Die Weinrevoluzzer der Serra Gaúcha

Die Weinrevoluzzer der Serra Gaúcha

In Südbrasilien haben sich einige Dutzend Winzer daran gemacht, die alten Familiengüter umzukrempeln und Spitzenweine zu produzieren. „Wir müssen uns vor niemandem verstecken“, sagen die Nachfahren italienischer Einwanderer. Immer noch kämpfen sie mit dem Vorurteil, dass aus Brasilien keine edlen Tropfen kämen. Eine Reise zu den Pionieren der neuesten Weinregion Amerikas.

Mit wehenden Haaren steht Irineo Dall’Agnol im Abendwind auf seinem Hügel. „Natürlich hielten viele mich für verrückt“, sagt er. Der 55-jährige Winzer kippt sich den letzten Rest eines Extra Bruts ins Glas, eigene Herstellung. Mit der Zunge schnalzend trinkt er aus. Ein wenig erinnert er an den frühen Gérard Depardieu: kräftige Genießerstatur, unkonventioneller Pagenschnitt, Lausbubenlächeln.

Dall’Agnols Heim: ein Bungalow auf einer Bergkuppe, davor eine violette Bougainvillea, daneben ein Meer knallgelber Arnika. „Freunde, willkommen“, begrüßt er Gäste mit ausgebreiteten Armen. Es ist leicht zu verstehen, warum Irineo Dall’Agnol sich vor 15 Jahren in diesen Hügel verliebte „wie in ein hübsches Mädchen“. Er sah hier, in der Nähe des Örtchens Faria Lemos, die Zukunft. „Ich wollte Sterne abfüllen, Sterne des Südens. Ich wollte Spitzenweine keltern, Superschampus machen.“ Es war ein kühnes Vorhaben. Dall’Agnols kleines Weingut liegt in der Serra Gaúcha, einem Bergland in Rio Grande do Sul, dem südlichsten der 26 brasilianischen Bundesstaaten. Und hier liegt schon die Crux.

Denn mancher wird jetzt einwenden: Halt, Stopp! Spitzenweine aus Brasilien? Die gibt es nicht! Das ist ein Oxymoron, eine Formulierung sich widersprechender Begriffe. Edler Wein aus Südamerika stammt aus den Andenländern Argentinien und Chile. Wenn Brasilien für ein Getränk bekannt (und berüchtigt) ist, dann für den Zuckerrohrschnaps Cachaça. Es fehlt an Tradition und Knowhow, das Klima zu heiß, feucht und tropisch.

Wie stark solche Vorurteile sind, zeigt eine Episode, die uns später ein Winzer erzählt: Ein portugiesischer Premium-Korkenhersteller habe ihm einmal ins Gesicht gesagt, dass Brasilien seine Korken nicht wert sei.

Er hatte ja keine Ahnung. Denn es hat sich etwas getan in der Serra Gaúcha, eine kleine, vom Rest der Welt unbemerkte Revolution hat sich ereignet. Sie startete um die Jahrtausendwende, als sich einige junge Winzer rund um die Kleinstädte Garibaldi und Bento Gonçalves daran machten, herausragende Weine und Sekte zu produzieren. „Wir wollten all die Vorurteile widerlegen“, ist ein Satz, den man auf einer Reise durch die Serra Gaúcha immer wieder hört.

In der Region sind Dutzende Weingüter neugegründet und neu erfunden worden. Sie haben gemeinsam, dass sie häufig herausragende Weine auf den Markt bringen. Die Winzer sind recht unterschiedliche Typen: Es gibt Berserker wie Irineo Dall’Agnol und eher konservative Persönlichkeiten. Es gibt ein paar Öko- und Naturweinfans. Es gibt Mikrowinzereien mit Makropotential und den ersten Ein-Frau-Betrieb. Und es gibt auch einige gewachsene Güter, die von Superreichen per Helikopter angeflogen werden: Mittagessen plus Weinprobe in gediegenem Ambiente mit Gebirgsblick.

All diese Betriebe sind in Familienhand und noch relativ klein an Marktmacht, dafür umso größer an Hingabe, Tatendrang und Euphorie sind. „Wir wollen anders sein“, ist ein anderer Satz, den man häufig hört, „Brasilien muss sich vor niemandem mehr verstecken“.

Irineo Dall’Agnol ist einer der Pioniere. Er hat diese gewisse brasilianische Frechheit. „Es ist schon frustrierend“, sagt er einmal. „Man kann nicht alle Weine der Welt trinken und nicht mit allen Frauen der Welt schlafen.“ Depardieu-Lachen.

Von Dall’Agnols Hügel hat man einen guten Blick über die Region, die nichts mit dem Samba-Strand-und-Karneval-Brasilien der gängigen Vorstellungen zu tun hat. Man überschaut ein tiefes Tal, durch das sich der Rio das Antas windet, der Tapir-Fluss. Weinberge schwingen sich die Hänge hinauf, dazwischen verbinden Staubstraßen kleine Gehöfte und Ortschaften. Man könnte meinen, im Moseltal oder im Rheingau gelandet zu sein.

Wenn da nicht immer wieder Palmen zwischen den Reben aufragen würden; oder die kolossalen Leguane wären, die in scheinbar suizidaler Absicht die Landstraßen kreuzen. Und auch das Tukanpärchen, das gerade übers Tal flattert, gibt es nicht in Koblenz.

„Wir haben hier etwas, das es sonst nirgendwo gibt“, sagt Dall’Agnol. „Unsere Trauben gedeihen inmitten des Atlantischen Dschungels.“ Tatsächlich breiten sich zwischen den Weinbergen große Waldstücke aus, immer wieder fallen auch die urigen Araukarienbäume auf, deren Art 90 Millionen Jahre alt ist; und an jeder Ecke hört man Vögel singen und pfeifen. 60 Prozent der Region besteht aus Wald.

Am frühen Nachmittag empfängt Irineo Dall’Agnol wie jeden Sonntag Gäste: brasilianische Touristen, die picknicken, seine Bruts kredenzen und auch einmal ganz weit weg vom Rest des Brasiliens mit all seinen Problemen sein wollen, der Gewalt und der Armut. Denn während anderswo im ländlichen Raum die Latifundien und Monokulturen expandieren, hat sich in der Serra Gaúcha eine gesunde kleinbäuerliche Struktur erhalten, die für ein relatives soziales Gleichgewicht sorgt.

Wie aber haben es die brasilianischen Winzer geschafft, sozusagen das Weinblatt zu wenden?

Bis vor 150 Jahren war die Serra Gaúcha noch vom indigenen Volk der Caingangues bevölkert. Dann entschied die Regierung, Europäer anzusiedeln. Ab den späten 1870ern folgten circa 90.000 Norditaliener dem Ruf „Fare l’America“. Sie siedelten in der Serra Gaúcha weil die fruchtbareren Ebenen bereits von deutschen Immigranten besetzt waren, die Orte mit Namen wie Teutônia gründeten.

Die Italiener erhielten damals kleine Parzellen und mussten helfen, die Gegend urbar zu machen: Wälder roden, Straßen bauen, Ortschaften errichten. Viele Dörfer haben bis heute die einfache Struktur von damals erhalten: eine Kopfsteinpflaster, ein paar Häuser aus Holz und Feldsteinen, eine Kirche, eine Schule und ein Gemeinschaftshaus, in dem die Männer sonntags Karten spielen.

Hier blieben die Italiener jahrzehntelange unter sich, heirateten innerhalb ihrer Gemeinschaften, was sich auch heute noch an den Namen der Weingüter ablesen lässt: Vaccaro, Pedrucci, Agostini, Battistello, Boschi und so fort. Außerdem gewöhnten sie sich ein Portugiesisch mit schwerem italienischen Einschlag an.

Die Italiener, die vor allem aus Venetien, Friaul und Trentino stammten, taten in der Serra Gaúcha dann das, was sie schon in Italien getan hatten: Vieh züchten, Getreide und Gemüse anbauen. Trauben pflanzten sie, vor allem die amerikanischen Sorten Isabella und Niagara. Daraus machten sie Wein für den Eigenbedarf, ein bisschen Entspannung nach schwerer Feldarbeit, die Familien waren arm und kinderreich.

Mit der Zeit wuchs der Weinanbau und die Bauern schlossen sich zu Kooperativen zusammen. Sie pressten Traubensaft, der bis heute in Brasilien in rauen Mengen getrunken wird. Außerdem produzierten sie Tischweine, die in bauchigen Korbflaschen verkauft wurden – also eher nichts für Genießer. Die Kooperativen sowie drei, vier Großbetriebe dirigierten jahrzehntelang das Wirtschaftsgeschehen der Region, sie bestimmten die Preise und kauften die Ernten der Kleinbauern auf, die Rohstoffproduzenten blieben.

All das änderte sich Ende der 1990er Jahre. Die Ur- und Ururenkel der ersten Einwanderer beschlossen, etwas Neues zu machen. Sie sagten sich: „Wir haben die Böden, wir haben das Klima, wir haben die Hänge. Wir müssen nur noch lernen, wie man guten Wein macht.“ Und sie lernten schnell, begriffen in zwei Jahrzehnten, wozu man in Europa Jahrhunderte Zeit hatte. Dazu zählte auch Grundlegendes. Ein Winzer erzählt, etwas verschämt, wie er sich von den französischen Herstellern jedes Jahr neue Fässer andrehen ließ, weil sie behaupteten, man könne sie nur ein Mal benutzen. Aus europäischer Sicht mag man über diese Naivität schmunzeln, aber die Episode veranschaulicht den weiten Weg, den Brasiliens Winzer gegangen sind.

Irineo Dall’Agnol stieß 2005 zu den Revoluzzern. Auch seine Vorfahren waren einst aus Italien eingewandert, er selbst hatte für das Landwirtschaftsministerium gearbeitet, Sektion Wein. Dann entschied er mit einem befreundeten Önologen aus Uruguay: Wir machen Schampus. Sie kauften Weinberge, insgesamt 23 Hektar, und nannten ihre Firma – na, klar – Estrelas do Brasil, Sterne Brasiliens, nach einem Zitat des Benediktinermönchs Dom Pérignon, in dessen Abtei der Champagner entstanden sein soll.

„Wir wollten die Dinge anders machen“, sagt Dall’Agnol „herumprobieren“. Eins seiner Experimente ist ein Chardonnay, der ein Jahr lang mit Schalen und Kernen in einem Eichenholzfass gelagert hat. „Ich erwartete ein gruseliges Gesöff“, sagt Dall’Agnol Aber das Ergebnis ist erstaunlich: ein leichter, gelber Sommerwein mit Orangenaromen. Dall’Agnol will jetzt zehn Fässer davon machen.

Zur Erntezeit stellt er Caingangues-Indios ein. Er sagt, sie hätten ihren eigenen, gemächlichen Arbeitsrhythmus. Aber das respektiere er und den Trauben tue es auch gut. „Ohne Geduld kannst du keinen Wein machen!“ Andere Bauern verstünden seine Entscheidung nicht. Bis heute herrschen in Brasilien böse Vorurteile gegen die Ureinwohnern, der ultrarechter Präsident Jair Bolsonaro vergleicht sie sogar mit „Zootieren“. Vielleicht ist Dall’Agnols Entscheidung daher auch als späte Wiedergutmachung für die Vertreibung der Caingangues im 19. Jahrhundert zu begreifen.

Dall’Agnols Bruts sind im Champenoise-Verfahren hergestellt, er verzichtet auf jegliche Zusätze. Und sie gehören zum besten, was Brasilien zu bieten hat, werden häufig prämiert. Dall’Agnol beschreibt sie ganz simpel als „tropisch“. Sie wirken weniger robust und ernst als ihre Pendants in Europa, dafür fröhlicher, floraler und auch unverbindlicher. „Es sind ja Brasilianer“, sagt Dall’Agnol. Der Grund für die Spritzigkeit sei der hohe Kaliumgehalt der Böden, er führe zu Frische und Jugendlichkeit.

Ohnehin gelten die Böden nördlich der Stadt Bento Gonçalves als die besten in ganz Amerika, um Sekt zu produzieren. Es gibt hier sehr mineralhaltige Basaltböden und ein geradezu ideales Temperaturgefälle „Letzte Nacht waren es zehn Grad“, sagt Dall’Agnol“, jetzt sind es 30, viel heißer wird es nicht. Ein bisschen geregnet hat es, aber nicht zu viel. Die Trauben lieben das.“

Obwohl Dall’Agnols Passion den Bruts gilt, macht er auch erfolgreiche Rotweine. Sein Tannat von 2008 wurde vergangenes Jahr von Brasiliens größter Zeitschrift, „Veja“, zu den besten 20 Rotweinen des Landes gezählt. Die Nachfrage ist also groß, aber Dall’Agnol verkauft seine rund 30.000 Flaschen pro Jahr einzig übers Internet beziehungsweise hier oben auf seinem Feldherrenhügel.

Zum Abschied führt er einen Pfad entlang, der von Hortensien, Kakteen und Bergamotten gesäumt ist. Er erreicht einen Weinberg, auf den er besonders stolz ist. Die Reben seien Klone einer aus der Schweiz importierten Pinot-Noir-Rebe, sagt er. „Die sind kerngesund, ich habe hier schon seit vielen Jahren keinen Dünger und keine Herbizide mehr eingesetzt.“ Zwischen den Reben wachsen Blumen und Gras, Hasen trieben sich hier herum, sagt Dall’Agnol. Früher hätte man so einen Weinberg als verwildert bezeichnet und seinen Besitzer als faul. Heute duften hier wilde Kräuter, Dill und Thymian, und am Stamm einer Platane rastet ein Bienenschwarm. „Ein wunderbarer Weinberg bringt wunderbaren Wein“, sagt Dall’Agnol, „so einfach ist das.“

Flávio Pizzato schüttelt immer noch ungläubig den Kopf. „Wir waren unerfahrene Winzer“, sagt er, „aber unsere Trauben waren einfach richtig gut.“ Der 53-Jährige ist Chef-Önologe des Pizzato-Weinguts, dieses Jahr wurde er von der renommierten brasilianischen Messe für Weinexport, ViniBraExpo, zur Persönlichkeit des Jahres gewählt.

Wie wenige andere spiegelt die Geschichte seiner Familie den Aufstieg der Region zu einer der ersten Weinadressen wider. Die Produktionsstätte der Pizzatos liegt in dem verschlafenen Weiler Santa Lúcia im Vale dos Vinhedos, dem Tal der Weinberge, einer Mikroregion der Serra Gaúcha, in der sich auf relativ kleinem Raum Dutzende Weingüter tummeln. Als erste brasilianische Region erhielt sie vor zehn Jahren eine geschützte Herkunftsbezeichnung für ihre Weine.

Hauptort des pittoresken Tals ist Garibaldi, eine Kleinstadt mit 35000 Einwohnern, die nach dem italienischen Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi benannt wurde, der sich hier in den 1830er Jahren an einer Revolution für die Unabhängigkeit Südbrasiliens vom Kaiserreich beteiligte. Bekannter ist der Ort allerdings als „Hauptstadt des Schaumweins“, offizieller Beiname und feuchtes Versprechen. Verschiedene Kooperativen sind hier ansässig, die bekannteste ist die 90 Jahre alte Cooperativa Garibaldi, die 400 Familien vereint.

Es war in der zweiten Hälfte der 1990er, als Flávio Pizzato mit seinem Bruder und zwei Schwestern einen Plan ausheckte. Auch ihre Familie war Ende des 19. Jahrhunderts aus Norditalien eingewandert, nun wollten die vier das alte Gut umkrempeln, auf dem ihr Vater Plinio amerikanische Traubensorten anbaute. Sie gingen die Sache strategisch an. Während die Frauen sich um Marketing und Finanzen kümmern sollten, würden die Männer Önologie studieren und sich der Weinproduktion widmen. Vater Plinio mit seiner langen Erfahrung sollte weiterhin die Reben pflegen.

Der erste Schritt auf der Mission Spitzenwein: Die Pizzatos rissen die amerikanischen Reben heraus und pflanzten europäische Sorten: Merlot, Tannat, Pinot Noir, Cabernet Franc (der hier besser gedeiht als der Sauvignon), Chardonnay, Sauvignon Blanc, Riesling. Als nächstes stiegen sie in die Kellergewölbe hinab und zerlegten die alten Tanks aus Araukarienholz, die sogenannten pipas, die den Weinen der Region etwas Harziges und Schädeliges verliehen und für so manchen schweren Kater verantwortlich gewesen sein dürften. Edelstahltanks wurden angeschafft.

„Dann geschah das Unglaubliche“, erzählt Flávio Pizzato, der es sich in einem Sessel auf der Terrasse des Pizzato-Guts mit Blick auf eine Felsschlucht bequem gemacht hat. „Unser erster Rotwein schlug wie eine Bombe ein: ein Merlot, Ernte 1999.“ Damals war gerade der erste professionelle Weinführer für Brasilien erschienen und der Pizzato-Merlot wurde auf Anhieb als bester Rote des Landes gelistet. Seine 15.500 Flaschen waren im Nu verkauft, und der Name Pizzato war fortan eine Referenz für das große Potential des Vale dos Vinhedos. „Unser Merlot war der erste Kultwein Brasiliens“, sagt Flávio Pizzato. „Von da an wussten wir, dass wir fantastische Bedingungen haben.“ Es mussten 100 Jahre vergehen, bis die Pizzatos dies bemerkten. „Wir haben unsere eigene Zeit“, zitiert der Önologe einen Titel von Legião Urbana, einer der bekanntesten Rockbands Brasiliens.

Es begann also gut für die Pizzatos. Dann der Unfall. 2007 stürzte Bruder Ivo, kaum 31 Jahre alt, mit dem Auto von einer Brücke und starb. Es war ein Schock für die Familie, die sich nun in Arbeit flüchtete. „Ivo war ein begnadeter Önologe“, sagt Flávio. „Nun mussten wir ohne ihn beweisen, dass wir Spitze sind. Das hätte auch er so gewollt.“

Heute produzieren die Pizzatos mit 42 Hektar Weinbergen an drei Standorten rund 300.000 Flaschen, mehr als die Hälfte ist Rotwein, 30 Prozent Sekt, der Rest Weißwein. Immer wieder haben sie in den vergangenen Jahren Standards gesetzt, insbesondere mit ihren Merlots. Der Tropfen aus dem Jahr 2012 erhielt 94 Punkte vom „Decanter“-Magazin – die beste Note, die bis dato ein brasilianischer Wein erzielte. Er gilt bis heute als einer der herausragendsten Weine Brasiliens aller Zeiten. Ihre Merlot-Linie haben die Pizzatos „DNA 99“ getauft, als Hommage an die erste große Ernte; und auch weil alle weiteren Erfolgsweine von demselben Weinberg stammen. „Wein ist Geographie“, sagt Flávio.

Es wird nun – ganz italienisch – leckerer Käse, Salami und frisches Brot aus der Region serviert und Vater Plinio gesellt sich mit einem verschmitzten Lächeln unter dem Schnauzer zu uns. „Als meine Kinder den Laden übernahmen, wusste ich wenig von moderner Weinherstellung“, sagt er. „Aber mit der Pflege der Weinstöcke, da kannte ich mich aus.“

Der 77-Jährige nimmt seinen Sohn mit auf einen Spaziergang durch die Reben. Wie immer fachsimpeln sie über den richtigen Zeitpunkt der Ernte. „Mein Vater will immer früher ernten, um auf der sichereren Seite zu sein“, sagt Flávio. „Ich will später pflücken, um das Maximum herauszuholen.“ Darin drücke sich auch der Mentalitätsunterschied der Generation aus: Der Vater mit der alten Angst, eine Ernte an den Hagel zu verlieren. Der risikofreudigere Sohn, der Qualität will.

Einig sind sich beide, dass 2020 ein Sensationsjahrgang wird, vielleicht sogar ein Jahrhundertwein. Man habe „die Ernte der Ernten“ eingefahren, sagt Flávio Pizzato. Man habe viel Sonne und Hitze gehabt und ausreichend aber nicht zu viel Regen, die Trauben seien prächtig gewesen, voller Farben, Zucker und Aromen. Man werde wohl den ersten Blockbuster aus Brasilien produzieren, „so im Parker-Stil, ein richtig schwerer Tropfen mit viel Alkohol und Tanninen“.

Sie gelten als die ehrgeizigsten Weinproduzenten der ganzen Region, die Carraros. Ihr Gut liegt nur fünf Minuten von dem der Pizzatos entfernt, Hauptquartier ist das alte, unter Bäumen gelegene Elternhaus. Die Weinprobe findet in der kleinen Einbauküche von und mit Mutter Isabel statt.

Benannt haben sie ihr Unternehmen nach Vater Lídio Carraro – „aus Tradition und aus Respekt für diesen Mann der Scholle“, erklärt Tochter Patrícia Carraro, die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist und immer wieder schöne Sätze sagt: „Lídios Einfachheit ist unser Kompass.“

Auch Lídio Carraro war einst ein bescheidener Weinbauer, der seine Trauben an Saftproduzenten verkaufte. Er sagt, dass es ihm Anfangs ein bisschen unangenehm gewesen sei, seinen Namen plötzlich auf den edlen Flaschen zu sehen. Aber heute sei er stolz darauf. Es sei unglaublich, was die neue Generation geschafft habe. „Ich selbst träumte immer davon, einen eigenen Wein aus meinen Trauben zu machen.“

Die neue Generation sind neben der 41-jährigen Patrícia die beiden Söhne Juliano, 40, und Giovanni, 32, letzterer ist der Chef-Önologe des Guts. Wie alle Kinder ihrer Generation wuchsen sie noch mit dem „süßen Wein“ auf: Sie bekamen zum Essen ein Glas Rotwein, das mit Wasser verdünnt und mit Zucker vermischt wurde. Es ist deswegen durchaus wörtlich zu nehmen, wenn die Carraros sagen, dass der Wein ihnen im Blut liege. Ihre Rotweine sind aus den Listen mit den besten Weinen Brasiliens nicht mehr wegzudenken.

Wie die Pizzatos haben auch die Carraros den Wandel ihrer Firma minutiös geplant. Dabei war es ihnen von Anfang an wichtig, sich als etwas anderes Weingut zu verkaufen. So haben sie für sich den Begriff „Purist Wines“ entdeckt. Er heißt, dass sie vollkommen ohne Holz arbeiten. Die Weine der Carraros reifen einzig in Stahltanks, teils mehr als 14 Monate. „Die Wahrheit des Weins liegt in der Traube“, sagt Patricia Carraro einen ihrer effektheischenden Sätze. „Minimale Invasion, maximale Expression!“ Es ist daher konsequent, dass die Carraros Terrakotta-Amphoren anfertigen ließen. In solchen Behältnissen lagerten die ersten Weine im Kaukasus. Die Amphoren sind geschmacksneutral, erlauben es aber dem Wein minimal zu atmen. Back to the roots.

Die Carraros versuchen ihrem Wein eine hyperlokale Identität zu geben. Sie folgen dem Terroir-Konzept. Der Globalisierung des Weins, der sich Output-Weltmeister wie Argentinien und Chile unterworfen haben, setzen sie Heimat und Scholle entgegen.

Das Konzept macht sich für die Carraros bezahlt. Insbesondere ihre Tannats gelten als die besten ihrer Art. Der von 2010 (ungefiltert, Alkohol 15,5%), wurde schon als weltweit bester Wein seines Jahrgangs bezeichnet. Die unermüdliche PR-Arbeit von Patricia Carraro brachte der Familie zudem verschiedene Sponsoringverträge für Sportevents ein. So war Lídio Carraro der „Offizielle Wein der Fußball WM 2014“ in Brasilien. Das war eine Überraschung, weil sich das relativ kleine Gut mit seinen 350.000 Flaschen pro Jahr gegen sehr viel größere und mächtigere Konkurrenten durchsetzte.

Die Motters sind etwas Besonderes in der Serra Gaúcha. Nicht nur weil ihr Weingut etwas einsam und rund eine Stunde Fahrt von den Weinzentren rund um Garibaldi und Bento Gonçalves entfernt liegt; sondern auch weil Vater Osvaldo mit seinen drei Söhnen eins der modernsten und schönsten Güter der Serra Gaúcha aufgebaut hat – ohne dabei den familiären Charakter der Firma zu opfern. Bei dem Örtchen Alto Feliz steht die große, für Touristenbesuche ausgelegte Produktionshalle. Durch einen Tunnel, in dessen Gewölben Tausende Flaschen und Fässer lagern, erreicht man einen edlen Verkaufsraum und ein Gourmet-Restaurant mit Blick über die Familien-Weinberge. Das Restaurant hat lediglich Samstagmittags geöffnet und ist auf Wochen hinaus ausgebucht. Manche Gäste schweben per Helikopter ein.

Auch die Motters begannen ihren Aufstieg um das Jahr 2000. Osvaldo Motter, Ururenkel italienischer Einwanderer aus Trento und jüngstes von neun Geschwistern nahm sich vor, Spitzenwein zu produzieren und erwarb die Lagen bei Alto Feliz, insgesamt 60 Hektar. Das Gut nannte er Don Guerino – nach seinem Vater Guerino Motter. Und auch er plante strategisch: Sohn Maicom, 35, musste Verwaltung studieren; Lucas, 25, wurde Sommelier und kümmert sich heute um die Gastronomie. Bruno wiederum wurde zum Önologie-Studium nach Mendoza in Argentinien geschickt.

Zurück nach Brasilien kam er in einem orangefarbenen Fiat 600 gefahren, den er sich in Argentinien zugelegt hatte. In Hommage an das Fahrzeug hat er einen schweren, rubinroten Malbec und einen pfirsichfrischen Torrontés produziert. „Unsere Vintage-Linie und meine Hommage an Mendoza“, sagt der 31-Jährige.

Auch sonst zeichnen sich die besten Rotweine der Motters durch starke Aromen von roten und schwarzen Früchten, Kräuter wie Rosmarin und angenehme Toastnoten. aus, während ihre besten Weißweine an tropischere Früchte wie Papayas und Ananas erinnern, auch Vanille- und leichte Eichenholznoten haben und eine besonders lange Persistenz. Es ist klar, dass sie im Kontrast zu den Carraros großen Wert auf Holz legen.

Don Guerino ist heute eins der bekanntesten und auch erfolgreichsten Familiengüter in der Serra Gaúcha. Es hat einen im Vergleich hohen Output von rund 500.000 Flaschen. Nun wolle man jedoch erst mal einen Schritt zurückzutreten, sagt Bruno Motter. „Wir denken darüber nach, weniger zu produzieren, dafür höhere Qualität.“

Damit reagieren die Motters auch auf ein Paradox. Der durchschnittliche Brasilianer trinkt nur zwei bis drei Flaschen Wein pro Jahr. Es hat mit der Hitze in weiten Teilen des Landes zu tun, die die Menschen eher zum eiskalten Bier greifen lässt. Andererseits sind die relativ hohen Weinpreise verantwortlich, die sich die meisten Brasilianer einfach nicht leisten können.

Auf der anderen Seite ist die Metropole São Paulo einer der weltweit größten Absatzmärkte für feine und teure Weine. Es ist die vermögende Elite, die sich die edlen Tropfen gerne leistet. „Wir wollen dafür sorgen, dass es immer weniger importierte und immer öfter brasilianische Weine sind“, sagt Bruno Motter.

„Einfach ist es nicht“, sagt Vanessa Kohlrausch Medin, „die Gesellschaft ist sehr traditionell und chauvinistisch. Es gibt nur ein paar weibliche Önologen, aber ich setze mich schon durch.“ Die 31-Jährige ist die erste selbstständige Weinproduzentin im Vale dos Vinhedos, führt sozusagen einen Ein-Frau-Betrieb.

Sie hatte für große Weinproduzenten in der Region gearbeitet, als sie vor knapp fünf Jahren entschied: Ich mache meinen Traum wahr, ich mache Naturwein. Das Konzept hatte sie auf einer Reise durch Frankreich kennengelernt, bei der sie verschiedene Mikro-Weingüter kennengelernte. Wieder zurück in Brasilien erwarb sie einen Hektar Weinberge, auf denen sie neben Chardonnay auch ungewöhnlichere Trauben wie Gamay und Malvasia di Candia pflanzte. „Ich bin schon immer anders gewesen“, sagt die 31-Jährige.

Auch sie besitzt das Unorthodoxe und die Frische, die die Region verändert und geprägt haben. Es ist ihr dabei ziemlich egal, was andere für wichtig oder richtig halten. Sie erzählt, wie sie mit 14 Jahren die Unterschrift ihrer Mutter fälschte, um sich eine Zungenpiercing stechen zu lassen. Nun ist es ihr eigener Vater, auch er Traubenproduzent, der an ihrem Naturwein-Konzept zweifelt.

Medins Weine entstehen völlig ohne Zusätze und ohne Holz und sind geschmacklich auf der leichten, frischen und fruchtigen Seite angesiedelt – vielleicht genau das richtige für das heiße Brasilien. Die Philosophie der jungen Winzerin lautet: „Die Kraft des Universums in Flaschen abfüllen, Nahrung für die Seele keltern.“ Natürlich ist das ziemlich esoterisch, aber wer die herzliche und unbeschwerte Medin einmal erlebt hat, merkt schnell, dass es für sie keine Marketingsprüche sind.

Vanessa Kohlrausch Medin lebt alleine in einem Haus inmitten ihrer Weinberge, ihre einzige ständige Begleitung sind sechs Hunde, die sofort angerannt kommen, als sie nach ihnen ruft. Ihre Weine macht sie in einer Garage unter dem Haus in Tanks aus Polypropylen, für mehr reicht das Kapital bisher nicht. Ihre Produktion liebt bei bescheidenen 4500 Flaschen, sie vertreibt sie über Instagram.

Auf einem der bunten und wilden Flaschenetikette, die eine Freundin für sie designt, ist ein Eichhörnchen zu sehen, das in eine Pusteblume greift während die Samen davon schweben. „Construindo Sonhos“ (Träume konstruieren) hat sie den Natur-Schaumwein (Chardonnay, 2019, 10,5%) genannt. Sie ist gerade dabei, ihren zu verwirklichen.