Natürlich ist dies kein normales Konzert. „Hier sind wir endlich“, ruft Mick Jagger auf Spanisch ins Mikrophon und die fast nicht mehr zu überschauende Menge jubelt ihm zu. Die Betonung liegt auf endlich.
Die Rolling Stones in Havanna! Noch vor einigen Jahren wäre das undenkbar gewesen. „Unter Fidel hätte es das nicht gegeben“, sagt der Nebenmann im Publikum beim Warten auf den Konzertbeginn. Die Rolling Stones durften auf Kuba bis in den Siebzigerjahre nicht gespielt werden, galten wie auch die Beatles als subversiv. Jugendliche, die ihre Haare über die Ohren trugen oder sich ungewöhnlich kleideten, wurden von Fidel Castro als antisoziale Elemente beschimpft, landeten sogar in Umerziehungslagern. Aber die bleiernen Zeiten sind vorbei.
Nicht mehr der strenge Fidel, sondern sein jüngerer Bruder Raúl hat heute auf Kuba das das Sagen. Der gilt als offener, entspannter, witziger. Und er verhandelt gerade mit den USA über das Ende des anachronistischen Handelsembargos, das Washington vor mehr als einem halben Jahrhundert über Kuba verhängte und das auch Künstler und Kulturgüter betrifft.
Das Stones-Konzert ist deswegen auch nicht ohne das andere Weltereignis dieser Woche in Havanna zu denken. Barack Obama besuchte Kuba, als erster amtierender US-Präsident seit 1928. Er versprach das Ende des Embargos und beeindruckte die Kubaner durch seine klare zugewandte Art und die selbstironischen Sketche, die er mit dem kubanischen Komiker Pánfilo aufnahm. Kulturdiplomatie! Einige scherzen schon, dass Obama nur die Vorband von Jagger & Co gewesen sei.
Den ganzen Karfreitag über sind Menschen auf eine riesige Freifläche in Havannas Ciudad Deportiva geströmt. Es ist ein weitläufiges Areal mit verschiedenen Sport- und Trainingsstätten. Die Menschen haben sich auf der Wiese vor der Bühne zum Picknick niedergelassen. Alkohol ist verboten und kubanische Polizisten beschlagnahmen die eine oder andere Flasche Rum. Auch Essen gibt es außer Mais-Chips und Popcorn nicht zu kaufen. Als Toiletten dienen jeweils vier rostige Metallwände, die man über die Gullis der Wasserabflüsse in den umliegenden Straßen gestellt hat.
Als die Stones ihr Set mit „Honky Tonk Woman“ eröffnen, stehen mindestens eine halbe Millionen Menschen vor ihnen. Es ist das wohl meistbesuchte Konzert in der Geschichte Kubas. Die Show, sie ist gratis. Kaum ein Kubaner hätte sich sonst eine reguläre Eintrittskarte leisten können, die anderswo um die 200 Dollar kostet. Kubanische Familien sind hier, Senioren und all die Subkulturen, die es heute auf Kuba gibt. Am auffälligsten sind die Punks mit ihren spektakulären Irokesenschnitten.
Dieses Konzert, es hat nichts mehr zu tun mit dem berüchtigten Auftritt von Billy Joel und Kris Kristofferson, die 1979 im Karl Marx Theater ausschließlich vor Parteikadern und Mitgliedern kommunistischer Jugendorganisationen spielten.
Als Mick Jagger singt „It’s only Rock’n’Roll but I like it“, möchte man von einigen Jugendlichen wissen, welche Songs sie eigentlich von den Stones kennen. Die prompte Antwort: keinen einzigen. Sie würden sich besser mit Beyoncé und Jay-Z auskennen. Beide spielten schon auf Kuba. Nicht nur deswegen ist die Behauptung Unsinn, Kuba würde sich mit den Stones kulturell endlich der Welt öffnen. Das Land hat ja auch selbst weltberühmte Tänzer, Ballerinen, Musiker und Schriftsteller hervorgebracht.
Zwei Phänomene kommen zusammen. Das sozialistische Kuba und die Rolling Stones. Sie haben eins gemeinsam: erstaunliche Langlebigkeit. Als die Stones sich 1962 in London gründeten, war die kubanische Revolution zwei Jahre alt und die USA verhängten ein Wirtschaftsembargo über die Insel, um sie zur Aufgabe ihres sozialistischen Kurses zu zwingen. So wie das Ende des Sozialismus auf Kuba ist auch das Ende der Stones immer wieder vorhergesagt worden. Bis heute sind beide recht lebendig, stammen für junge Kubaner aber aus einer vergangenen Epoche, deren Konflikte sie nicht mehr erlebt haben.
Mick Jagger, Ron Wood, Keith Richards und Charlie Watts sind solche Überlegungen eher Schnuppe. Die vier schlanken Herren in den engen Hosen amüsieren sich, jammen von einem erwartbaren musikalischen Höhepunkte zum nächsten. Mick Jagger tigert wie immer ausgelassen, Arme und Beine von sich schmeißend, über die Bühne und flirtet heftig mit seiner schwarzen Backgroundsängerin. Das Konzert wird über Großleinwände übertragen, das Equipment kam mit 61 Containern und einem vollgepackten Jumbojet nach Havanna. Welch Kontrast zur kubanischen Mangelwirtschaft, in der immer noch Menschen für Brot und Eier anstehen und ihre Nahrungsmittelkarten abzeichnen lassen.
Die Rolling Stones sind keine explizit politische Band. Einmal sagt Jagger auf Spanisch: „Ich glaube, die Dinge ändern sich.“ Das kann man natürlich verstehen wie man will. Es ist aber klar, dass die Band keiner Zensur unterliegt. Anders als in China, wo sie 2006 in Schanghai spielten und auf Druck der chinesischen Behörden auf „Brown Sugar“ verzichteten. In Havanna spielen sie das Lied, in dem es um Heroin geht.
Als Zugaben dann „You can’t always get what you want“ und ein lang ausgedehntes „Satisfaction“. Auf dem Nachhauseweg sagt der Taxifahrer in seinem Chevrolet, dass er beide Lieder oft heimlich gehört habe. Damals! Und nun: „Obama und die Stones in einer Woche. Es tut sich was.“ Was genau, das müsse sich noch zeigen.