ort, in dem Pereira und Phillips lebend gesehen wurden.
Es ist Sonntag und die Fischer in São Rafael flicken Netze, säubern ihre Pec Pecs und spielen Domino. Einer von ihnen, der 54-jährige Moreno, sagt, dass er sehr zufrieden mit dem Programm zur nachhaltigen Fischerei sei. In einigen Seen dürfe er fischen, andere seien gesperrt, dort reproduzierten sich die Fische. Vor einigen Monaten habe ein Sportfischer-Event stattgefunden, erzählt er. Fischer aus aller Welt seien gekommen. «Wenn ich 100 Kilo Pirarucu fange, bringt mir das rund 400 Reais ein», sagt er, umgerechnet 76 Franken, «aber für einen Tag mit den Sportfischern gab es schon 200 Reais.»
Die Fischer in São Rafael erinnern sich an Bruno Pereira, sind aber wortkarg. Die Polizei hat sie zu oft befragt. Aber sie haben eine klare Meinung zum Indigenenreservat Vale do Javari: Es sei zu groß, sagen sie. «Wozu brauchen die Indios so viel Platz?», fragt Moreno. «Wir haben nur ein Stückchen vom Fluss und ein paar Seen.» Er sagt einen Satz, den man oft im ländlichen Brasilien hört: «Viel Land für wenig Indios.»
Es gibt heute in Brasilien mehr als 700 Indigenenreservate in unterschiedlichen Stadien der Anerkennung – der Prozess dauert lange und ist kompliziert. Sie machen fast 14 Prozent der Landesfläche aus. Rund eine Million Brasilianer erklärte sich beim letzten Zensus 2010 für indigen, rund 0,5 Prozent der Bevölkerung. Sie gehören zu 305 verschiedenen Ethnien.
Man könnte also tatsächlich fragen, warum weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung über 14 Prozent der Landesfläche verfügt. Doch Fakt ist, dass die Natur nirgends intakter ist, nirgends das Wasser sauberer und die biologische Vielfalt größer. In den Indigenenreservaten wurden in den letzten 35 Jahren nur 1,6 Prozent der Waldfläche zerstört, während es in manchen Amazonas-Bundesstaaten zwischen 20 und 30 Prozent waren. Die Indigenen schützen einen der wertvollsten Schätze der Welt.
Doch ihre zurückhaltende Lebensweise kollidiert mit den Bedürfnissen der Mehrheitsgesellschaft. Zwischen 1972 und 2020 wuchs die Bevölkerung der brasilianischen Amazonasregion von acht Millionen auf fast 30 Millionen Menschen. Zunächst kamen vor allem verarmte Weiße aus Südbrasilien, denen die Militärdiktatur versprach: «Land ohne Menschen für Menschen ohne Land.» Später zog es Leute aus dem trockenen Nordosten nach Amazonien.
In Atalaia de Norte war es etwas anders. Viele Fischer und Kleinbäuer der Region sind Nachkommen der sogenannten Kautschuksoldaten, die während des zweiten Gummibooms in den 1940er Jahren in den Dschungel kamen. Als 2001 Vale do Javari zum Indigenenreservat erklärt wurde, mussten sie das Gebiet verlassen, erhielten aber eine Entschädigung. Sie siedelten sich rund um das Reservat an, aber viele akzeptierten die neuen Grenzen nicht.
Als Bruno Pereira und Dom Phillips an jenem Sonntagmorgen an der Fischergemeinde São Gabriel vorbeifuhren, muss Pelado, dies mitbekommen haben. Er bestieg mit einem zweiten Mann ein Boot und fuhr ihnen nach. Pereira und Phillips schauten nach vorne und merkten nicht, dass sie verfolgt wurden. Pelado war ein erfahrener Jäger und schoss Pereira mit seiner Flinte in den Rücken. Pereira soll laut Aussage von Pelado noch nach seiner Pistole gegriffen haben, konnte aber nicht mehr gezielt schießen. Seine Waffe wurde nie gefunden. Pelado und sein Kompagnon näherten sich dem havarierten Boot und schossen Pereira erneut in den Oberkörper und einmal ins Gesicht, so ergab es die forensische Analyse. Dom Phillips töteten sie mit einem Schuss in den Bauch.
Die Mörder versteckten die Leichen im Unterholz und versenkten Pereiras Boot. Dann fuhren sie heim und legten sich in ihre Hängematten. Am nächsten Abend kamen sie mit zwei Brüdern und zwei Neffen Pelados wieder. Sie brachten die Körper in den Dschungel, übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an. Dann trennten sie die Beine, Arme und Köpfe der Leichen mit Macheten ab und vergruben sie.
Aber es gab einen Zeugen, der Pelado am Tatort gesehen hatte. Nach einer Hausdurchsuchung wurde Pelado festgenommen, weil verbotene Munition bei ihm gefunden wurde. Nach einigen Tagen im Gefängnis und vermutlicher Folter durch Militärpolizisten gestand er und führte die Ermittler zu den Leichen. «Niemand hätte den Ort im Dschungel jemals gefunden», sagt Kommissar Alex Perez. Er charakterisiert den Doppelmord als Resultat der jahrelangen Fehde zwischen Pereira und Pelados Gruppe.
In São Gabriel, Pelados Heimatdorf, ist niemand anzutreffen. Alle Holzhäuser sind verrammelt, kein Mensch ist zu sehen, einzig ein Hund döst im Schatten. Offenbar wollen die verbliebenen Bewohner nicht mehr über das Geschehene sprechen. Die Mörder und ihre Helfer sitzen heute im Gefängnis in Manaus. Aber es wurde noch ein weiterer Mann festgenommen. Ein Peruaner namens Ruben Villar, Spitzname Colômbia. Er lebte in der Kleinstadt Benjamin Constant an der Grenze zu Peru, eine Stunde von Atalaia entfernt.
«Colômbia war der Hauptabnehmer von Pirarucu und Jagdfleisch in der Region», sagt Kommissar Perez. Als Basis diente ihm eine schwimmende Plattform auf dem Grenzfluss zu Peru. Von dort soll er Restaurants und Geschäfte bis nach Manaus beliefert haben. Die Polizei verdächtigt ihn außerdem, der Mittelsmann zwischen der Drogenmafia und den Fischern gewesen zu sein. Bei einer Hausdurchsuchung fand sie gefälschte Ausweisdokumente. Ob aber der Auftrag zur Ermordung Bruno Pereiras von Côlombia kam, oder ob Pelado auf eigene Faust handelte, ist eine bislang offene Frage.
Zwischen 2015 und 2020 wurden in Lateinamerika rund 1100 Umweltschützer umgebracht. So haben es die Vereinten Nationen ermittelt. 194 davon wurden in Brasilien getötet, zweidrittel davon im Amazonas. Rund die Hälfte der Opfer waren Ureinwohner. Nur ein Bruchteil der Morde wurde je aufgeklärt.
Zum Abschied hatte Dom Phillips seiner brasilianischen Frau eine Nachricht geschickt: «Ich glaube, ich habe erst wieder am Sonntag ein Handysignal.» Sie antwortete: «Ich liebe dich. Sei vorsichtig.»
Am 3. September dieses Jahres töteten Unbekannte den Indigenen Janildo Guajajara mit Schüssen in den Rücken. Er gehörte zu einer Waldwacht im Reservat Arariboia im brasilianischen Bundesstaat Maranhão. Es war der sechste Mord an einem ihrer Mitglieder in den letzten Jahren. Einen Tag später wurde der 14-Jährige Gustavo da Silva vom Volk der Pataxó im Bundesstaat Bahia von Unbekannten erschossen. Das Verbrechen geschah in einer Region, die von Pataxó und Weißen beansprucht wird. Die Taten sorgten in Brasilien kaum für Aufsehen.