Die Sandmenschen der Copacabana

Die Sandmenschen der Copacabana

Marcelos Oliveiras Leben ist auf Sand gebaut. 1000 Quadratmeter, feinkörnig und hell, leicht zum Atlantik hin abfallend. Sanfte Wellen, gleichmäßiges Rauschen.

„Ein schöner Arbeitsplatz“, sagt er. Der Arbeitsplatz, das ist eine barraca am berühmtesten Strand der Welt. Ein Stand, vier Metallstangen im Rechteck in den Sand der Copacabana gerammt. Dazwischen eine Plastikplane als Dach gespannt. Ein Klapptisch steht da, eine Schale mit Limonen, Maracujas, Ananas darauf. Daneben bauchige Flaschen: Cachaça, Wodka, Rum. Auf dem Boden liegen, grün und schwer, ein Dutzend Kokosnüsse. In einer Styroporkiste lagert das Wichtigste: das Eis. Der 39-jährige Oliveira, breites Kreuz, breite Hände, breiter Schädel, arbeitet seit 25 Jahren hier, schon sein Vater war Strandverkäufer.

Immer barfuß, immer in kurzen Hosen, immer den Salzgeruch in der Nase und den Blick hinaus auf den Ozean. Marcelo Oliveira versorgt die Durstigen des Strandes. Sieben Tage in der Woche, von morgens bis abends, acht Stunden lang. „Andere kommen zum Vergnügen“, sagt er. „Mich ernährt die Copacabana.“

Die Fläche, die Oliveira bewirtschaften darf, ist der Sand zwischen seiner barraca und dem 150 Meter entfernten Meer. Er vermietet Sonnenschirme und Klappstühle, verkauft Sandwiches, mixt Drinks. Ganz offiziell. Die Lizenz, 40 Euro pro Jahr, liegt eingeschweißt aus.

Noch während er redet, ahnt Oliveira etwas. Unfehlbarer Instinkt. Auf seinem Territorium geht etwas schief, ein Sonnenschirm neigt sich in der Brise. Zwei Frauen dösen in Bikinis auf Klappstühlen. Ahnen nicht, dass ihnen gleich der Schatten verloren geht. Oliveira eilt herbei, fängt den Schirm auf, stößt ihn mit ganzem Gewicht tiefer in den Boden, schiebt Sand dazu. Die Frauen haben nichts gemerkt.

Schon dieser rhythmische Klang: Copa-ca-bana. Ein kleiner Song, der in den Köpfen der Menschen einen Film starten lässt, ein Daumenkino aus Postkartenmotiven. Copa-ca-bana, das schwingt. Das sind leicht bekleidete, goldgebräunte Menschen vor sonnendurchfluteter Strandkulisse. Dawid Danilo Bartelt sagt: „Sehnsuchtsort!“

Bartelt, lange Glieder, fragende Augen, überblickt den Strand von der Mitte aus, steht mit lederner Aktentasche in der rechten und einem Buch in der linken Hand vor dem „Copacabana-Palace“. Hier steigen sie alle ab, die Rolling Stones, der Bundespräsident, Lady Gaga. Bartelt sagt: „Die Copacabana lebt natürlich von ihrem Mythos. Sie ist eine Erfindung, der Strand wurde künstlich aufgeschüttet.“ Aufnahmen aus den 1920er Jahren zeigen, wie einst vor dem „Copacabana-Palace“ schroffe Felsen ins Meer mündeten. Die größte Stranderweiterung, 70 Meter, fand erst vor 40 Jahren statt.

Bartelt, 50 Jahre alt, ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. Er kann als Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio, als Historiker und Liebhaber Brasiliens, dieses Land erklären wie nur wenige – in all seiner oft schwer zu ertragenden Widersprüchlichkeit. Bartelt hat im Wagenbach-Verlag eine Biografie der Copacabana veröffentlicht. Über ein Stadtviertel, das mehr ist als nur der Strand und ohne den Strand doch gar nichts wäre. Natürlich spielt er auch die Hauptrolle in Bartelts Buch, das um 1500 beginnt und in den Favelas der Gegenwart endet. Obwohl nur vier Quadratkilometer groß, ist die Copacabana mit 160 000 Einwohnern das am dichtesten besiedelte Viertel Rios.

Wer den Strand verlässt, steht sofort zwischen engen Häuserschluchten, die das Licht zu schlucken scheinen. Auf Hauptstraßen, durch die der Großstadtverkehr dröhnt, Tag und Nacht. Dieselbusse, deren Abgase das Atmen erschweren. Nicht zufällig leiden viele Bewohner der Copacabana unter Atembeschwerden. Sie leben in 88 000 oftmals winzigen Wohneinheiten, auf hunderte Appartementblocks verteilt. „In Copacabana liebkost allein der Strand die Horizontale.“ So formuliert es Bartelt.

Die Copacabana, sie kann hässlich sein, laut, anstrengend. Und doch spielt sie in der Selbst- und Fremdwahrnehmung Brasiliens eine entscheidende Rolle. „Sie steht für das Ideal von Rassendemokratie und klassenloser Gesellschaft“, sagt Bartelt. In der Badehose sind alle gleich. Das ist die Utopie. Die Wirklichkeit aber ist anders. „Die Copacabana ist ein Ort sozialer Konflikte“, sagt Bartelt, „sie ist komplex und ausdifferenziert“. In seinem Buch hat er sie in einer Mischung aus Essay, historischem Sachbuch und Sozialstudie durchdrungen. Denn nur so kann man Copacabana ja überhaupt nahekommen. Wenn man den Strand als Bühne betrachtet, sich das tägliche Theater anschaut, das sie hier aufführen, die Sandmenschen.

Hoch über Marcelo Oliveiras Stand knattern die Fahnen der 32 WM-Teilnehmerländer im Wind. Auf einem weithin sichtbaren Banner heißt es: „38“. Marcelos Nummer. Sie bestimmt seine Position auf der vier Kilometer langen Strandsichel. Nordnordöstlich, zwischen dem ersten und zweiten der insgesamt sechs Posten, die den Strand gliedern und in denen Rettungsschwimmer untergebracht sind.

Marcelos Abschnitt ist einer der angenehmsten. Keine gedrängten Leiber wie weiter südlich, wo die Metrô-Stationen nicht weit sind und ein ausgelassenes Heer sein Lager aufgeschlagen hat. Hellblau uniformierte argentinische Besatzung, laut singend. In Scharen sind sie aus dem Süden gekommen, in Campingbussen und Kombis. Ihre Lieder und Schlachtgesänge lassen die Anwohner seit Tagen nicht schlafen. Ausgerechnet die Argentinier haben so etwas wie WM-Stimmung an die Copacabana getragen. Erste kritische Artikel über die Belagerung erscheinen in den Zeitungen. Vielleicht, heißt es erschrocken, bleiben die Argentinier nach der WM hier. Denen geht es wirtschaftlich ja gerade schlecht.

Der Eintritt zu Marcelo Oliveiras Bühne kostet zehn Reias, etwa drei Euro. Gegenleistung: Klappstuhl und Schirm. Oliveira selbst wohnt mit seiner Frau in Chapéu Mangueira, einer kleinen ruhigen Favela am Hang hinter den Apartmentblocks, vom Strand aus nicht zu sehen, benannt nach einer alten Hutfabrik und seit einiger Zeit in Mode bei jungen Ausländern. Sie liegt keine zehn Minuten von seinem Arbeitsplatz entfernt.

An guten Tagen, wenn die Sonne scheint, wenn Touristen in der Stadt sind, vielleicht sogar noch Sonntag ist, verdient Oliveira 500 Reais. Dann stellt er sogar Aushilfen ein. Aber an schlechten Tagen, wenn es regnet – und statistisch passiert das an 109 Tagen im Jahr – verdient Marcelo gar nichts. Pro Quadratmeter gehen in Rio de Janeiro jährlich 1173 Millimeter Wasser nieder, doppelt so viel wie in Berlin. Über der Copacabana liegt dann eine bleierne Wolkendecke. Fotos von solchen Regentagen findet man allerdings nicht. Als wäre die Copacabana eine Diva, die nur an Sonnentagen Model steht. An Tagen wie diesem, wolkenloser Himmel, die Sonne brennt, der Sand knirscht warm und weich unter den Füßen.

Dort drüben lässt sich einer einschmieren. Dunkle Hände fahren über einen Rücken. Sonnencreme Stärke 30. Das Verhältnis scheint klar. Die Frau: schwarz, jung, in knappem Bikini. Der Mann: weiß, älter, Angelsachse, schütteres Haar und Bauch. Das „Balcony“ ist hier ganz in der Nähe, die Bar der Anbahnung. Die Stadtregierung hat sie mit dem Beginn der Weltmeisterschaft aus Scham geschlossen. Probleme mit der Hygiene – angeblich. Nun stehen die Frauen, die zuvor auf den Barhockern die Beine übereinanderschlugen, auf dem Bürgersteig davor. Bevor sie dorthin laufen, legen sie eine rote Rose an die Straßenecke. Für die Orixás, die Götter. Ein Candomblé-Ritual, afro-brasilianische Religion. Es ist eine Bitte um Glück, Geld und einen Gringo.

Dem Eingecremten scheint die Situation nicht ganz geheuer zu sein. Er registriert die Blicke der anderen Männer, nippt an einer Dose Bier, die Marcelo Oliveira ihm im Styroporkühler gebracht hat. Für die Frau ist es Routine. Früher gab es an der Copacabana das „Help“. Der Name war Programm. Man „half“ sich. Kaltes Geld aus dem Norden für einen warmen Körper aus dem Süden. Die Bar musste 2010 schließen, das „Balcony“ übernahm.

Ein Mädchen wie jenes, das jetzt dem Dicken über den Kopf streicht, wird später in einem der Saftläden in Copacabana sagen: „Klar gibt es Dinge, die man nicht kaufen kann. Aber ich mag das Geld. Ich lebe so, wie ich es will.“

Eleno Candido ruft: „Euer Geld ist in euren Taschen zu nichts nütze.“ Er schlurft mit schweren Schritten über den Strand. Candido trägt zwei Aluminiumfässer, an Riemen über die Schultern geworfen, ein Handtuch darunter, damit sie nicht einschneiden. Jedes der Fässer wiegt gefüllt 18 Kilo. Candido, 44, vor zehn Jahren aus dem armen Nordosten Brasiliens eingewandert, verkauft Mate-Tee. Linkes Fass. Und Zitronenlimonade. Rechtes Fass. Eisgekühlt, der Becher für vier Reais. Jeden Tag zieht er über die Copacabana. Er sagt: „Meine Waden sind stark, mein Rücken ist stark, mein Wille ist stark.“

Gegen das Fifa-Fanfest, das einen Teil des Strandes in ein von Metallplatten abgetrenntes Werbegelände verwandelt hat, kann Candidos Stärke allerdings nichts ausrichten. Es wurde mitten in Candidos Feld hinein gebaut, dort wo viele seiner besten Kunden waren. Die kommen nun nicht mehr: Anwohner, die jeden Tag ihre Tücher oder Klappstühle an derselben Stelle im Sand platzieren. Sandmenschen sind Gewohnheitstiere. „Handtücher benutzen nur die Ausländer“, sagt Candido. Wo Handtücher sind, versucht er es gar nicht erst. „Der Ausländer traut dem Unbekannten nicht. Er glaubt, er vergifte sich.“

Auch der zweite große Kundenstamm von Candido ist heute zu Hause geblieben. Am Morgen war es bewölkt, und die Armen in den Favelas der Nordzone trauten dem Wetter nicht. Als es dann aufklarte, war es zu spät, um noch aufzubrechen. Aus der Nordzone fährt man eine Stunde an die Copacabana, mindestens. Auch Candido kommt von dort. Er lebt in einer vergessenen Favela auf einem Hügel, das Viertel spielt für das Image Rios keine Rolle. Eine Drogengang hat dort das Sagen. „Ich würde gerne an der Copacabana wohnen“, sagt Candido. Der soziale Aufstieg vollzieht sich in Rio mit dem Umzug nach unten.

In einem Kiosk auf der Promenade erzählt Dawid Bartelt, wie sich die Strandmenschen nach kaum erkennbaren Merkmalen differenzieren. Er nennt sie „Stämme“. Da gebe es die stockkonservativen Alteingesessenen, die Homosexuellen, die Favelabewohner, die Volleyballspieler. Jede Gruppe belegt einen Abschnitt am Strand – und einen auf der Zeitachse des Tages.

Bartelt selbst ist regelmäßiger Strandgänger, er hat in Brasilien studiert, ist mit einer Brasilianerin verheiratet. Nur seine Kinder mögen die Copacabana nicht. Sie wollen nach Europa und sind dabei ein wenig wie die frühen Einwohner Rios, die dem Meer jahrhundertelang den Rücken kehrten, weil sie von ihm nichts Gutes erwarteten. „Die Copacabana war Wildnis hinter Felsen“, sagt Bartelt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie von der Bourgeoisie entdeckt, die aus dem stickigen Zentrum zu entkommen suchte. Der Strand, der zuvor nichts galt, wurde von der entstehenden Freizeitgesellschaft in Beschlag genommen und als Investitionsobjekt interessant. Das große Baden begann.

Hunderte Verkäufer wie Eleno Candido ziehen jeden Tag den Strand entlang. Sie tragen Bikinis und Badehosen herbei, Strandtücher, Hüte und Sonnenöl; sie bieten luftige Weizenmehlringe der Marke Globo an und eiskalte Coke aus schweren Kühlboxen. Manche tragen mobile Kreditkartenterminals bei sich. Die Preise haben sie abgesprochen, damit keiner den anderen unterbietet. Sie tragen Sonnencreme, Schutzfaktor 60. Aber Stehenbleiben dürfen sie nicht. Es könnten die beige-uniformierten Beamten von der Guarda Municipal erscheinen. Rios Regierung will vermeiden, dass die fliegenden Händler neue Stände aufbauen. Rio soll ordentlich werden.

Christina Araujo gefällt das. Sie kommt fast jeden Tag an den Strand. Die 38-Jährige wohnt in einer Zweizimmerwohnung in der nahen Avenida Nossa Senhora da Copacabana. Christina Araujo und der fliegende Händler Eleno Candico leben in verschiedenen Rios, hier an der Copacabana begegnen sie sich. Die Radiologin, die gerade von der Nachtschicht gekommen ist, hat in ihrem Leben noch keine Favela betreten. „Nicht mein Ding“, sagt sie und meint, dass die Copacabana nicht mehr so sei wie zu ihrer Kindheit: „Zu viele Obdachlose, zu viele klauende Straßenkinder, zu viele Prostituierte, zu viel bagunça“ – was so viel heißt wie Radau. Rios weiße Mittel- und Oberschicht benutzt den Begriff gerne als Synonym für den Lebensstil der Favelabewohner, den sie verabscheut.

Trotzdem würde Christina Araujo, wenn sie einen Diebstahl – etwa an dösenden Ausländern – beobachten würde, das ahnungslose Opfer nicht wecken. Auch die Diebe kommen jeden Tag. Man teilt sich die Copacabana eben. „Keine Probleme“, sagt Araujo. Ohnehin sei die Copa ja sicherer geworden, seit Brasilien WM-Land sei. Vor der Gruppe schwarzer Halbwüchsiger, die gerade feixend den Strand entlangzieht, hätte sie sich vor einigen Jahren zumindest noch schleunigst verdrückt. Woher sie weiß, dass dies Diebe sind? „Ich sehe das.“

Auch Dawid Bartelt hat eine Beobachtung gemacht. Die Copacabana gelte zwar als jung und sexy, doch in keinem anderen Stadtteil gebe es mehr Apotheken und Geschäfte für Orthopädiebedarf. „Die Copacabana“, sagt er, „ist ein Seniorenviertel, in dem ein Drittel der Bewohner älter als 60 Jahre ist.“ Ihre Zukunft liege deshalb in der jungen Bevölkerung, in den Favelas auf den Hügeln. Vom Strand aus sind sie unsichtbar.