Inflation, Arbeitslosigkeit, Pandemie: Der Hunger galt 2014 in Brasilien als besiegt. Nun ist er zurück und bedroht Millionen von Menschen, die sich nur noch mit Lebensmittelspenden über Wasser halten.
Als der Wecker von Aline Conceição um drei Uhr in der Früh klingelt, wälzt sie sich von der Matratze, auf der sie mit ihren beiden Töchtern und dem Sohn schläft. Sie geht ins winzige Bad ihres Häuschens, wäscht sich mit Wasser aus einem Eimer. Unterdessen kocht ihre älteste Tochter Kaffee und füllt ihn in Thermoskannen.
Es ist noch Dunkel, als die 39-jährige Conceição die Metalltür zu einem Pfad aufstößt, der durch die Favela Campinho auf einem Hügel im armen Norden Rio de Janeiros führt. Beladen mit Thermoskannen sowie Tüten voller Bonbons und Erdnüssen läuft sie das Viertel hinunter bis zu einer Busstation. Sie hofft, dass heute der Wächter am Drehkreuz steht, der sie immer ohne Ticket durchlässt.
Die Afrobrasilianerin fährt bis zur Endhaltestelle und baut ihr bescheidenes Warenangebot auf. „Um fünf Uhr beginne ich mit dem Verkauf“, sagt Conceição. Sie arbeitet bis zum Mittag und isst bis dahin lediglich ein Brötchen mit Ei, das sie sich morgens gemacht hat. Dazu trinkt sie einen gezuckerten Kaffees. „Ich muss mein Essen einteilen“, sagt sie, „sonst reicht die Energie nicht und mir wird schwindelig.“
Conceição zählt zu den rund 35 Millionen Menschen, die im informellen Sektor Brasiliens arbeiten, also auf eigene Rechnung und ohne jede Absicherung. Sie verkaufen etwas auf der Straße oder bieten Dienstleistung an. Die Informellen stellen rund 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Brasiliens, sie bilden das Rückgrat der Gesellschaft, die ohne ihre Eigeninitiative zusammenbrechen würde. Dennoch sind sie arm.
Vor der Pandemie bedeutete dies, dass sie nie genug verdienten, um sozial aufzusteigen, sich aber immer über Wasser halten konnten. Das hat sich geändert. Brasilien erlebt eine tiefe Wirtschaftskrise, und Menschen wie Aline Conceição sind in Gefahr, sich nicht mehr ausreichend ernähren zu können. Ihnen drohen Hunger und Mangelernährung. Diese Gefahr ist umso größer für die rund 14 Millionen Brasilianer, die offiziell arbeitslos gemeldet sind, eine Quote von 13 Prozent.
2014 galt der Hunger in Brasilien als besiegt, damals strich die Welternährungsorganisation (FAO) das Land von der Welthungerkarte. Jetzt ist er mit voller Wucht zurück. Seit fünf Jahren beobachten Experten bereits eine Zunahme des Problems, das sich mit der Pandemie potenziert hat. Laut dem brasilianischen Forschungsnetzwerk Rede PenSSAN sind derzeit 119 Millionen Brasilianer von Ernährungsunsicherheit betroffen, das sind 56 Prozent der Bevölkerung. Rund 19 Millionen Menschen essen nicht mehr ausreichend oder hungern bereits.
Das ist überall im Land zu spüren. Nicht nur in den Favelas und verarmten ländlichen Zonen, sondern gerade in den Zentren der Städte. Dort stehen täglich Tausende für kostenlose Mittagessen an, und immer mehr Obdachlose errichten auf den Gehsteigen ihre Quartiere. Durch die Vorortzüge zieht ein Heer ambulanter Händler, die alles möglich feilbieten: Kopfhörer, Schokolade, Shampoo, nicht selten Hehlerware.
Immer mehr Menschen sind auch gezwungen, irgendetwas auf der Straße auszulegen und seien es nur Dinge, die sie aus dem Müll gefischt haben. Häufig kommen jetzt auch Kinder mit aufgehaltenen Händen in die Restaurants, und im Supermarkt wird man von Fremden angesprochen, ob man nicht eine Dose Trockenmilch kaufen könne. Richtig bewusst wurde vielen besser situierten Brasilianern das Drama vor wenigen Wochen als Fotos aus Fortaleza und Rio im Netz zirkulierten, auf denen Menschen in Knochen und Fleischabfällen wühlten.
Aline Conceição und ihre Kinder sind von dem betroffen, was Experten Ernährungsunsicherheit nennen. Obwohl Conceição rund 54 Stunden in der Woche arbeitet, reicht das Geld nicht mehr für eine ausreichende Ernährung. Seit dem Beginn der Pandemie erhält sie deswegen Lebensmittelpakete, die in der Favela Campinho von der katholischen Kinderpastoral verteilt werden. Darin enthalten sind unverderbliche Nahrungsmittel: Reis, Bohnen, Nudeln, Öl, Zucker. Aber Obst haben Conceição und ihre Kinder schon lange nicht mehr gegessen, weil es zu teuer ist.
„Ohne die Hilfe müssten wir hungern“, sagt Conceição, „davor habe ich Angst.“ Es ist eine Erleichterung, dass ihre drei Kinder zwischen sieben und 17 Jahren, wieder in die Schule gehen und dort täglich zwei Mahlzeiten bekommen. „Aber was ist, wenn wegen Omikron ein neuer Lockdown kommt?“, fragt die Mutter besorgt.
Es ist alleine den Spenden von Unternehmen, NGOs, Kirchen und Privatleuten zu verdanken, dass in Brasilien bislang keine Hungersnöte ausgebrochen sind. Völlig ausgeschlossen ist das nicht. Denn die Spendenbereitschaft hat mit dem Auslaufen der Pandemie abgenommen. „Unsere Lebensmittelpakete werden immer kleiner“, sagt Claudia Soares, die Koordinatorin der Kinderpastoral in Campinho.
Brutal wirkt in dieser Situation die starke Inflation. Um mehr als zehn Prozent stiegen die Preise in den letzten zwölf Monaten laut Statistikinstitut IBGE an. Das ist zu spüren, wenn jede Woche die Produkte im Supermarkt ein paar Reais teurer sind und die Schlangen an den Kassen kürzer werden, weil weniger Leute einkaufen. Aline Conceição sagt, dass sie sich schon seit Monaten kein Fleisch mehr leisten könne. Sie meint Rindfleisch, das für viele Brasilianer ein Gradmesser für Lebensqualität ist. Kann man sich keins leisten, geht es einem schlecht.
Ausgerechnet in dieser Situation hat Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro nun eins der weltweit erfolgreichsten Sozialprogramme abgeschafft: Bolsa Família, die „Familienhilfe“, die es seit 2003 gab und die Millionen armer Brasilianer vor Hunger und Armut bewahrte. Stattdessen hat er ein eigenes Programm gegründet, die „Brasilienhilfe“. Aber sie gilt nur bis zu den Wahlen 2022, bei denen Bolsonaro von Ex-Präsident und Linken-Ikone Lula da Silva herausgefordert wird. Für Aline Conceição steht bereits fest, wer dann ihre Stimme bekommen wird. „Unter Lula haben wir Fleisch gegessen“, sagt sie.