Unten im Ort nennen sie ihn „Gaudí auf Crack“. Das ist liebevoll gemeint, aber natürlich Quatsch, denn Rolf Schulz ist doch der „Mundo King“, der Welterlöser, der angetreten ist, die Menschheit zu retten.
Es müsste nur mal jemand auf Rolf Schulz hören, der prophezeit, dass die Himmelskönigin bald die Sonne vernichten wird. „Die Menschen haben zu viel Mist gebaut“, sagt Schulz, geboren vor 70 Jahren in Thorn an der Weichsel, aufgewachsen in Hamburg und 1990 in die Dominikanische Republik ausgewandert. Dort hat er auf einem Hügel am Rande des Städtchens Sosúa ein futuristisches Märchenschloss errichtet, das obendrein noch eine ziemlich verrückte Sammlung haitianischer Kunst beherbergt. Das Gebäude steht jedem offen. Nur auf Schulz, den Hausherrn, muss man vorbereitet sein.
Der Küstenort Sosúa ist bekannt für die vielen Deutschen, die sich hier niedergelassen haben. Sie schätzen das Klima, zwei schöne Strände, die niedrigen Preise und den entspannten karibischen Rhythmus, es gibt eine deutsche Bäckerei und eine Metzgerei. Sosúa ist aber auch berüchtigt für sein enthemmtes Nachtleben in den Bars an der Calle Clisante. Und es ist berühmt für die deutschen Juden, die 1938 hierherflohen und eine in der Karibik einzigartige Milchwirtschaft aufbauten. Nun ist Rolf Schulz da.
Dass der Schulz ein Spinner sei, hatten sie in der deutschen Bar an der Clisante noch gerufen, „und zwar ein genialer“. Daran erinnert man sich, als man zu ihm fährt und am Ende einer asphaltierten Straße plötzlich kalkweiße Säulen steil gen Himmel streben sieht. Obenauf leuchten raketenförmige Gebilde in der Nachmittagssonne. Rund um den Bau erkennt man Bögen, Balkons und Terrassen und, wie bei einer mittelalterlichen Kathedrale, rätselhafte Ornamente und Symbole. Es ist ein surrealer und zugleich erhabener Anblick. Sofort kommt einem Antoni Gaudí in den Sinn, der verspielte Modernist aus Barcelona. Oder Ludwig II. mit seinen Märchenschlössern. Der Ornamentalist Friedensreich Hundertwasser oder der sinnliche Monumentalist Oscar Niemeyer, Erbauer Brasílias. Aber kein Vergleich trifft es ganz.
Über der Haustür prangt in großen Lettern „Castillo Mundo King“. Darunter lehnt Rolf Schulz im Rahmen und sagt: „Moin Leute, kommt rein.“ Er trägt Sandalen, Jeans und ein Polohemd. Sein graues Haar hat er nach hinten gekämmt. Unter einer hohen Stirn schauen kleine braune Augen forschend hervor. In der Rechten knetet Schulz einen Zigarettenstummel. Als er lächelt, fällt auf, dass ihm einige Zähne fehlen. „Lasst uns die Raumschiffe anschauen“, schlägt er vor.
Schulz führt durch einen dunklen, verwinkelten Flur, dann tritt er an der Rückseite seines Hauses wieder ins Freie. Unter einem Vordach hat Schulz die Modelle dreier Raumschiffe geparkt, fünf Meter hoch, aus Blechplatten zusammengeschweißt. Sie sehen aus wie riesige silberne Kreisel mit Insektenbeinen. „Mit diesen Fahrzeugen kann sich die Menschheit aus dem Sonnensystem retten, wenn die Außerirdischen zuschlagen“, sagt Schulz im gemütlichsten Norddeutsch. Dann erklärt er den Atombombenantrieb seiner Raumschiffe, „per Doppelzündung“. Und er flüstert, dass die Aliens neulich versucht hätten, ihm die Baupläne zu stehlen. Schulz meint das toternst. Man kann wohl sagen, dass er die Wirklichkeit etwas anders wahrnimmt als die meisten seiner Mitmenschen.
Rolf Schulz’ umtriebiges Leben begann im Geburtsort des großen Astronomen Kopernikus, worauf der Märchenschlossherr natürlich sehr stolz ist. Nach dem Studium gründete er mit 29 Jahren ein Ingenieurbüro in Hamburg, er baute Brücken und U-Bahnhöfe. Später handelte er mit Immobilien und vermietete lukrativ diverse Objekte, etwa Proberäume an das Hamburger Schauspielhaus. Zu Geld gekommen, widmete sich Schulz in den Achtzigern dann seiner eigentlichen Leidenschaft: „Mit utopischen Kunstprojekten verabschiedete ich mich von der bürgerlichen Welt.“ Schulz stellte Gemälde in Hamburger Galerien aus und führte im Sachsenwald das Hörspiel „Klangfeuer“ auf. Er schrieb ein Theaterstück und schleifte 1989 als „Phantasmuskünstler“ den Stamm eines Tropenbaums vor das Brandenburger Tor. Doch richtig erfolgreich war er nicht mit seiner Kunst, und so zog er in die Karibik, schloss dort ein weiteres Immobiliengeschäft gewinnbringend ab und begann, an seinem Haus zu bauen.
Und Kunst zu sammeln. Schulz bittet zurück in den Bau. Durch einen leeren Raum gelangt man auf eine zweite, mit Marmor geflieste Terrasse. Und was man hier erblickt, ist nun wirklich ein Hammer! Mehr als drei Dutzend haitianische Stein- und Holzskulpturen, ein flirrendes Ensemble, man weiß gar nicht wohin mit den Augen. Da sind kolossale, auf Betonsockeln ruhende Steinbüsten: kantign Antlitze alter schwarzer Männer mit Vollbart. Die Köpfe in den Nacken gelegt, starren sie in den Himmel. Ihre Gesichter sind meisterhaft gearbeitet, haben individuelle Züge, einzeln sichtbare Haare, stolze Blicke. „Die sind aus Granit“, sagt Schulz, „unglaublich hart und schwer, mehr als vier Tonnen“. Es gebe nur vier Meister, die die Kunst beherrschten, den Stein so gekonnt mit Hammer und Meißel zu behauen. Als Rohmaterial dienten ihnen Findlinge, die bei tropischen Regenfällen in das Cormier-Tal bei Léogâne südlich von Port-au-Prince gespült würden.
Zwischen den Büsten ragen geschnitzte Stelen aus Mahagoni auf. Sie wirken wie Totempfähle, zeigen Schlangen, Schädel, zähnefletschende Hunde, gehörnte Sirenen, wilde Pferde, zertretene Soldaten und Märchenmonster, die sich in- und umeinander bis zu vier Meter hoch winden und an die Fabelwelt des mittelalterlichen Malers Hieronymus Bosch erinnern. Mitten in dem Gewimmel fällt eine schwarz glänzende Steinfigur auf: ein sehnig-muskulöser Mann, der auf einem Bein kniet und in eine Muschel bläst. In der Rechten hält er eine Machete, bereit zum Schlag. „Eine Kopie des Neg Marron“, sagt Schulz, „der ,Unbekannte Freie Sklave Haitis’“. Im Jahr 1791 gab dieser der Legende nach das Signal zum Aufstand gegen die französischen Kolonialherren. Das Original der Skulptur hat mitten im Zentrum von Port-au-Prince das Erdbeben vom Januar 2010 überlebt.
Es ist offensichtlich: Rolf Schulz ist heillos in haitianische Kunst verliebt, die unter Kennern als die lebendigste und kreativste in der gesamten Karibik gilt. „Die Arbeiten der Haitianer sind ursprünglich und visionär“, schwärmt Schulz. Er erzählt, wie er Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal ins Nachbarland reiste und dort die riesigen Büsten entdeckte. 7000 Dollar zahlte er pro Stück, ließ sie mit Sattelschleppern nach Sosúa kommen und per Kran in sein Schloss hieven. Heute besitzt Schulz hundert Steinskulpturen und kauft immer wieder neue hinzu. Die Mahagoni-Stelen wiederum kommen nur noch teilweise aus Haiti. Sie werden mittlerweile von haitianischen Künstlern in Sosúa extra für Schulz angefertigt. „Die Haitianer wissen, was mir gefällt“, sagt er. Etwa dreihundert Stelen hat er übers ganze Gebäude verteilt.
„Kommt, wir gehen runter!“, ruft Schulz. Ein Feuerzeug dient ihm einzige Lichtquelle, als er in die Unterwelt führt. Unter der Kunstterrasse hat er zwei Krypten angelegt, beim Gang hinunter kriecht einem eine unangenehme kühle Feuchtigkeit entgegen. Dann steht man vor zwei großen Gräbern aus Feldsteinen. Obenauf ruhen Skelette aus Holz, die in der Düsternis nur schemenhaft zu erkennen sind. Vor den Särgen wachen nackte, hölzerne Männchen mit Reißzähnen. Einer der Wächter wurde Schulz vor kurzem geklaut. Er fand ihn am Strand bei einem fliegenden Händler wieder, und sogar das Lokalfernsehen berichtete. Es geht wieder hinauf und durch ein Treppenhaus in die höhergelegenen Etagen. Auf den Gängen wird man von weiteren Holzfiguren misstrauisch beäugt: Da steht ein Mann mit entblößtem Geschlecht, an dessen Spitze eine Schlange züngelt. Ihm gegenüber betastet sich eine Frau, zu der sich ein Menschäffchen aufreckt. In einem der saalgroßen Zimmer, die Schulz öffnet, steht ein massiver Holzthron, in einem anderen ein breites Bett, dessen Kopf und Füße mit Schnitzereien verziert sind, die üppige schwarze Frauen zeigen.
Wer nun aber glaubt, man sei in die Falle eines morbiden Erotomanen getappt, der irrt. Schulz hat eine vom haitianischen Voodoo geprägte Phantasiewelt errichtet, in der Sexualität, Tod und Science-Fiction die Hauptrollen spielen. Zwei Millionen Dollar hat Schulz seine Kunstsammlung gekostet. Doch auf dem Kunstmarkt dürfte sie ein Vielfaches wert sein, schätzt er. Inzwischen finden auch immer mehr Touristen aus den vielen Hotelanlagen der Gegend zu Schulz hinauf und staunen über Schloss, Inhalt und Besitzer. Schulz hat bisher zwei Millionen Dollar in das Gebäude gesteckt. Er sagt, dass es eine Wohnfläche von 2650 Quadratmeter habe: 15 Wohnzimmer, 12 Säle, 10 Badezimmer, sieben Terrassen, sechs Balkone, vier Küchen und zwei Türme. Doch das meiste ist unverputzt, es fehlen Fenster und vor allem Möbel. Schulz selbst lebt äußerst bescheiden in einem Seitenflügel: ohne fließend Wasser und ohne Strom. „Ich benutze Kerzen“, sagt er, „man geht früh schlafen und steht früh auf. Ist doch toll“. Schulz hat eine haitianische Haushälterin. Sie kocht, putzt und bewohnt mit ihren Kindern ein Zimmer irgendwo im Haus, von dem man wegen der verschachtelten Bauweise nie sagen kann, ob es drei oder sieben Etagen hat.
Irgendwann auf der chaotischen Tour man dann auf einer Dachterrasse im Abendlicht. Der Ausblick ist grandios: über Sosúa mit seinen Bungalows und Hotelanlagen hinweg kilometerweit auf den türkisblauen Atlantik und in der Gegenrichtung in den dampfenden Dschungel der Nördlichen Kordilleren. „Tropengotik“, sagt Rolf Schulz zum Abschied, „so kann man das wohl nennen, was ich hier gebaut habe.“ Leicht berauscht tritt man nach zwei oder drei Stunden aus dem Reich des „Mundo King“ auf die Straße. So viele Ideen, Figuren, Farben, Formen. Es war ein Besuch im Paralleluniversum eines Phantasten. Schulz mag ein Spinner sein, aber die Spinnerei hat ihn dazu befähigt, etwas ziemlich Irres zu schaffen, im wahrsten Sinne. Schulz wird wahrscheinlich nicht die Menschheit retten, aber der Dominikanischen Republik hat er ein ziemlich abgefahrenes Museum geschenkt.