Als Helaine Alves nach halbstündiger Fahrt aus dem Bus steigt, stehen fünf Soldaten vor ihr. Die Augen hinter Sonnenbrillen verborgen, die Zeigefinger an den Abzügen ihrer Gewehre, neben ihnen knattert ein Panzer.
Die Männer mustern Alves, lassen sie vorbei, lehnen sich gelangweilt zurück. Auch Alves scheint die Soldaten kaum wahrzunehmen, passiert sie federnden Schrittes.
Seit der Fußballweltmeisterschaft geht das schon so, es ist ein alltägliches Ritual, für beide Seiten. Kurz vor dem Anpfiff der WM wurden mehrere Tausend Soldaten in die größte Favela Rio de Janeiros geschickt, den Complexo da Maré. Man wollte die Drogengangs in dem Viertel, das zwischen Zentrum und Flughafen liegt, in Schach halten. Weil nun, drei Monate nach Abpfiff Präsidentenwahlen sind, entschied man: Die Soldaten bleiben. Sicher ist sicher.
Wenn Helaine Alves also, so wie heute früh, zur Arbeit kommt, betritt sie militärisch besetztes Gebiet. Sie läuft entlang unverputzter Häuschen, vor denen sich der Müll türmt und an vielen Stellen das Abwässer ungeklärt abläuft. „In der Maré leben die Abgehängten“, sagt Alves. Sie ist hier Lehrerin, gibt Unterricht an zwei öffentlichen Schulen, lehrt auch Erwachsene, die ihren Abschluss nachholen.
In gewisser Weise kehrt sie damit jeden Morgen in ihre Vergangenheit zurück. Denn es gab eine Zeit, da war es unwahrscheinlich, dass eine wie Alves einmal eine richtige Arbeit finden würde. Mit Vertrag und festem Gehalt. „Wahrscheinlicher war es“, sagt sie, „dass ich Putze oder Straßenverkäuferin geworden wäre“. Alves stammt vom gleichen Ort wie ihre Schüler, einem Ort namens Armut. Sie konnte ihm entkommen, gehört heute zur neuen brasilianischen Mittelschicht. Der Classe C.
Am Sonntag muss sich Alves entscheiden. Brasilien wählt einen Präsidenten. Der Wahlkampf ist der spannendste und giftigste der letzten zwölf Jahre. Von einem „Krieg zwischen zwei Brasilien“ ist die Rede: der reiche weiße industrialisierte Süden gegen den ärmeren ländlicheren Norden. Der smarte Kandidat der Oberschicht, Aécio Neves, gegen die Präsidentin der Armen, Dilma Rousseff. Alle Umfragen sagen ein Patt voraus.
Rousseffs Arbeiterpartei, die Partido dos Trabalhadores (PT), regiert Brasilien seit zwölf Jahren. Die Wahl ist auch eine Abstimmung über ihr Erbe. Und ob ihre Ära nun endet.
Dass die PT verbraucht sei und Brasilien einen „Wertewandel“ benötige, ruft Oppositionskandidat Neves eine Woche vor der Wahl. Verschwitzt steht er auf einer Bühne an der Copacabana in Rio, neben ihm lächelt seine zweite Ehefrau, ein ehemaliges Fotomodel. Sie trägt ein T-Shirt mit dem Konterfei ihres Mannes. Es ist farblich so verfremdet wie das berühmte rotblaue Wahlkampfplakat von Barack Obama. „Yes We Can.“
Kurz zuvor ist Neves auf der Pritsche eines Lieferwagens die Strandpromenade entlang gefahren. Unter einer gleißenden Sonne hat er zum Rhythmus eines eigens komponierten Popsongs sein Herz symbolisch in die Menge geworfen. Um ihn herum flatterten blaue Fahnen, auf denen „45“ steht. Es ist die Nummer, die die Brasilianer in die Wahlmaschinen eintippen müssen, wenn sie für Neves stimmen wollen.
Neves, 54, ist der Spross einer Politikdynastie. Sein Großvater, Tancredo, war 1985 zum Präsidenten ernannt worden, starb aber vor Amtsantritt. Aécio Neves selbst war Gouverneur des drittwichtigsten brasilianischen Bundeslandes, Minas Gerais, und erwarb sich in dieser Zeit das Image eines Pragmatikers und Playboys. Affären um Nepotismus und Alkohol am Steuer hängen ihm bis heute nach. Seine Gegner zeichnen gerne das Bild eines verwöhnten Muttersöhnchens aus reichem Hause.
Nun verspricht er vor allem eins: weniger Staat und das Ende der Ära PT. Einer der Fahnenträger an der Copacabana, Anfang fünfzig, T-Shirt, Bermudas, Baseballkappe sagt, dass Brasilien in Bürokratie ersticke. Er sei Besitzer einer Modeboutique und könne ein Lied davon singen. Die PT sei eine „Bande von Dieben“, wie der Korruptionsskandal um die staatliche Ölgesellschaft Petrobras beweise. Der Mann schimpft auf die hohe Inflation und ruft, dass die „kommunistischen Kanaillen“ vertrieben werden müssten. „Dilma raus! Die soll nach Kuba gehen!“
Aécio Neves hat natürlich einen anderen Habitus. Und kein Problem damit, zuzugeben, dass Brasilien unter der PT ein anderes Land geworden sei.
Ein besseres Land: 35 Millionen Menschen sind der Armut entkommen. Der Hunger wurde ausgemerzt. Es herrscht annähernd Vollbeschäftigung. Der Mindestlohn stieg um 262 Prozent. Alphabetisierung, Elektrifizierung auf dem Land, Hochschulstipendien, der Bau von Häusern für die Armen – überall positive Ergebnisse. Und am wichtigsten vielleicht: Mehr als die Hälfte der Brasilianer zählt heute zur Mittelschicht, der Classe C. So wie Helaine Alves.
Die 35-Jährige ist ein Kind des Wandels. Die erste Generation, die nicht mehr von der Militärdiktatur, sondern vom Internet geprägt wurde. Die weiß, dass heute vieles besser ist als früher. Die aber auch sieht, was nicht klappt. Und die keine Lust hat, ständig zurückzuschauen, sondern Ansprüche anmeldet.
Ohne Helaine Alves’ Stimme, das wissen Neves und Rousseff, können sie die Wahl nicht gewinnen. Für Neves reicht es nicht, Modeboutiquebesitzer zu begeistern. Und nur mit Sozialtransferempfängern kommt auch Rousseff nicht weit.
„Ich wuchs in der Rocinha auf“, sagt Alves auf dem Weg zu ihrer Schule. Es klingt wie ein Urteil, eine Guillotine. Die Rocinha ist eine riesige Favela im Süden Rios, und jahrzehntelang war Herkunft der entscheidende Faktor für die Chancen im Leben eines Brasilianers. Wer arm war, blieb es auch. „Meine Mutter war aus dem Nordosten hergezogen“, sagt Alves, „Landflucht“. Ihren Vater hat sie nie kennen gelernt. Dennoch gelang es Alves, auf einer der besten öffentlichen Schulen Rios angenommen zu werden. „Das habe ich auch der Bildungspolitik der PT zu verdanken, die Menschen wie mir die Türen öffnete.“
Heute lebt Alves mit ihrer Mutter in einer bürgerlichen Ecke in Zentrumsnähe. Sie hat dort eine Wohnung gekauft, mit einem Spezialkredit, den die Regierung für arme Antragsteller aushandelt hatte. Die Wohnung ist heute ein Vielfaches Wert, weil die benachbarte Favela von der Befriedungspolizei besetzt wurde. „Es wird zumindest nicht mehr täglich geschossen“, sagt Alves. An einer Wand ihres Hauses prangt dennoch „CV“, das Akronym einer Drogengang.
Helaine Alves war Anfang 20 als Inácio Lula da Silva mit dem Versprechen Präsident wurde, Brasilien gerechter zu machen. Alves war damals Mitglied in Lulas Arbeiterpartei, der PT. Die Wahl des ehemaligen Metallarbeiters, über den die Oberschicht spottete weil er nicht sprach, aß und sich kleidete wie sie, stellte eine kleine Revolution dar. „Wir waren voller Hoffnung“, sagt Alves. Schon bald schuf die Regierung groß angelegte Sozialprogramme, die heute weltweit als vorbildlich gelten. Und sie legte sich den Slogan zu: „Brasilien: ein Land für alle.“
Aber schnell wurden auch die Grenzen des Projekts deutlich. Um Mehrheiten im chaotischen Kongress zusammenzukriegen, schmiedete Lula Allianzen mit den alten Eliten. Diese verhinderten tiefgreifende Reformen, die ihre Privilegien hätte gefährden können. Stattdessen forderten sie Posten, so dass es heute in Brasilia 39 Ministerien gibt, oft mit sich überschneidenden Kompetenzen. Schon in den ersten Regierungsjahren verspielte die PT so ihren Nimbus als revolutionäre Kraft. Am schlimmsten war, dass sie zudem – traditionelle brasilianische Politik – ein System des Stimmenkaufs im Parlament etablierte.
Auch eine Landreform, eine Steuerreform oder eine Reform der Sicherheitskräfte ließ Lula liegen.
Und in der Wirtschaft? Setzte er auf Export: Soja, Eisenerz, Öl. Die Preise waren ja hoch, und die Chinesen kauften. So finanzierte seine Regierung die Sozialprogramme, mit denen Millionen aus der Armut geholt wurden. Sie waren jetzt Konsumenten, gingen zum ersten mal im Leben shoppen: Fernseher, Waschmaschinen, Computer. Dazugehörigkeit definierte sich durch Konsum. Oft bezahlt auf Pump, mit Kreditkarten. Auch dieses Modell ist jetzt an seine Grenzen gestoßen.
Als Dilma Rousseff 2010 Lulas Nachfolge antrat, galt Brasilien zwar als kommende Macht des 21. Jahrhunderts – symbolisiert durch die Vergabe der Fußball-WM und der Olympischen Spiele – doch Helaine Alves war schon längst nicht mehr bei der PT. „Ich war enttäuscht. Die PT vergaß den Umbau Brasiliens.“ Alves hatte jetzt zwar ein I-Phone, aber auf ihrem Weg zur Arbeit stank der Müll zum Himmel. Daneben standen 16-Jährige Dealer mit halbautomatischen Waffen.
Bei den großen Protesten im Juni 2013 gegen die Milliardenausgaben für die Fußball-WM war Alves jeden Tag dabei, sah wie die Militärpolizei die Demonstranten mit Tränengas und Schockbomben eindeckte. Anschließend streikte sie mit ihrer Gewerkschaft gegen die Arbeitsbedingungen an Rios Schulen. Und zur WM – als Schulferien ausgerufen wurden, um die Verkehrssituation zu entspannen – reiste Alves nach Deutschland und Italien. „Fußball ist mir so was von egal.“
Auch das, die Möglichkeit zu Reisen, unterscheidet sie von ihrer Mutter, die, 60 Jahre alt, Brasilien nie verlassen hat und die Welt für tendenziell gefährlich hält. „Wenn ich mein Geld ausgebe“, sagt ihre Tochter, „dann um andere Länder zu sehen“.
Nun buhlen Dilma Rousseff und Aécio Neves um Helaine Alves. Nur: Alves ist weder von Dilma noch Aécio überzeugt.
Präsidentin Rousseff, Tochter bulgarischer Einwanderer, wirkt bei ihren Auftritten vor allem stoisch. Wie mit einem Panzer ausgestattet, durch den fast keine Emotionen zu dringen scheinen. Sie sei so distanziert, sagen manche, weil sie als junge Guerillera in den Kerkern der Diktatur gefoltert wurde, es sei ihr Umgang mit dem Schmerz.
Wenige Tage vor der Wahl fährt Rousseff auf einem Pick-up-Truck durch einen der Vororte, die sich nördlich von Rio in die Ebene ausdehnen. Sie trägt eine Schärpe auf der es heißt: „Gegen Gewalt gegen Frauen“. Die Stimmung ist wie auf einem Volksfest. Die Präsidentin ruft dem zumeist dunkelhäutigen Publikum zu: „Was gut ist, wird fortgesetzt. Was nicht klappt, wird verbessert.“ In der Menge werden vor Freude Böller gezündet.
Wie eine strenge Mutter warnt Rousseff dann vor ihrem Herausforderer. Der sei ein Risiko, einer, der den Wandel verspreche, aber in Wirklichkeit die Zeit zurückdrehen wolle.
Wandel! Auch Helaine Alves sehnt ihn herbei. „Besser gestern als heute“, sagt sie mit einer brasilianischen Redewendung.
Als Alves zum Tor ihrer Schule kommt, stehen da einige Frauen und telefonieren aufgeregt. Sie sagen, dass einer Freundin von ihnen im Hospital der Uterus entfernt worden sei. Danach hätte man sie einfach heimgeschickt, nun ginge es ihr elend und sie brauche Hilfe.
Alves kennt die Frauen, es sind die Mütter ihrer Schülern. Sie erzählt eine ähnliche Geschichte. Alves’ an Asthma erkrankter Neffe starb letztes Jahr im Krankenhaus, nachdem ihm ein falsches Medikament verabreicht worden war. Die Frauen schimpfen entsetzt über das „fürchterliche“ Gesundheitssystem.
Es ist dieser Alltag, der Helaine Alves oft denken lässt, dass Brasilien nicht das schöne Mittelschichtenland der PT-Fernsehspots sei. Brasilien sei eher das Land des 1-7. Ein Ort des schönen Scheins, von dem nicht viel bleibe, wenn man sich mit Europa vergleiche.
Und dennoch will Alves am Sonntag für Dilma Rousseff stimmen. Aus Mangel an Alternativen. Denn Neves, der wäre nun wirklich eine Katastrophe. Der repräsentiere das Gegenteil von allem, woran sie glaube, sagt Alves: „Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität.“ Aécio stehe für das Brasilien der abgeschotteten Eliten. Außerdem sei die Mission der PT, Brasilien gerechter zu machen, noch nicht abgeschlossen.
Alves betritt ihr winziges Klassenzimmer, dort sitzen auf 16 Quadratmetern ein halbes Dutzend Erwachsene, der älteste ist 55 Jahre alt. Ein bisschen scheinen sie sich zu schämen, das sie zur Schule gehen. Alves erklärt ihnen ihr neues Projekt: Sie sollen mit ihren Handykameras das ungelöste Müllproblem in der Maré dokumentieren. Die Schüler sind erst skeptisch, wollen aber mitmachen, das sei ja ein wichtiges Thema.
Zwei Tage später postet Helaine Alves einen Eintrag auf Facebook: „Heute blieb meine Schule geschlossen. Wieder einmal. Schießereien zwischen Drogengangs in der Maré. Die Situation ist angespannt. Am Sonntag sind Wahlen.“