Die starken Frauen von Ruanda

Die starken Frauen von Ruanda

Epiphanie Mukashyaka stürmt bergan, sie trägt ein türkises Kleid und hochhackige Schuhe. Als ihr Handy klingelt, telefoniert sie im Laufen weiter, ruft ein paar Anweisung. Die märchenhafte Landschaft interessiert sie nicht: Hügel bis zum Horizont, an den Hängen stehen pittoreske Lehmhütten, in den Tälern Wälder, darüber wölbt sich der Äquatorhimmel.

An einer Kaffeeplantage macht Mukashyaka halt, die Ernte ist in vollem Gange, zwei Dutzend Frauen pflücken Kaffeekirschen. Der Bauer, dem das Land gehört, ist da und wird sofort von Mukashyaka zur Seite genommen: „Warum deckst du den Boden nicht mit Bananenblättern ab, er trocknet aus” schimpft sie. “Wieso rufst du mich nicht zurück? Du zahlst den Arbeiterinnen zu wenig.“ Der hagere Mann zieht vor der kleinen stämmigen Mukashyaka seine Mütze. Vor ihm steht eine der erfolgreichsten Unternehmerinnen Ruandas. Mukashyaka kauft Kaffee von 7000 Kleinbauern, wäscht und exportiert ihn – und macht eine Millionen Dollar Umsatz pro Jahr. „Der Kaffee hat mich zurück ins Leben geholt“, sagt die 50-Jährige.

Es gab eine Zeit, da war Epiphanie sich sicher, dass sie umgebracht würde. Es ist diese düstere Vergangenheit, vor deren Hintergrund ihre Erfolgsgeschichte zur Sensation wird. Vor nicht einmal 20 Jahren, am 7. April 1994, rief die faschistische Regierung Ruandas zum Völkermord auf. Die Mehrheit der Hutus sollte die Minderheit der Tutsis ausrotten. Epiphanie und ihr Mann, die damals einfache Bauern waren, handelten schnell: Sie verteilten ihre Kinder auf Bekannte und flohen getrennt. Die beiden Tutsis dachten, so hätten sie bessere Überlebenschancen.


100 Tage dauerte das Morden, und als Epiphanie zurückkehrte in ihre Heimatstadt Gikongoro waren eine Millionen Tutsis und moderate Hutus erschossen, zerhackt oder totgeprügelt worden. Ein Zehntel der Bevölkerung war nicht mehr am Leben. Nie zuvor in der Geschichte waren in so kurzer Zeit so viele Menschen umgebracht worden. „Der Geruch des Todes lag über allem“, erinnert sich Mukashyaka. „Die Häuser waren zerstört, die Ernten verloren, die Schulen verwaist. Nur Leichen, überall nur Leichen. Auf den Straßen, in den Wäldern, in den Brunnen.“

Es gab damals weder Wasser noch Strom. Und es gab auch kaum mehr Männer. Denn die Hutu-Milizen hatten es während des Genozids vor allem auf männliche Tutsis abgesehen. Die Frauen hielten sie zunächst gefangen, um sie zu vergewaltigen. Als die Milizen und die Armee dann vor den anrückenden Tutsi-Rebellen in den Kongo flohen, blieben viele Frauen und Mädchen zurück – Tutsis wie Hutus. Sie machten nun 70 Prozent der Bevölkerung aus. Teils schwer traumatisiert, übernahmen sie Felder, Firmen und Posten und teilten die Hunderttausenden Waisenkinder unter sich auf. Es war eine stille Revolution, doch sie hat die kleine Nation im Herzen Afrikas verwandelt. In keinem Land der Welt findet man heute mehr Frauen in entscheidenden Positionen als in Ruanda. UN-Experten halten das für einen der Hauptgründe für den Aufstieg des Landes zu einer der fortschrittlichsten Nationen Afrikas: mit Stabilität, Sicherheit und einem seit Jahren andauernden Wirtschaftswachstum.

Wenn Zahlen für sich sprechen, dann hier: Fast die Hälfte der Unternehmen ist in weiblicher Hand. Frauen leiten neun von 24 Ministerien. Im 80-köpfigen Parlament bilden sie mit 45 Abgeordneten die Mehrheit – das ist weltweit einmalig. Ruanda hat eine oberste Richterin, die Hauptstadt Kigali wird von einer Bürgermeisterin regiert, diese hat eine Stellvertreterin. Frauen führen ein Drittel der Haushalte alleine und stellen 55 Prozent der Arbeitskräfte. Sie bauen Straßen und Häuser, sitzen in Banken, managen Hotels, lehren an Universitäten, fahren Taxi und sprechen Recht. Epiphanie etwa entscheidet in einem Gachacha mit – so heißen die Dorfgerichte, die von der Regierung mit der Aburteilung der Völkermörder beauftragt wurden. „Women Run the Show“ hat die „Washington Post“ getitelt.

Dabei ist es nichts Besonderes, dass Frauen in armen Ländern mehr Lasten tragen als Männer. Das Neue ist, dass sie in Ruanda mitentscheiden. Mit positiven Effekten: Die Korruption geht in Ruanda rapide zurück, was ein UN-Bericht direkt auf den Einfluss der Frauen zurückführt. Dieselbe Studie stellt fest, dass Ruanda ohne seine Frauen niemals den Horror der Vergangenheit überwunden hätte: „Sie konnten besser vergeben.“

Das heißt nicht, dass Frauen am Genozid unschuldig waren. Ministerinnen organisierten das Töten. Lehrerinnen agitierten gegen „Tutsi-Kakerlaken“. Nonnen verrieten Flüchtlinge an ihre Häscher. Bäuerinnen mit Kindern auf dem Rücken erschlugen Bäuerinnen mit Kindern auf dem Rücken. Als 2002 über 110.000 Ruander wegen Völkermords angeklagt wurden, waren 3500 Frauen darunter.

Epiphanie Mukashyaka hat ihren Mann nach dem Genozid nicht wieder gesehen, und eins ihrer sieben Kinder ist bis heute verschollen. Aber wie selbstverständlich nahm sie zwei Waisenkinder bei sich auf. „Es war schwer, Mut zu fassen“, beschreibt sie den Neuanfang. „Ich wollte nichts mehr tun.“ Doch Mukashyaka riss sich zusammen und kam dank eines neuen Gesetzes, das es Frauen erlaubte, Kredite aufzunehmen, an Geld. Sie bezog Kaffee von den Bauern aus den Bergen und verkaufte ihn weiter. Die Bauern drängte sie, die Qualität ihrer Bohnen zu verbessern. 2003 gründete Mukashyaka das Unternehmen Bufcoffee, und mit weiteren Krediten baute sie zwei Kaffeewaschanlagen. Beim Rückweg von der Plantage sagt sie: „Früher traute ich mich nicht, alleine über die Straße zu gehen. Ich hielt mich an der Hose meines Mannes fest.“ Epiphanie lacht ein bisschen über sich selbst, als sie das erzählt.

Heute beschäftigt Bufcoffe 300 Arbeiterinnen und exportiert jährlich 200 Tonnen Gourmetkaffee in die USA, nach England und Japan. Am Nachmittag trifft Mukashyaka im Büro ihren Verkaufsleiter. Er ist Hutu, „aber das spielt keine Rolle mehr“, wiederholen beide schnell das Mantra der ruandischen Regierung, die die Bezeichnungen verboten hat.

Aber kann man Versöhnung vorschreiben?

Hope Azeda hat sich ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden. Es lässt die große schlanke Frau noch imposanter wirken. Aufrecht sitzt sie im Zuschauerraum eines kleinen Theaters in Kigali und beobachtet sieben Schauspieler, die auf der Bühne ein Lied über die tausend Hügel Ruandas anstimmen. Sie unterbricht die jungen Darsteller und lässt die Szene wiederholen. „Welche Version war besser“, ruft Azeda, „und warum?“ Mit jedem erneuten Versuch wir die Darstellung dichter. Die 31-jährige Azeda ist Ruandas berühmteste Dramatikerin. Zum 10. Jahrestag des Genozids führte sie ihr Stück „Africa’s Hope“ im Fußballstadion von Kigali auf. Nun tourt sie mit ihrer Theatertruppe um die Welt: London, Moskau, New York. Am nächsten Morgen geht es nach Tokio.

Azeda, die so etwas wie ein kulturelles Aushängeschild Ruandas ist, hält es für völlig normal, dass die Ruanderinnen heute so selbstbewusst sind. „Was soll ihnen denn noch Angst machen?“, fragt sie beim Mittagessen auf der Theaterterrasse. Viele von Azedas Stücken handeln vom Genozid, der zum negativen Gründungsmythos der wiederauferstandenen Nation geworden ist. „Und dennoch”, kritisiert sie, “gibt es keine Sprache der Trauer, weil die Ruander keine Gefühle zeigen können“. Zur Veranschaulichung wählt sie einen Vergleich: „Wenn eine kongolesische Frau betrogen wird, dann vermöbelt sie ihren Mann. Wenn es einer Ruanderin passiert, dann geht sie. Ohne eine Träne.“

Außerdem aber, sagt Azeda, verhindere die Regierung einen Dialog, weil sie das Gedenken ritualisiert habe. Tatsächlich hält der autoritäre Präsident Paul Kagame den Deckel auf eine Gesellschaft, in der es untergründig brodelt. Fast jeder hier war Opfer oder Täter. Auf dem Land grassiert der Alkoholismus. Und in einer der Diskotheken Kigalis bekommt man eine Ahnung von den Traumata dieses Landes, wenn junge Menschen auf der Tanzfläche plötzlich in Tränen ausbrechen. Gleichzeitig schwelt im Verborgenen der Hutu-Revisionismus, der den Tutsis die Schuld am Völkermord gibt. Unter Verweis auf diese Bedrohung lässt Kagame die Medien und seine Gegner streng kontrollieren.

Ihre Stücke sieht Azeda daher auch als Versuch zu einer offeneren Verständigung. Die Rolle der Mediatorin fällt ihr allerdings auch leichter, weil sie zu den 750.000 Exil-Ruandern gehört, die erst nach dem Genozid zurückkehrten und unbelastet sind. Azedas Eltern waren in den sechziger Jahren vor der Hutu-Diktatur nach Uganda geflüchtet. In den Neunzigern schlossen sich Azedas acht Brüder dann der ruandischen Exil-Armee RPF an. 1994 marschierte sie nach Kigali und beendete die Hutu-Herrschaft, dabei wurde ein Bruder getötet. Bis heute rekrutiert sich die Regierung aus den Reihen der RPF, der viele weibliche Offiziere angehörten. Azedas Familie gehört also zu den Nutznießern der neuen Verhältnisse. Dennoch sagt sie: „Ich schreibe erst eine Komödie, wenn es Meinungsfreiheit gibt.“

Szenenwechsel, drei Autostunden von Kigali entfernt, in den Bergen an der Grenze zum Kongo. Elizabeth Nyirakaragire geht zügig durch den lichtdurchfluteten Bambuswald. Sie zeigt auf Spuren in der feuchten Erde: „Elephants“, sagt sie. „Bad for gorillas.“ Plötzlich steht sie vor einem dicht bewachsenen Hang, ihr Höhenmesser zeigt 3000 Meter an. Nyirakaragire schickt ihren Begleiter vor, der mit der Machete eine Schneise durch das Dickicht schlägt. Nach 15 Minuten Aufstieg macht Nyirakaragire Grunzgeräusche. Sie werden von einem Schmatzen aus dem Unterholz beantwortet. Nur wenige Meter entfernt sitzt eine Gorillafamilie und frisst. Nyirakaragire zieht ein Notizheft aus ihrer Uniform und beobachtet die elf Tiere. Sie schaut auf ihre Uhr und schreibt. Nach ein paar Minuten nickt sie: „Die Weibchen husten weniger.“

Man kann Elizabeth Nyirakaragire ohne Übertreibung als wichtigste Tierärztin Ruandas bezeichnen. Sie ist verantwortlich für 250 Berggorillas in den Virunga-Bergen an der Grenze zum Kongo. Die Tiere sind nach Kaffee und Tee die drittwichtigste Einnahmequelle Ruandas, denn wenn Touristen heute hierher kommen, dann um die Gorillas zu sehen, von denen es weltweit noch rund 700 gibt. Für eine Stunde mit den Primaten zahlen die Touristen 500 Dollar. Der Kontakt mit den Menschen ist allerdings auch das größte Risiko für die Tiere. „Schon ein Schnupfen kann lebensgefährlich sein“, sagt Nyirakaragire.

Zurzeit steigt die 46-jährige Hutu jeden Tag in die Berge, weil in einem der Gorillaclans ein Husten grassiert. Morgens um sechs schwingt sie sich auf ihre Suzuki, fährt im ersten Sonnenschein zur Forschungsstation und funkt ihre Spurensucher an, die immer wissen, wo in dem Vulkanmassiv sich welche Gorillafamilie gerade aufhält.

Nach einer halben Stunde hat Nyirakaragire genug gesehen und schlittert in ihren Gummistiefeln über das feuchte Gestrüpp hinab. Im Bambuswald wird sie von stummen Soldaten mit Kalaschnikows abgeholt. Der Nationalpark grenzt direkt an den Kongo, wohin die marodierenden Hutu-Milizen 1994 flohen. Vier Jahre später kehrten sie zurück und überfielen Nyirakaragires Heimatstadt Ruhengeri. Die Kämpfer wollten auch ihren Mann rekrutieren. Doch der Hutu weigerte sich und wurde erschossen. Darüber, wie auch über den Genozid, spricht die Tierärztin nur zögerlich. „Es war eine schlimme Zeit“, sagt sie. Seit dem Verlust ihres Mannes zieht Nyirakaragire ihre drei Kinder alleine auf, leistet sich aber einen Koch. „Es gibt ein Sprichwort“, sagt sie: „Der Mann geht, das Wissen bleibt.“

Wie man alleine in einem der ärmsten Länder der Welt überlebt, wissen auch viele der 120 Frauen, die sich in der Nähe des Dorfes Murama auf einem Maniokfeld niedergelassen haben. Vor ihnen steht Imaculée Mukaremera. Sie ruft ihnen zu, dass 30 Frauen noch nicht für den Bau des Ziegenstalls bezahlt haben, und droht mit einer Geldbuße. „Nächster Punkt: Welcher Mann soll unsere Ziegen hüten? Vorschläge?“ Nach einer viertelstündigen Diskussion unter praller Sonne einigt man sich darauf, dass eine Abordnung mit den Kandidaten ein Gehalt aushandeln soll. Mukaremera schließt die Versammlung. Die Frauen klatschen. Sie binden sich ihre Kinder auf den Rücken, greifen nach ihren Hacken und graben das fußballfeldgroße Feld binnen zehn Minuten um.

Sie alle gehören einer Frauenkooperative an. Zwei Tage in der Woche bestellen die Tutsis und Hutus gemeinsam mehrere Hektar Maniok- und Erdnussfelder. Die Kooperative prosperiert. Von ihren Einnahmen haben die Frauen, unter denen viele Witwen sind, Land und Ziegen gekauft. Nun wollen sie sich Kühe zulegen und eine Nähwerkstatt gründen.

Zu ihrer Präsidentin haben sie Imaculeé Mukaremera gewählt. Wahrscheinlich, weil die 26-Jährige nicht nur geradeheraus spricht, sondern auch eine erstaunliche Souveränität und Coolness ausstrahlt. Am Abend stampft sie hinter ihrem kleinen Lehmhaus Erdnüsse, die ihr Mann Efrain für sie schält. Die beiden kleinen Kinder sitzen auf der Erde und lutschen an Kartoffelknollen. Doch die Idylle trügt. Die Toilette der Familie besteht aus einem Loch in der Erde, das Haus hat keine Fenster, es gibt weder Strom noch Wasser. „Die Armut ist unser größtes Problem“, sagt Mukaremera. Zudem wüteten die Hutu-Milizen in der Gegend besonders grausam und hinterließen bei den Überlebenden tiefe seelische Narben.

„Ich dachte nach dem Genozid, dass es unmöglich ist, wieder mit den Hutus zusammenzuleben“, berichtet die Präsidentin. „Aber heute geben wir uns wieder Salz und haben keine Angst, das Wasser der anderen zu trinken, weil es vergiftet sein könnte.“ Außerdem heirate man wieder untereinander. Mit Anfang 20 lernte Mukaremera im Kirchenchor ihren Mann Efrain kennen. Er ist der Sohn eines Hutu-Mörders, der im Gefängnis starb. Seit ihrer Hochzeit zahlt das junge Paar nun die Entschädigung ab, zu der Efrains Vater verurteilt wurde.

„Vergeben ist schwierig“, sagt Mukaremera, „aber welche andere Wahl haben wir?“