Die einen schwärmen vom „Stein gewordenen Evangelium“, andere sagen: „katholische Kotze“. Jordi Bonet meint nur: „Ich bin dankbar.“
Er strebt über den mit Planen abgedeckten Marmorboden, unter einer ächzenden Hebebühne hindurch, vorbei an Bauarbeitern mit Klettergurten und macht genau an der Stelle halt, wo am heutigen Sonntag um Punkt 10 Uhr der Papst stehen wird, um die Sühnekirche der Sagrada Família zur Basilika zu weihen. Bonet macht kehrt und zeigt nach Osten ans andere Ende des Kirchenschiffs. Seine bernsteinfarbenen Augen fixieren das Fenster über dem Glorien-Portal.
„Dort hindurch werden die Sonnenstrahlen auf den Papst fallen“, sagt er. „Gaudí hat nichts dem Zufall überlassen.“
Wenn Benedikt XVI heute die berühmteste Baustelle der Welt ihrer Bestimmung zuführt, dann ist das vor allem einem Mann zu verdanken: Jordi Bonet, dem Chefarchitekten des ebenso waghalsigen wie wahnsinnigen Projekts, das viele für unverantwortlich, mindestens aber für unvollendbar hielten. Seit 26 Jahren baut Bonet an der Kirche, länger als alle seiner Vorgänger. Mit einer Ausnahme natürlich. Der 85-Jährige ist der sechste Nachfolger von Antoni Gaudí, dem berühmtesten und eigenwilligsten Architekten Spaniens. Gaudí hatte die Sagrada Família 1883, ein Jahr nach ihrem Konstruktionsbeginn, übernommen. Er war von einer Vereinigung katholischer Industrieller beauftragt worden, die dem wachsenden Antiklerikalismus der katalanischen Arbeiterklasse etwas entgegensetzen wollten.
Auf den erst 31-jährigen Gaudí kamen sie, weil er jung, brillant und billig war. Finanzieren wollte man das Vorhaben durch Spenden – die Einwohner Barcelonas sollten sühnen, indem sie für die Errichtung der Kirche zahlten. Eine Tradition übrigens, die fortlebt, wobei heute der Eintrittspreis von 12 Euro pro Person dazu gerechnet wird. 2009 zahlten ihn 2,3 Millionen Touristen und beschleunigten so die Fertigstellung des Kircheninneren erheblich. „Hätte ja nicht gedacht, dass ich die Weihung noch erlebe“, sagt Jordi Bonet.
Kathartisch wirkte sich die Kirche allerdings zunächst weniger auf die Spender, als vielmehr auf ihren Architekten aus. Antonti Gaudí, der mit dem utopischen Sozialismus sympathisierte, wurde über der Beschäftigung mit der „Heiligen Familie“ zum katholischen Mystiker. Er steckte sein gesamtes Vermögen in den Kirchenbau, in dessen Krypta er die letzten Jahre seines Lebens wohnte. Oft sah man Gaudí auf den Straßen Barcelonas um Spenden für sein Werk bitten, für das er immer neue und kostspieligere Formen entwickelte.
Wenn Gaudí weder baute noch bettelte, unternahm er Wanderungen rund um Barcelona. Hier, in den Wäldern und Bergen Kataloniens, fand er die idealen Formen für seine Gebäude, in denen sich fortan alles in wellenförmigen, bergrückengleichen Schwüngen aufzulösen schien. Gaudí schaffte den rechten Winkel ab und meinte, „wer sich beim Bauen nach den Gesetzen der Natur richtet, kollaboriert mit dem Allmächtigen“. Dabei ahnte er selbst, dass man zur Vollendung seiner Sagrada Família Jahrzehnte brauchen würde. Die oft geäußerte Kritik an der Bauzeit quittierte er gewöhnlich mit den Worten: „Mein Auftraggeber hat keine Eile.“ Gaudí betrachtete sich als Werkzeug Gottes, er wollte das Neue Testament mit Steinen erzählen.
Als der Architekt am 10. Juni 1926 vor eine Straßenbahn lief, waren 15 Prozent der Sagrada Família fertig. Er hatte das Nordportal errichtet, das mit seinen Tropfen, Tierdarstellungen und biblischen Figuren von jubilierendem Detailreichtum ist. Es hat die Form einer Grotte, über der eine Zypresse thront, und es kommt wohl nicht von ungefähr, dass die Geburtsfassade auch an eine Vagina erinnert. Darüber erhoben sich bereits die vier runden, spiralförmig nach oben strebenden Türme, die heute in keiner Barcelona-Werbebroschüre fehlen.
Als man Gaudí schwer verletzt auflas, trug er einen zerschlissenen Anzug und ausgetretene Schuhe. In seinen Taschen fand man Nüsse und Rosinen sowie ein abgegriffenes Evangelium. Man hielt den alten Mann mit dem zersausten Bart für einen Bettler und brachte ihn in ein Armenhospital, wo er kurz darauf mit 74 Jahren starb. Zu Gaudís Beerdigung kamen Tausende.
Nach seinem Tod geschah zunächst einmal: nichts. Gaudí hatte jeden Tag auf der Kirchen-Baustelle verbracht, Pläne immer wieder verworfen, nur um neue, praktischere Lösungen für die Herausforderungen zu finden, vor die er sich selbst stellte. Nun fehlte er an allen Ecken und Enden. Dann brach 1936 der Spanische Bürgerkrieg aus und die Anarchisten ermordeten in Katalonien Tausende katholische Priester, die sie als Vertreter einer Institution betrachteten, die Spaniens Bauern und Arbeiter seit Jahrhunderten unterdrückte und nun mit den Franco-Faschisten paktierte. Einige Anarchisten zogen auch zur Kirche, um die Geburtsfassade zu sprengen, wovon sie abgehalten wurden. Aber der Trupp zerstörte die Baupläne und das vier Meter hohe Gipsmodell, das die Grundlage für die Fortsetzung der Arbeiten war.
Es war Jordi Bonets Vater, der es vor der vollständigen Vernichtung rettete. Bonet führt durch das Untergeschoss der Sagrada Família, läuft Regalreihen ab, in denen die Bruchstücke von Gaudís Modell lagern. Bonets Vater, der mit Gaudí befreundet war, trug einen Großteil davon zusammen. 8000 Scherben sind bisher erfasst worden und bilden die Voraussetzung für den Weiterbau der Sagrada Família. „Dank ihrer wissen wir, was Gaudí wollte“, sagt Bonet. Liebevoll streicht er über einen zerbrochenen Fensterbogen. Einen Raum weiter ist sein 20-köpfiges Architektenteam damit beschäftigt, 3-D-Modelle an Computern zu erstellen.
Aber Bonet klingt auch so, als ob er sich rechtfertigen müsste. Denn die Anarchisten waren zwar die ersten, die die Kirche am liebsten in die Luft gejagt hätten, aber nicht die letzten. George Orwell („1984“), der mit den Trotzkisten im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte, hielt sie für „eins der furchtbarsten Gebäude“ und Salvador Dalí bescheinigte Gaudí einen „großartig schlechten Geschmack“. 1959 unterschrieben dann prominente Künstler und Architekten einen offenen Brief, in dem sie forderten, die Sagrada Família ruhen zu lassen. Für einen adäquaten Weiterbau wisse man zu wenig.
Initiator des Briefs war der katalanische Architekt Oriol Bohigas, der die Sagrada Família immer noch gerne mit religiösem Auswurf vergleicht. Sein Architekturbüro, MBM Arquitectes, ist eins der renommiertesten Barcelonas und Ausgangsort stetiger Kritik. Einer der drei Chefs von MBM ist der Engländer David Mackay, der 1959 zu Bohigas stieß. „Das Modell Gaudís reicht nicht aus“, sagt der 77-Jährige im MBM-Büro. „Man hat kein Gebäude gebaut, sondern ein monumentales Modell. Es ist sinnlos, die Formen folgen keinerlei Funktion.“ Ob man die Bauarbeiten nach Gaudís Tod denn hätte abbrechen sollen? „Klar“, erwidert Mackay, „würde man denn einen unvollendeten Picasso am Computer fertigmalen? Es wäre Kitsch“.
Mit ihrer Kritik stehen Mackay und Bohigas nicht alleine dar. Llatzer Moix, Redaktionsleiter von Kataloniens meistgelesener Zeitung „La Vanguardia“, schreibt in einer E-Mail, dass Gaudís Sprache „deformiert“ worden sei. Ein Blick auf die Passionsfassade der Kirche bestätigt diese Meinung. Dort wird die Leidensgeschichte Christi von den wichtigtuerischen Figuren des Bildhauers Josep Subirachs banalisiert. Kleinlich wirkt die Kritik allerdings, wenn man den von Jordi Bonet ausgeführten Innenraum der Kirche betritt. Dort werden am Sonntag 6500 Besucher, darunter 1000 Priester und 100 spanische Bischöfe, den ersten Gottesdienst in der Sagrada Família feiern – und hoffentlich auch über ihren märchenhaften Innenraum staunen. Säulen erheben sich dort (natürlich) nicht senkrecht, sondern leicht geneigt, drehen sich um die eigene Achse, wechseln ihre geometrischen Formen im Aufstieg und gehen zum Dach hin in Verästelungen auf. Man glaubt, inmitten eines Walds voller gigantischer Bäume zu stehen, einem Naturwunder.
Als „Sieg der Vertikalität über die Horizontalität“ beschreibt Armand Puig den Effekt, „alles strebt nach oben“. Der Bibelforscher hat ein Jahr lang die Symbolik der Sagrada Família entschlüsselt. Herausgekommen ist ein 300 Seiten dickes Buch, in dem es von Zahlenspielen nur so wimmelt. Die 21 weißen Vögel auf dem Baum des Lebens der Geburtsfassade stünden etwa für drei (Dreieinigkeit) mal sieben (Perfektion). Und die vier zentralen Säulen aus rotem iranischen Porphyr, dem härtesten Stein der Welt, repräsentierten die vier Evangelisten: „Man kommt Gott hier näher.“
Der Architekt David Mackay hält dagegen, dass die Sagrada Família lediglich eine Akkumulation katholischer Symbole sei. „Sie ist potthässlich.“ Wahrscheinlich hätte er auch nichts dagegen, wenn der neben dem Kirchenfundament geplante Tunnel für den Schnellzug AVE die Sagrada Família zum Einsturz bringen würde, wie Kritiker des Projekts voraussagen.
Wer nun glaubt, man könne sich in Barcelona wenigstens darauf einigen, dass der Papstbesuch eine gute Sache sei, der kennt die aufmüpfigen Katalanen schlecht. Die einflussreichen Nachbarschaftsvereine von Barcelona lehnen die „Praktiken und ideologischen Positionen“ von Benedikt XVI ab und kritisieren die hohen Kosten des Besuchs. An den Balkons des bürgerlichen Viertels rund um die Sagrada Família prangen Botschaften an Benedikt XVI. „Ich erwarte dich nicht“, heißt es darauf, oder: „Passt auf eure Kinder auf, der Papst kommt!“ Der Antipapismus reicht bis in die katalanische Regionalregierung hinein: Nur zwei von 13 Ministern wollen die Einladung zur Kirchenweihung annehmen. Tausende Schwule und Lesben möchten den Papst hingegen verabschieden – per „Kiss-In“.
Auch in Restspanien sieht man die Papstvisite erstaunlich kritisch. In der größten Zeitung des Landes, „El País“, wurde Benedikt XVI schon als „Inquisitor des Glaubens“ bezeichnet. So sah sich dann der Erzbischof von Barcelona genötigt, zu erklären, dass der Papst wirklich „niemanden belästigen“ wolle. Sorgte dann aber selbst für Unmut, weil er von der „katalanischen Kirche“ sprach. Der Erzbischof von Madrid ließ umgehend verlauten, es gebe keine katalanische Kirche, sondern einzig eine. Das war auch eine Replik auf den öffentlichen Brief einer Gruppe Prominenter, die den Papst in einer italienischen Zeitung auf Katalanisch willkommen geheißen hatte. Zu den Unterzeichnern gehörte auch Jordi Bonet.
Die Sagrada Família, so schätzt Bonet, werde 2026 endgültig fertig sein. Bis dahin müsse er noch das aufwendige Glorienportal bauen und den gigantischen 170 Meter hohen Christus-Turm (inklusive Aufzug ins krönende Kreuz) auf das Kirchendach setzen. Hält Bonet den Zeitplan ein, würde die Sagrada Família im 100. Todesjahr von Gaudí vollendet. Bonet selbst wäre dann 101 Jahre alt und die Sagrada Família hätte 144 Jahre auf dem Turm. Für eine Kathedrale ist das geradezu jung.