Irland: Die gelbgrüne Insel

Irland: Die gelbgrüne Insel

Der Supermarkt heißt plötzlich „Real Brazil“ und der Fußballklub „Samba Celtics“. Das westirische Gort ist brasilianisch geworden: Wie sich die Geschichte der Auswanderung umkehrt.

Von Dublin aus immer nach Westen, der untergehenden Sonne hinterher. Über gewundene, von Feldsteinmauern und Brombeersträuchern gesäumte Landstraßen. Vorbei an Landhäusern, Klosterruinen und Friedhöfen mit keltischen Kreuzen. Rechts ein Torffeld, links Schafe. Und dann das!

Am Ortseingang von Gort, irisch Gort Inse Guaire, 1300 Jahre alt, 4000 Einwohner, prangt ein gelbgrünes Schild: „Real Brazil“. Ein Lebensmittelladen, im Angebot Maniokwurzeln, im Kühlfach Guaraná-Limonade, auf der Theke Kochbananen. Etwas weiter, am Market Square, sitzen vier Männer mit Cowboystiefeln vor O’Donnel’s Bar, deren Eingang eine Harfe ziert. Sie rufen auf portugiesisch: „Hey, Freund! Alles klar?“ Gegenüber, im Internetcafé, drängeln sich Jugendliche in den rot-schwarzen Hemden von Rio de Janeiros Fußballclub Flamengo.

Sie chatten in ihrer Muttersprache. „Wie viele Brasilianer seid ihr in Gort?“ Cafébetreiber Nilton Souza überlegt nicht lange: „Schon die Hälfte.“

Ganz am Rande der irischen Insel, kurz bevor sie im Westen noch einmal felsig ansteigt und dann steil ins Meer abbricht, liegt die erste brasilianische Kleinstadt Europas. „Samba Town“ schreiben die Zeitungen, oder „Little Brazil“. Vor zehn Jahren gab es in der Region keinen einzigen Südamerikaner, heute hängen in den Cafés Annoncen auf Portugiesisch: „Suche Fliesenleger, Steinmetze, Zimmermänner.“ Oder: „Legal studieren und arbeiten im Land der Möglichkeiten.“ Gemeint ist nicht Amerika, sondern das ehemalige Armenhaus Europas.

DIE GOLDSUCHER

Das Meer hat Edinai Ramos zum ersten Mal in Irland gesehen. Er kommt aus einem Ort inmitten einer brütenden savannenartigen Landschaft, tief im brasilianischen Landesinnern: Anápolis, 350 000 Einwohner, 1300 Kilometer bis zur Küste. Dass Ramos jetzt trotzdem manches Wochenende am Strand verbringt, hat er Sean Duffy zu verdanken: Dem Gorter Fleischfabrikanten gingen 1999 die Arbeiter aus, da hörte er, dass in Anápolis ein Kühlhaus geschlossen wird. Die brasilianischen Schlachter haben in der Branche den Ruf, schnell und geschickt zu sein. Also reiste Duffy nach Anápolis und brachte neun Männer mit zurück. Schnell folgten weitere, darunter Edinai. Damals hauste er mit den anderen in einem dürftig isolierten Altbau. „Wir fühlten uns wie die Goldsucher, die das brasilianische Hinterland eroberten“, sagt Edinai. „Die legendären Garimpeiros.“

Wenn der kleine, strahlende Edinai die Tür zu seinem schmalen Reihenhaus in einer Neubausiedlung öffnet, versteht man, wieso Gorts Bevölkerung sich in wenigen Jahren verdoppelt hat: Edinais Frau Wilmair, Tochter Jacqueline, Enkel Victor, Stiefvater Artur, Adoptivsohn Rander und Freund Edson schauen im Wohnzimmer eine Telenovela, die per Satellit ins Haus kommt. „Familie“, sagt Edinai, „ ist wichtig”.

Das Handy des 38-Jährigen klingelt. Jemand will wissen, ob am Sonntag gespielt wird. „Wir sind zu wenige“, sagt Edinai. Er ist Kapitän der Samba Celtics. Die Kicker haben einen Sommer lang in der Galway-Liga für südamerikanisches Flair gesorgt, Gorts Sportplatz kriegte sogar dreisprachige Schilder: Englisch, Irisch, Portugiesisch. Aber die Sambas kamen mit dem harten Spiel der Iren nicht klar.

Seit kurzem arbeitet Edinai beim Elektromagnetenhersteller Lisk. Er verdient 560 Euro die Woche, so viel wie in Brasilien in einem Monat. Und drei Dutzend seiner 270 Kollegen kommen aus Anápolis, viele sogar aus dem gleichen Wohnblock. Doch längst hat sich auch im Rest Brasiliens rumgesprochen, dass man in Gort Geld verdienen kann.

DER AUFBRUCH

„Wie lange fährt man mit dem Bus nach Irland?“, fragte sich Dulce, als sie 2005 zum ersten Mal den seltsamen Namen hört: Gort, auf Portugiesisch „Gortschi“ ausgesprochen. Sie lebte damals in der 20-Millionen-Metropole São Paulo. Heute setzt sie einen Topf Reis mit Bohnen auf und sieht beim Blick durchs Küchenfenster die Burren Hills, schartige Hügel, hinter denen der Atlantik tost. Ein Brilli funkelt im Nasenflügel der 42-Jährigen, ihre langen Fingernägel sind mit Sternchen bemalt.

Mit einem Zufall beginnt alles: In einer Bar in São Paulo erzählt ihr eine Frau von „Irlanda“, wo man Hunderte von Euros verdienen könne. Dulce hat sich gerade von ihrem Mann getrennt und lebt vom Kindergeld ihrer Tochter. Sie pumpt ihren Ex um Geld für die Reise an. Er stellt eine Bedingung: Tochter Roberta, fünf Jahre alt, bleibt. Dulce nimmt das Geld.

Im August 2005 steht sie am Flughafen von Dublin in der Schlange für „Non-EU nationals“. Dem Grenzbeamten kann sie nicht erklären, was sie in Irland wolle, sie spricht kein Wort Englisch. Der Beamte will sie gleich in den nächsten Flieger zurück verfrachten lassen: Es gebe in Irland einen Haufen Brasilianer ohne Papiere. „Gort? – 90 percent illegals.“ Aber Dulce hat ja ein Rückflugticket. Nach wildem Gestikulieren und vielen Tränen macht der Grenzbeamte ein Foto von Dulce und stempelt eine Ausreisefrist in ihren Pass. Nur ihr Koffer ist nicht angekommen. Dulce wartet, abends wäscht sie ihre Unterwäsche im Bad des Hotelzimmers. Doch ihr Koffer kommt nicht. Nach zwei Wochen setzt sie sich in einen Bus nach Westen.

Als sie am Marktplatz von Gort mit seinen schmalen bunten Häusern aussteigt, traut sie ihren Augen nicht. Eine Gruppe von 150 Brasilianern steht da, einige tragen Gummistiefel, andere Pullis mit Farbflecken. Pick-Up Trucks fahren vor. Jeweils drei, vier Brasilianer steigen ein. Irische Bauern und Baufirmen decken hier ihren Bedarf an Arbeitskräften für einen Tag, eine Woche, einen Monat. Stundenlohn: fünf bis acht Euro. Dulce sieht den Arbeitsmarkt von Gort.

DAS WUNDER

„Es erinnerte uns an die hiring fairs“, sagt John O’Sullivan. Der 47-Jährige, kantiger Bauernkopf, zupackende Hände, kurzärmeliges Hemd, ist Besitzer von Sullivan’s Royal Hotel („Good food, no delays“) direkt am Market Square. Vor 50 Jahren, sagt er, hätten die Iren in London auf der Straße gestanden und zu Hungerlöhnen gearbeitet. „An den Türen der englischen Pubs hingen Schilder: ‚No dogs, no Irish’.“ Jetzt war es den Gortians peinlich, dass die Brasilianer bei ihnen auf der Straße standen. Also verlegten sie den Arbeitsmarkt vor die Kirche, wo Durchreisende ihn nicht sehen konnten.

O’Sullivan war auch einer der ersten, der die Einwanderer fest anstellte. Fünf Brasilianerinnen arbeiten bei ihm: in der Küche, hinter der Bar, als Zimmermädchen. „Die haben Gort doch gerettet“, sagt er. Binnen weniger Jahre ist aus dem Bauernkaff der am schnellsten wachsende Ort Irlands geworden. Das leicht gammelige Zentrum ist heute von Neubausiedlungen umgeben. Ein Aldi-Markt hat eröffnet, ein Lidl ist gerade fertig geworden. „Wir nennen es das brasilianische Wunder“, sagt O’Sullivan.

DER ALBTRAUM

Für Dulce beginnt der irische Traum als Albtraum: Fast alle brasilianischen Neuankömmlinge haben Verwandte oder Bekannte in Gort oder kennen jemanden, der jemanden kennt. Dulce kennt niemanden, und so sitzt sie nach ein paar Wochen weinend in einem kleinen Zimmer, dessen Miete sie nicht zahlen kann und hört, wie der Wind vor dem Fenster pfeift. São Paulo ist 10 100 Kilometer weit weg, zum Schlafen zieht sie zwei Jeans übereinander, um nicht zu frieren. Sie denkt: „Ich will auch etwas von diesem scheiß Wunder!“

DER KELTISCHE TIGER

Vor 160 Jahren stürzte „The Great Famine“, die große Hungersnot, Irland ins Elend und zwang Generationen von Iren zum Auswandern. Erst in den 1990er Jahren kam die Wende: EU-Gelder flossen, die Regierung investierte in Bildung, der Dienstleistungssektor richtete sich ein. „Europe’s poor man“ wurde zum „Celtic Tiger“, Wirtschaftswachstum zehn Prozent. Und das Auswandererland wandelte sich zum Einwandererland. Es kamen Asiaten, Afrikaner, Spanier und Deutsche und mit der EU-Erweiterung Polen und Balten. Die Zahl der Einwanderer pro Jahr versechsfachte sich zwischen 1987 und 2007, zuletzt kamen 110 000. Die Bevölkerung Irlands wuchs auf über vier Millionen Menschen.

Nur in Gort ging es nicht voran. Mitte der 90er Jahre lebten hier 2000 Menschen mühsam von der Landwirtschaft, es gab eine Fleischfabrik, ein Wolllager und zwei Dutzend Pubs. Auf der Landstraße Nr. 18 zwischen Galway und Limerick dröhnten die Trucks über den Marktplatz. Der Aufschwung schien durchzurauschen. Bis auf eine alte Blutbuche im Park, in die die Nationaldichter Shaw und Yeats ihre Namen geschnitzt haben, nichts zu sehen. Dann kamen die Schlachter aus Anápolis.

IM PUB

Freitagabend, Johnny Walsh’s Bar. „Ich habe mal einen geknutscht“, sagt eine Rothaarige, „…hatte schon schlechtere.“ Die ersten irisch-brasilianischen Ehen sind schon geschlossen worden.

„Die machen alles ohne zu murren.“ Zwei Maurer aus Sachsen, die seit zehn Jahren in Irland Häuser bauen, trinken ihr Feierabend-Stout. „Die Brasilianer improvisieren viel. Aber sie klotzen ran.“

„Es ist wirklich nicht einfach“, seufzt eine Grundschullehrerin, „meine Schüler verstehen mich nicht mehr. In einigen Klassen sprechen 80 Prozent der Kinder Portugiesisch.“

Ein brasilianischer Maler fährt sich mit der Hand durchs Haar, „eigentlich habe ich Saudade“. Saudade, das Wort, das Heimweh und Sehnsucht zugleich bedeutet, hört man oft in Gort.

DER PRIESTER

„Der erste Winter bringt sie um“, sagt Kevin Keenan. „Der Wind, der Regen, die Kälte.“ Im Winter sinken die Temperaturen in Gort auf drei Grad, die Häuser sind schlecht isoliert, es regnet viel und der Winter dauert lang. „Brasilianer sind wie Guinness-Bier: Dem bekommt das Reisen auch nicht.“ Keenan trinkt Tee in einem Café am Marktplatz. Der katholische Priester ist bekannt für seine launigen Messen – auf Portugiesisch. Neun Jahre lang hat er im brasilianischen Pará missioniert, wo es noch Sklavenarbeit gibt. „Gott hat mich dort auf meine Aufgabe hier vorbereitet“, sagt der 45-Jährige. Kleine Augen funkeln aus einem roten runden Gesicht.

Er sagt über sich: „Ich bin der meistgehasste Mann bei der irischen Fleischindustrie.“ Diese warb immer mehr Brasilianer an, zahlte ihnen aber weniger als den Mindestlohn von etwa acht Euro; unbezahlte Überstunden waren normal, ebenso verweigerte Pinkelpausen. Keenan brachte mehrere Arbeitgeber vor den Richter und gewann. „Seitdem haben die Brasilianer verstanden, dass sie Rechte haben; und die Iren, dass die Südamerikaner eine Bereicherung sind.“

Zum Zusammenhalt in Gort hat, es mag zynisch klingen, auch der Tod zweier Brasilianer beigetragen, die 2005 im Schlaf starben, weil ihre Ölheizung defekt war. Keenan sammelte Geld für ihre Familien, „und alle haben gespendet, bis auf einen Discounter.“

Nun steht Gort erneut vor einer Veränderung. In den Pubs trifft man immer mehr Polen und Balten. Sie sind, anders als die meisten Brasilianer, legal da. Und bei der nächsten Wirtschaftskrise, fürchtet Keenan, wird es mit der Toleranz gegenüber den Illegalen vorbei sein.

DIE ANKUNFT

Dulce fürchtet sich nicht mehr. Sie hat eine Arbeitserlaubnis. Nach drei Monaten fand sie einen Job als Putzfrau, dann lernte sie einen reisenden Clown kennen, fuhr mit ihm kreuz und quer über die Insel und tanzte in Sponge-Bob-Kostümen. Als der Clown ihr aber einen Heiratsantrag machte, sagte sie „No“, und er kriegte einen Brüllanfall. Sie ging nach Gort zurück und lernte einen schottischen Sozialarbeiter kennen. Gemeinsam zogen sie ein Bed & Breakfast auf. Dulce fasste Mut: Gegen ihren Ex-Mann setzte sie durch, dass Tochter Roberta nach Irland kommt.

Die Schule ist aus, Roberta steckt den Kopf zur Küchentür herein. „Hi, how’re you doin’?“ Dulce macht Abendessen für ein Paar aus Spanien auf der Durchreise. Roberta quengelt, dass sie zurück nach Brasilien wolle. „Mein Schatz“, antwortet Dulce, „deine Mãe hat sich hier in zwei Jahren mehr aufgebaut als in Brasilien in 38.“ Es hat begonnen zu regnen, der Wind drückt feine Tropfen gegen das Fenster. Aber es ist ein neues Fenster, und das Pfeifen des Windes hört man nicht.