Ingrid Betancourt, die geläuterte Geisel

Ingrid Betancourt, die geläuterte Geisel

Genau 2321 Tage saß Ingrid Betancourt als Geisel im Urwald. Nach ihrer Befreiung am 2. Juli gönnte sie sich eine Woche Ruhe. Dann erschien sie wieder in der Öffentlichkeit und düst seitdem um die Welt, als ob sie sechseinhalb verlorene Jahre im Schnelldurchlauf nachholen könnte.

(Foto: Fabio Gismondi)

Nun sitzt Betancourt in einem brokatbezogenen Sessel im Pariser Rathaus und blickt auf die Seine. Die 47-Jährige trägt Jeans und ein weißes Hemd, ihre Haare hat sie streng zu einem Dutt nach hinten gebunden, der ihre Perlenohrringe zur Geltung bringt. Vor nicht einmal 24 Stunden ist sie von einer Tour durch Südamerika zurückgekehrt, hat in zehn Tagen sieben Präsidenten getroffen.

“Ein bisschen Jetlag habe ich schon”, sagt sie.

Um Betancourt herum herrscht Hektik. Fotografen rennen über das knarrende Parkett des Arkadensaals, wo gerade das “9. Treffen der Friedensnobelpreisträger” begonnen hat – ein Goodwill-Gipfel unter dem Motto “Menschenrechte: für eine Welt ohne Gewalt”. Hinter Betancourt gibt der ehemalige südafrikanische Präsident Willem de Klerk ein Interview. Lech Walesa trinkt unter einem Kronleuchter Kaffee und beißt in einen Keks. Betancourt ist als Ehrengast zu dem Treffen eingeladen worden, ebenso Bono, der Sänger von U2. Die Schauspielerin Penelope Cruz und Carla Bruni wollen dazustoßen. Als Frankreichs Première Dame eintrifft, wirft sie Betancourt einen Kussmund zu.

Krasser als hier, inmitten von neoklassischer Pracht und Prominenten, könnte der Kontrast kaum sein. Noch im Juni dieses Jahres saß Ingrid Betancourt abgemagert als Gefangene der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) im Dschungel. Die Guerillatruppe hatte sie 2002 entführt, als sie als chancenlose Präsidentschaftskandidatin der Grünen Partei durch das südamerikanische Bürgerkriegsland tourte. Aus Sturheit hatte sie ein Gebiet bereist, das als unsicher galt. Mit den Jahren und trotz internationaler Appelle schwand die Hoffnung auf ihre baldige Freilassung. “Ich war auf zehn weitere Jahre Gefangenschaft eingestellt”, sagt Betancourt. Dann kam die spektakulärste Befreiungsaktion des Jahres: “Operation Schach”.

Am Morgen des 2. Juli flogen von US-Spezialisten trainierte kolumbianische Soldaten in den Dschungel, gaben sich als Farc-Leute aus und behaupteten, sie würden Betancourt und 14 weitere Geiseln zum neuen Chef der Guerilla bringen. Im Hubschrauber wurden die Aufständischen überwältigt, und Ingrid Betancourts neues Leben begann. Schon kurz nach ihrer Ankunft in Bogotá gab sie tief berührt zu Protokoll, dass sie von nun an für die Freilassung der restlichen Geiseln kämpfen werde. Über Nacht wurde Betancourt zu einer globalen Ikone der Freiheit, die unermüdlich ihre Botschaft von Frieden und Versöhnung verkündet. Dabei ist das eigentlich Erstaunliche nicht Betancourts Wandel von der Geisel zur Friedensnobelpreiskanditatin, sondern von der einstmals zornigen linken Politikerin zu Everybody’s Darling. Ausgerechnet die Gefangenschaft hat ihr eine Bekanntheit, Popularität und Freunde verschafft, die sie vorher nicht hatte.

Betancourt hat den Papst und Madonna getroffen, sie hat mit Alvaro Uribe, dem ultrarechten Präsidenten Kolumbiens, ebenso Händchen gehalten wie mit dessen Erzrivalen, dem Sozialisten Hugo Chávez aus Venezuela. Von Spaniens Kronprinz hat sie den Prinz-von-Asturien-Preis erhalten und Nicolas Sarkozy hat sie zum “Ritter der Ehrenlegion” ernannt. In Wien hat Betancourt die Auszeichnung “Frau des Jahres 2008” entgegengenommen und in Rom würdigte das Parlament sie als “Pilgerin des Friedens”. In Lourdes entzündete sie umringt von Fotografen eine Kerze, König Albert II. von Belgien zitierte sie in seiner Weihnachtsansprache und Sony und Warner konkurrieren um die Verfilmung ihrer Befreiung. Wenige Tage vor ihrem Geburtstag am 25. Dezember ist sie dann erneut über den Atlantik geflogen und hat in der Basilika der Heiligen Jungfrau von Guadalupe in Mexiko-Stadt gebetet. Wo immer sie auftaucht – sie wird geherzt und innig umarmt. Nur das Nobelpreiskomitee bevorzugte den Finnen Martti Ahtisaari. Die Pressekonferenz, auf der Betancourt sich für den Friedensnobelpreis bedanken wollte, musste sie kurzerhand wieder absagen.

Dabei kommt Betancourt keineswegs laut daher. Sie ist schmaler als sie auf den Fotos wirkt, scheint entrückt und verletzlich. Nur leise und zögerlich spricht sie von sich und scheint vieles, was sie berichtet, im Innern neu zu erleben. Eine Intensität geht von ihr aus, die Bono später beschreiben wird: “Ingrid ist der ruhigste Sturm, den ich je erlebt habe.” Doch was bewegt diesen Sturm? Ist es Hyperaktivität als Kompensation für sechs Jahre Stillstand; oder das schlechte Gewissen, befreit worden zu sein, während Dutzende andere noch gefangen sind? Betancourt richtet ihre kleinen schwarzfunkelnden Augen auf einen Punkt irgendwo jenseits der trüben Seine. Sie sagt: “Ich träume jede Nacht vom Urwald.” Sie berührt ihren linken Arm: “Ich habe Narben auf der Haut.” Und sie klappert kurz mit dem Rosenkranz aus geflochtenen Schnüren und Knöpfen, den sie seit der Gefangenschaft am Handgelenk trägt und der so gar nicht zu ihrer adretten Aufmachung passen will. “Der Schmerz und die Erinnerung sind mein Antrieb.”

Es scheint zuweilen, als ob Ingrid Betancourt dem Dschungel noch nicht entronnen ist. Ein Bild geht ihr nicht aus dem Kopf: “Die Märsche. Diese unendlichen, ermüdenden, immer wiederkehrenden, schrecklichen Märsche. Ich sehe, wie wir aneinandergefesselt sind und nur mühsam gehen können, und ich spüre den Hunger. Und die Angst, nicht zu wissen, wie lange es noch dauert und wohin wir getrieben werden.” Betancourt erzählt, wie die Lager blitzartig verlassen werden mussten, immer wenn ein Flugzeug zu hören war. Daher leide sie heute unter Übelkeit, wenn sie Flugzeuglärm höre. Es ist ein Symptom, von dem auch viele Kriegsheimkehrer berichten.

Und doch ist Betancourt am äußeren Druck innerlich gewachsen. Mitgefangene berichten, dass sie sich nie den Farc unterworfen habe. Ihre Befreiung scheiterte sogar fast daran, dass sie sich vor dem Besteigen des Helikopters nicht fesseln lassen wollte. Von den Farc wird sie in E-Mails oft als “Rebellin” bezeichnet. Betancourt unternahm fünf Fluchtversuche, zur Strafe kettete man sie tagelang an einen Baum. Man nahm ihr das Tagebuch weg und verweigerte ihr Seife und Zahnbürste. 2007 erkrankte sie schwer an Gelbsucht und überlebte nur dank eines mitgefangenen Armeesanitäters. Vom Tod ihres Vaters erfuhr sie zufällig: Auf altem Zeitungspapier, in das man Kohlköpfe eingewickelt hatte, las sie von seiner Beerdigung. Zunächst hatte sie sich noch über den Kohl gefreut, eine Abwechslung von Reis und Schlangenfleisch. Von ihren beiden Kindern hörte Betancourt nur in der Radiosendung “Stimmen der Entführung”, die sonntags in den Dschungel ausgestrahlt wird. Aber sie konnte ihnen nicht antworten.

Jahrelang gab es kein Lebenszeichen von Betancourt, die Gerüchte schossen ins Kraut. Ihre einstigen politischen Gegner auf der Rechten behaupteten, sie kommandiere mittlerweile eine Einheit der Farc. Die Medien erklärten sie mehrfach für tot. Dann fand man Ende 2007 einen Brief Betancourts an ihre Mutter. Das Leben im Dschungel sei “finsterste Zeitverschwendung”, schreibt sie darin: “Ich lebe in einer Hängematte. Ein Holzbrett dient mir als Ablage für einen Kleiderbeutel und die Bibel, die mein einziger Luxus ist.” Auch ein Video tauchte auf, in dem Betancourt ausgemergelt zwischen Bäumen hockt. Es wurde gemutmaßt, dass sie schwer krank und depressiv sei. Heute schüttelt Betancourt den Kopf. “Die Farc wollten der Welt eine gutgelaunte Ingrid vorführen, da habe ich nicht mitgemacht.” Zu jenem Zeitpunkt sei sie schon längst frei gewesen – von ihren Gefühlen.

“Ich bin nach innen geflüchtet und war mit Gott alleine”, sagt Betancourt. Sie habe weder Hass gespürt noch Angst vor dem Tod gehabt. In einer Welt voller Schlechtheit hat Betancourt offensichtlich zu einem unerschütterlichen Glauben an das Gute gefunden. “Diesen Weg zu gehen, war eine bewusste Entscheidung”, sagt sie. Dann kam die tatsächliche Befreiung, und Betancourt wurde “von der Steinzeit in die Zivilisation katapultiert”, wie sie es nennt. Die Anpassung verlief übergangslos. Blitzschnell konnte sie mit ihrem neuen Handy umgehen und trug trotz ihres sensibilisierten Geruchsinns Parfüm auf. Ihre Hautkrankheiten verschwanden und sie duschte erstmals wieder. Zuvor hatte sie als einzige weibliche Gefangene immer in Hemd und Hose in den Flüssen gebadet.

Schwieriger war es, sagt sie, ihre beiden – nun erwachsenen – Kinder Lorenzo und Melanie neu kennenzulernen. Über ihren zweiten Ehemann möchte Betancourt nicht reden. Juan Carlos Lecompte, Gründer der kolumbianischen Grünen, hat sich jahrelang für ihre Befreiung eingesetzt und das Buch “Ingrid suchen” geschrieben. Doch schon bei ihrer Ankunft in Bogotá hatte sie nur eine kurze Berührung für ihn übrig. Es heißt, Betancourts Mutter stecke hinter der Entfremdung. Sie konnte Lecompte nicht leiden und habe ihrer Tochter Gerüchte zukommen lassen, er habe eine Geliebte. Lecompte verneint das, meint aber, Ingrids Liebe sei wohl im Dschungel gestorben.

Betancourt stammt aus einer der einflussreichsten Familien Kolumbiens. Sie wuchs als Tochter eines französischen Diplomaten und einer kolumbianischen Schönheitskönigin in Bogotá und Paris auf, wo sie eine Eliteschule besuchte. 1989 ging sie nach Kolumbien, um gegen die Korruption zu kämpfen. Als Parlamentsabgeordnete erlangte sie schnell Bekanntheit, weil sie sich mit dem Establishment anlegte – vom Präsidenten über die Armee bis zur Drogenmafia. Sie beschuldigte Staatsoberhaupt Ernesto Samper, seinen Wahlkampf mit Geldern des Cali-Kartells finanziert zu haben. Sie veranstaltete Hungerstreiks im Parlament und verteilte Kondome gegen “das Aids Kolumbiens: die Korruption”.

Sie erhielt Morddrohungen, darunter Fotos von zerstückelten Kinderleichen. Nur knapp entging sie einem Anschlag. In ihrem Buch “La Rage au Cœur” (“Wut im Herzen”) beschrieb Betancourt 1998 die Verkommenheit der kolumbianischen Eliten. In Frankreich wurde es ein Bestseller, in Kolumbien zerrissen. Als sie dann 2002 als Präsidentschaftskandidatin der neugegründeten Partei “Oxigeno Verde” (“Grüner Sauerstoff”) antrat, bekam sie in Umfragen 0,8 Prozent der Stimmen. Sie hatte sich zu viele Feinde gemacht, und nicht wenige freuten sich insgeheim, als sie 2002 von der Bildfläche verschwand.

Heute ist die Wut aus Betancourts Herz verschwunden, stattdessen spricht sie von Vergebung, Glaube und Gott. Und sie mag niemandem mehr wehtun. Sie lobt das Militär für seine Effizienz und Staatschef Uribe für seinen Willen. 77 Prozent der Kolumbianer würden heute für sie als Präsidentin stimmen. Aber sie will nicht mehr. “Ich habe kein Interesse an Politik”, beteuert sie. Stattdessen möchte sie sich im kommenden Jahr zurückziehen und ein Buch über ihre Geiselhaft schreiben. Außerdem hat sie eine Stiftung gegründet, die Projekte gegen die Armut in Kolumbien finanzieren soll. Auf ihrer Rückreise nach Frankreich hat Betancourt den desertierten Guerillero Isaza mitgenommen. Er will in Frankreich ein neues Leben beginnen. Auf dem Flughafen von Bogotá überraschte sie ihn mit einer Umarmung. “Nur drei oder vier Guerilleros haben mir gegenüber Mitleid gezeigt”, sagt Betancourt, “aber vom Hass zur Liebe ist es nur ein Schritt”.

Die Farc haben unterdessen angekündigt, dass sie vor Ablauf des Jahres sechs Geiseln bedingungslos freilassen wollen.