Meist begann die Tour von Marli Barros um 23 Uhr. Sie steckte dann ihre Pistole, eine .38er, ins Halfter, stieg ins Auto und fuhr los, patrouillierte über die riesige Raffinerie des Ölkonzerns, wachte darüber, dass niemand eindrang, um zu stehlen oder zu sabotieren.
Die nächtliche Tour konnte mehrere Stunden dauern und Marli Barros, das gibt sie zu, fürchtete sich – nicht nur weil sie alleine unterwegs war. Sie hatte gerade erst ihre Führerscheinprüfung bestanden, fuhr noch unsicher, und die dampfende und schnaufende Industrieanlage mit ihren Rohren und Tanks kam ihr unheimlich vor, wie ein metallenes Monster.
Noch etwas machte sie unsicher. „Ich war die erste Frau im Sicherheitsapparat des Konzerns“, sagt Barros. „Zuvor waren ausschließlich ehemalige Angehörige des brasilianischen Militärs eingestellt worden. Sie betrachteten mich mit großem Misstrauen. Aber ich ebnete den Weg für die Frauen nach mir.“
Heute reist Marli Barros für denselben brasilianischen Ölkonzern als Logistikerin in die hintersten Winkel Brasiliens, um Probebohrungen nach Öl- und Gas zu begleiten. Sie hat in der Firma Karriere gemacht – und erneut ist sie die einzige schwarze Frau im Team. Nicht selten hat sie deswegen das Gefühl, benachteiligt zu werden. „Ich beiße mich durch“, sagt sie, „kann ich ja“.
Mindestens einmal im Monat besucht Marli Barros ihren Vater. Ihr silberfarbener Geländewagen wirkt dann wie ein Fremdkörper auf dem kleinen Bauernhof im Hinterland des armen brasilianischen Bundesstaats Bahia, zwischen den geduckten Häuschen, den Hühnern, den Bohnenfeldern und Limettenbäumen.
Hier wurde Marli Barros geboren und von einer Tante aufgezogen, weil ihre Mutter nach der Geburt fortging und ihr Vater hart arbeitete und keine Zeit für die Kinder hatte. Es sprach also im Grunde nichts dafür, dass Barros einmal Jura studieren und einen gutbezahlten Job finden würde. Dass sie sich zwei Wohnungen in der Millionenstadt Salvador kaufen und als erste aus ihrem Dorf durch Europa reisen würde. Und auch dass sie einmal sagen würde: „Ich bin nicht von einem Mann abhängig.“
In Deutschland würde man Marli Barros wahrscheinlich als Powerfrau bezeichnen. In Brasilien sagt man guerreira, Kriegerin. Sie zählt zu einer neuen Generation schwarzer Frauen, die sich den klassischen Rollen verweigert, die eine immer noch kolonial aufgebaute Gesellschaft vorsieht: Putzfrau, Kindermädchen, Kassiererin.
Stattdessen sind diese Frauen Unternehmerinnen, Schauspielerinnen, Technikerinnen. Sie verdienen ihr eigenes Geld, wollen die Welt sehen, haben höhere Ansprüche an Männer. Viele von ihnen kommen aus einfachen, armen Familien und verdanken ihren Aufstieg den neuen Möglichkeiten, die das wirtschaftliche Wachstum Brasiliens in den letzten 15 Jahren eröffnet hat. Sie haben auf einmal die Möglichkeit, zu studieren, eine Ausbildung zu machen – und sie nutzten die neuen Wege, die ihren Müttern verschlossen waren.
Über Jahrzehnte, ja, über Jahrhunderte hinweg war der Lebensweg eines Brasilianers von seiner familiären Herkunft abhängig. Wer arm geboren wurde, blieb es auch. Und wer schwarz war, war in der Regel arm. Ganz unten in der Skala: schwarze Frauen. Sexuell traute man ihnen immer alles zu, intellektuell nur wenig.
„Unsere Haut ist unsere Geschichte“, sagt Marli Barros. „Sie wiegt schwer. Mehrere hundert Jahre.“
Wie aufgeladen das Thema immer noch ist, bis heute, zeigte die Episode um einen der bekanntesten Fernsehmoderatoren Brasiliens. In seiner Sendung fragte er kürzlich einen schwarze Frau mit Afrofrisut also ihrem natürlich Haar, warum sie einen Wischmob auf dem Kopf trage – ohne jede Konsequenz. Immer noch gelten afrikanische Haare in Brasilien als cabelo ruim, „schlechtes Haar“. Viele schwarze Frauen haben diesen Blick der Privilegierten (welche sich nicht anders aufführen als Großgrundbesitzer gegenüber ihren Leibeigenen) auf sich übernommen, schämen sich für ihre Haare, die sie mit Chemie traktieren und glätten.
Marli Barros hat nun, nach einigem Zögern, beschlossen, statt der eingeflochtenen Zöpfe wieder ihre natürlichen Haare wachsen zu lassen. Sie ist sich nicht sicher, wie es auf ihrer Arbeitsstelle ankommen wird. Aber es gehört zu ihrer persönlichen Aufstiegsgeschichte, die auch eine Befreiungsgeschichte ist, dazu.
Es gibt in Brasilien einen verlässlichen Seismographen für gesellschaftliche Verschiebungen: die Telenovelas des Fernsehsenders Globo TV. Was dort verhandelt wird, ist im Mainstream angekommen und wird diskutiert. Seit März diesen Jahres läuft dort nun zur besten Sendezeit die Novela „Babilônia“, benannt nach einer Favela an den Hängen der Copacabana. Das Neue daran: Einige Hauptfiguren sind schwarze Frauen. Sie arbeiten nicht wie sonst als Hausmädchen in den Luxusapartments weißer Familien, sondern sind Anwältin und Kleinunternehmerin.
Viviane Porto spielt in „Babilônia“ eine ernste und wortkarge schwarze Friseurin, die von ihrer Chefin – selbst dunkelhäutig – entlassen wird, weil sie in der Favela wohnt, ein Stigma, auch für wohlhabende Schwarze. Porto glaubt, dass „Babilônia“ auch wegen solch einer differenzierten Darstellung der brasilianischen Realität eine kleine Revolution sei. Die Novela werde einmal als Schlüsselmoment begriffen werden, sagt sie. Der ganze soziale Dünkel Brasiliens komme mit verblüffender Offenheit zur Sprache. Es gehe um Rassismus, Homophobie, Armut, Stereotype – die ganzen Ressentiments einer Gesellschaft, die sich selbst für unglaublich tolerant halte und eine Diskussion über ihre eigene Rückständigkeit ablehne.
Viviane Porto stammt selbst aus einfachen Verhältnissen. Sie wuchs in São Paulo als Tochter einer alleinerziehenden Mutter auf, die hart arbeitete um Viviane auf eine gute Schule zu schicken. Dort war sie unter 2000 Schülern eins von zwei schwarzen Mädchen. Mit 15 schloss sie sich einer Theatergruppe an und wurde kurz darauf von einem TV-Ballett engagiert. 50 Tänzerinnen traten dort auf. Wieder war sie nur eine von zwei Schwarzen. Der Rest: weiße Mädchen mit glatten Haaren, dem Schönheitsideal Brasiliens entsprechend, das an Europa und den USA orientiert ist.
Anschließend bekam Porto Nebenrollen in Telenovelas mit Namen wie „Verrückte Leidenschaft“ oder „Schokolade mit Pfeffer“. Sie lernte ihren späteren Ehemann kennen, ein Italiener, bekam zwei Kinder, lebte lange in Triest. Nun ist „Babilônia“ für sie der Wiedereinstieg in die Schauspielerei. Allerdings gibt es ein Problem: „Babilônia“ verliert dramatisch an Einschaltquoten. „Es werden Wahrheiten ausgesprochen, welche die Brasilianer nicht hören wollen“, glaubt Porto. „Das Land schaut ungern in den Spiegel, weil es erkennen müsste, dass es nicht so schön ist, wie es glaubt.“
In Brasilien existiert der Begriff „Rassendemokratie“, es ist die Entsprechung zum US-amerikanischen „Schmelztiegel“. Doch anders als in den USA vermischen sich die Menschen in Brasilien viel ungezwungener. Ein Drittel der Heiraten werden hier zwischen Partnern geschlossen, die sich verschiedenen Ethnien zurechnen (diese bestimmt jeder im Zensus für sich selbst). Das hat zur faszinierendsten menschlichen Vielfalt auf dem Planeten geführt.
Allerdings gehört auch zur Wahrheit, dass fast ausschließlich die Ärmeren gemischt heiraten. Je weiter man in der gesellschaftlichen Hierarchie nach oben schaut, umso monotoner wird es. Im Zensus von 2010 definierten sich 52 Prozent der Brasilianer als schwarz. Aber an den Tischen der besseren Restaurants sitzen ausschließlich Weiße, die Dunkelhäutigen arbeiten in der Küche. In Rios Neureichenviertel Barra da Tijuca (Hauptaustragungsort der Olympischen Spiele) sind 90 Prozent der Haushalte weiß, schwarz sind die weiblichen Bediensteten. Während der Fußball-WM wunderten sich viele über das hellhäutige Publikum in den Stadien: Das waren die Brasilianer, die sich die Tickets leisten konnten. Die Dunkelhäutigen waren für die Unterhaltung auf dem Rasen zuständig.
Man spricht in Brasilien nicht gern darüber, und man kann sich als Ausländer auf schicken Dachterrassenpartys in Rio schnell unbeliebt machen, wenn man sagt, dass man Brasilien nicht für das Sonnensambacaipirinha-Paradies halte sondern für ein ungerechtes, immer noch feudales Land. Auf Kritik von Außen reagieren sie hier besonders empfindlich.
Denn lieber präsentiert sich Brasilien als frohe, postkoloniale, farbenblinde Nation. Umso schockierender die Abgründe. Als Globo TV dieses Jahr erstmals eine Schwarze als Wetterfee einsetzte, schwappte eine eklige Welle von Hass durchs Internet. Der Nachrichtenchef des Senders – ausgerechnet Autor des konservativen Abwiegelungspamphlets „Wir sind keine Rassisten“ – war gezwungen Strafanzeige zu stellen.
Extrem sind die Zustände in Politik und Wirtschaft. Die Vorstände der 380 an der brasilianischen Börse notierten Firmen sind ausnahmslos weiß. Unter den 38 Ministern im Kabinett von Präsidentin Rousseff findet sich ein Schwarzer: der Minister für ethnische Gleichstellung. Brasilien hat 26 Gouverneure: 25 weiße Männer, eine weiße Frau. Kaum eine Elite hat höhere Mauern um sich herum hochgezogen. Black mag beautiful sein, aber den Schwarzen bleiben die Türen verschlossen. Manche nennen das beim Namen: Apartheid.
Welche Denkweise vielerorts herrscht, offenbarte der Parlamentsabgeordnete Jair Bolsonaro, der bei den letzten Wahlen in Rio die meisten Stimmen erhielt. Auf die Frage, was er tun würde, wenn einer seiner Söhne sich in eine schwarze Frau verlieben würde, antwortete er: „Das ist unmöglich, ich habe sie gut erzogen.“ Sein Wähler feiern ihn.
Es sind solche Episoden, die Brasilien eine Auseinandersetzung aufzwingen. Und es sind Frauen wie Julia Gomez, die schon längst einen Schritt weiter sind. Ihr Lebenslauf ist die Antwort auf Arschgeigen wie Bolsonaro.
Als Julias Eltern sich kennenlernten, war ihre Mutter zwölf Jahre alt – und kurz darauf schwanger. Das war nichts Besonderes in Bahia, im Nordosten Brasiliens. Julias Vater zeugte 32 weitere Kinder mit unterschiedlichen Frauen, Julias Mutter starb mit 36.
Sie selbst war noch keine zehn Jahre alt, als sie aus Bahia fortging. „Ich war frühreif“, sagt sie „Und ich wollte ein anderes Leben.“ Sie zog nach Rio de Janeiro, arbeitete als Kindermädchen bei einer Tante. Für die Schule blieb keine Zeit, mit 13 konnte sie weder lesen noch rechnen. All das holte sie in wenigen Jahren nach, bewarb sich erfolgreich auf Rios bester Schule für Physiotherapie. „Ich habe nie geheult, obwohl ich immer alleine war.“
Heute betreibt die 32jährige Gomez eine erfolgreiche Praxis für Physiotherapie in Ipanema, Rios Luxusviertel, wenige Meter vom berühmten Strand entfernt. Ihre Kundinnen: Frauen aus der Oberschicht, die im Internet schwärmen: „Julia hat Zauberhände.“ Aber wenn Julia Gomez ins teure Fitnessstudio geht, dann glauben viele, sie habe sich einen reichen Mann geangelt, der ihre Mitgliedsgebühr zahle, weil sie sich das doch sonst gar nicht leisten könne.
Mit Anfang 20 heiratete Julia Gomez, aber sie ließ sich scheiden. „Die brasilianischen Männer sind schwach“, sagt sie. „Die wissen nicht, wie man mit starken Frauen umgeht. Wir passen einfach noch nicht ins Bild.“ Nun ist sie mit einem Ungarn zusammen – den sie ins Restaurant einlädt. Darauf legt sie Wert.
Der Wandel ist jung, er ist fragil und mag nicht von Dauer sein. Aber er ist da. Seit 2002 sind 30 Millionen Brasilianer in die untere Mittelklasse aufgestiegen. Dank Wirtschaftswachstum und umfangreicher Sozialprogramme. Diese Mobilität ist nun durch den Einbruch der Wirtschaft und eine tiefe Krise des politischen Systems gefährdet. Die Reaktionäre in Politik, Medien und den Sicherheitskräften haben Auftrieb und Brasilien erlebt einen Welle des Ultrakonservatismus. Die Eliten möchten die alte, quasi-koloniale Ordnung wiederherstellen, sogar Rufe nach einem Militärputsch werden laut.
Wenn man die drei Frauen fragt, ob es eine Mittel gegen diese unappetitliche Bagage gibt, dann nennen sie die Bildung. Julia Gomez verbrachte als Teenager Tage in der Bibliothek. Viviane Porto wurde von ihrer Mutter animiert zu lesen. Und Marli Barros sagt: „Bildung ist der Schlüssel, damit sie das Rad nicht wieder zurückdrehen.“
Brasilien schaffte die Sklaverei 1888 ab, als letzte Nation Amerikas. Es hatte mehr Sklaven als jedes andere Land der Welt importiert. Aber frei waren die Sklaven danach dennoch nicht, weil man ihnen weder Bildung noch Land oder Kapital gab. So waren sie vor allem frei von Möglichkeiten. Es begann eine Abhängigkeit, die nicht mehr Sklaverei hieß, aber genauso war und die sich bis heute fortgepflanzt hat.
Marli Barros, Viviane Porto, Julia Gomez und viele andere haben den Zirkel durchbrochen. „Unsere Hautfarbe mag uns immer noch Türen verschließen“, sagt Julia Gomez, „aber meine Hautfarbe gegen eine andere tauschen? Niemals.“