Paloma Gonçalves vermietet im Zentrum von Rio de Janeiro ein kleines Apartment. Es liegt im bei Touristen beliebten Stadtteil Santa Teresa. Aber seit einigen Tagen erhält sie nur noch Stornierungen für schon gebuchte Aufenthalte.
„Der Krieg ist wieder da“, sagt sie. „Die Leute fürchten sich. Es ist wie früher.“ Den Krieg kann Gonçalves von ihrer Terrasse aus sehen und hören. Die 37-Jährige Kunstlehrerin blickt direkt auf die Favela Morro da Coroa, 250 Meter Luftlinie entfernt.
Vor einigen Wochen eroberte die größte Drogenmafia Rios, das Comando Vermelho (CV), die Favela in einer mehrstündigen Schlacht. Sie vertrieb die Amigos dos Amigos (ADA), die zweitgrößte Gang der Stadt. „Ein Wochenende lang wurde geschossen, mit großkalibrigen Waffen“, erinnert sich Gonçalves. „Ich verbrachte fast die ganze Zeit in meiner Wohnung, auf den Boden gekauert.“ So wie es auch die Bewohner der Favela aus Angst vor Querschlägern tun. „Seit Jahren habe ich so etwas nicht mehr erlebt.“
Nun versucht die ADA die Favela zurückzuerobern. An manchen Tagen ist über Stunden hinweg schweres Feuer zu hören. „Es ist kaum zu glauben, dass all das passiert, denn seit 2011 ist hier doch eine Einheit der Befriedungspolizei (UPP) stationiert“, wundert sich Gonçalves. Fünf Jahre lang konnte die UPP für relative Ruhe sorgen – nun scheint alles wieder beim Alten. „An manchen Tagen komme ich nicht nachhause“, sagt Paloma Gonçalves. „Die Polizei riegelt die Straße ab.”
Post-Olympischer Alltag!
Dazu passt auch, dass nun wieder das paramilitärische Spezialkommando Bope in die Kämpfe eingreift. „Sie haben einen Bekannten von mir erschossen“, sagt Gonçalves. „Er hieß Vantuil, war Motorradtaxifahrer. Ich fuhr oft mit ihm nachhause.“ Als Vantuil de Oliveira während der Kämpfe seine Haustür verriegelte, traf ihn ein gezielter Schuss aus einer Polizeiwaffe. Der 35-Jährige mit den lustigen Dreadlocks war mehrfacher Vater.
Wenn man als dies erlebt und aufschreibt, fühlt es sich an wie eine Reise in die Vergangenheit Rios. In eine Zeit vor Fußball-WM und Olympia. In den letzten Jahren war in Rio relative Ruhe eingekehrt, viele wollten nur zu gern den Versprechungen der Politiker glauben, die der Stadt eine goldene Zukunft voraussagten.
Stattdessen steht Rio ein halbes Jahr nach den Olympischen Spielen vor einem Scherbenhaufen. Die Stadt sowie der gleichnamige Bundesstaat sind bankrott. Nicht nur finanziell, sondern auch moralisch. Der wieder aufgeflammte Drogenkrieg ist nur eins von vielen Anzeichen für die tiefe Krise.
Chaotische Szenen spielen sich auch vor dem Landesparlament von Rio ab. Hunderte Demonstranten haben sich davor versammelt, sie trinken, die Stimmung schaukelt sich hoch. Dann stürmen sie das Gebäude, verwüsten Büros und den Plenarsaal. Das Ungeheuerliche: Es sind in der Mehrheit Polizisten. Sie protestieren gegen die Kürzung ihrer Gehälter. Einige von ihnen entrollten ein Transparent. Darauf wird das Eingreifen der Militärs gefordert, also ein Putsch.
Paloma Gonçalves, die als Lehrerin selbst von Gehaltskürzungen betroffen ist, lehnt das strikt ab, nennt es Faschismus. „Aber ich kann die Wut verstehen“, sagt sie. „Denn wer soll die Krise ausbaden? Die kleinen Leute!“
Die Landesregierung von Rio hat zuletzt Einschnitte vorgeschlagen, die fast nur öffentliche Angestellte sowie die Bevölkerung treffen. Der Betrieb der bekannten Seilbahn über den Favelakomplex Alemão wurde bereits ausgesetzt, die Gondeln stehen still. Der versprochene Neubau der beliebten Straßenbahn in Santa Teresa geht schon seit Monaten nicht voran. An vielen Stellen wurde der Asphalt aufgerissen, aber am nächsten Tage waren die Arbeiter verschwunden. Als die Baulöcher fürchterlich zu stauben begannen, asphaltierte man sie einfach wieder zu – ohne Schienen verlegt zu haben. Geldverschwendung auf brasilianisch.
Demgegenüber sehen die Parlamentarier keine Notwendigkeit, bei sich selbst zu sparen, etwa die üppigen Beihilfen zu Wohnen oder Transport abzuschaffen. Ebenso sollen große Firmen weiterhin Steuervergünstigungen erhalten, die Verköstigung bei Empfängen luxuriös bleiben und Regierungsgebäude aufwendig saniert werden. Es sind schon barocke Zustände. Die Abgeordneten der kleinen linken Partei PSOL brachten es auf den Punkt, als sie im Parlament Schilder zeigten: „58 Millionen für Paläste, für Hospitäler nur die Reste.“
In diese Situation platzten zwei Nachrichten von großer Symbolik: Zunächst verhaftete die Polizei Anthony Garotinho, einen ehemaligen Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, ein System zum Stimmenkauf angeführt zu haben. Garotinho regierte Rio de Janeiro zwischen 1998 und 2002 und ist Oberhaupt eines berüchtigten Politik-Clans. Seine Frau Rosinha war zwischen 2003 und 2007 Gouverneurin von Rio, die Tochter ist Parlamentsabgeordnete in Brasília.
Dass Garotinho in schmutziger Geschäfte verwickelt ist, war schon lange bekannt. Delikat an der Angelegenheit ist, dass er ein enger Vertrauter von Rios frisch gewähltem Bürgermeister ist, dem konservativen evangelikalen Priester Marcello Crivella.
Nur einen Tag nach Garotinhos Verhaftung kam dann die eigentliche Sensation. Brasiliens Bundespolizei klopfte an ein Luxusapartment mit Meerblick im noblen Stadtteil Leblon und führte Rios Ex-Gouverneur Sérgio Cabral ab. Er wurde in das berüchtigte Gefängnis Bangu gebracht, wo man ihm die Haare abrasierte. In Rio löste die Nachricht große Freude aus. Menschen jubelten spontan in Bussen und in Restaurants. Im Gefängnis feierten die Häftlinge Cabrals Ankunft mit Kaffee und Kuchen.
Cabral hatte Rio de Janeiro zwischen 2007 und 2014 regiert und war Ziel heftiger Proteste während der Massendemonstrationen von 2013. Er stellte seinen Reichtum pervers aus, flog gerne im Helikopter, fuhr mit seiner Yacht, trank Champagner. Einmal saß er am Flughafen in Paris, wohin er seine Frau zum Shoppen begleitet hatte, und sagte ins Telefon: „Ich sitze gerade am Schreibtisch in Rio.“
Der Vorwurf gegen ihn und neun andere Verdächtige lautet nun: Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder. Sie sollen umgerechnet 65 Millionen Euro gestohlen haben. Immer dann, wenn öffentliche Bauvorhaben anstanden, hätten sie die Hände aufgehalten, so die Staatsanwaltschaft. „Es ist ein lang erprobtes Schema in Rio“, sagt der Anwalt Jean-Carlos Novaes. Er kämpft seit Jahren gegen Korruption und hat mehrere Fälle während der Olympischen Spiele aufgedeckt.
Für Novaes ist die Verhaftung Cabrals deswegen keine Überraschung. Seine Regierungzeit fällt in die Periode, als Rio sich auf die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele vorbereitete. „Die Stadt wurde massiv umgebaut“, erklärt Novaes, „angefangen mit dem Maracanã-Stadion, der Erweiterung der Metro, dem Umbau des Hafenviertels, dem Olympiapark, der Einrichtung verschiedener Buskorridore.“ Es habe zahlreiche Möglichkeiten gegeben, sich zu bereichern.
Die Presse stellt nun heraus, dass Cabral Schmiergelder „oxigéno“ genannt habe – Sauerstoff. Genau dieser fehlt derzeit in Rios Krankenhäusern wegen der Finanzkrise. Eine Biomedizinerin, die in einem öffentlichen Hospital in Rios Zentrum arbeitet, berichtet von fehlenden Medikamenten. „Es gibt nicht mal mehr freien Betten“, sagt sie. Ihr Name soll nicht öffentlich werden.
Als ob nicht all das schon schlimm genug wäre, nimmt auch die Straßenkriminalität zu. „Die Kids standen plötzlich um mich herum“, erzählt die Studentin Rafaela Marques, „keiner älter als 16, mit Messern bewaffnet.“ Im westlichen Stadtteil Recreio, unweit des Olympiaparks, rissen die Diebe der 27-Jährigen das Handy aus der Hand, verletzten sie am Arm, Marques zeigt die Narbe.
Die zunehmenden Überfälle auf Passanten und Autofahrer in Rio werden mit der Wirtschaftskrise erklärt, die viele junge Männer in die Kriminalität getrieben habe. Doch es hat auch damit zu tun, dass die Politik sich nicht mehr darum schert. Während der sportlichen Großereignisse sorgten noch große Aufgebote von Polizei und Militär dafür, dass Rio sicher erschien. Nun ist die Party vorbei. Zurückgeblieben ist eine verheerte Stadt, deren soziale Probleme mit voller Wucht aufbrechen.