Um die Frau zu treffen, die die Krise in der Karibik ausgelöst hat, verlässt man die dominikanische Hauptstadt Santo Domingo in nördlicher Richtung.
Nach den letzten Häusern beginnen ausgedehnte Weiden, eine Stunde später geht es von der asphaltierten Straße ab. Der Wagen holpert über eine löcherige Piste durch flaches, in der Mittagshitze flimmerndes Land. Irgendwann erreicht man Batey Los Jovillos, eine verlorene Ansammlung windschiefer Holzhäuser mit rostigen Blechdächern.
Hier lebten einst die Arbeiter aus Haiti, die in den umliegenden Feldern das Zuckerrohr schnitten, doch seit in der Region die Viehzucht dominiert, sind viele von ihnen fortgegangen. Diejenigen, die geblieben sind, haben weder feste Jobs noch regelmäßige Einkommen, und so ist Los Jovillos wie zahlreiche Bateyes – so heißen die Siedlungen der Zuckerrohrschneider – zu einem Slum im Grünen geworden. Man fragt einige Mädchen, die unter einem Baum Erbsen sortieren, nach dem Haus von Juliana Dequis Pierre. Sie lachen und weisen den Weg.
Nach kurzem Fußweg erreicht man ein langgestrecktes Gebäude aus bröckelnden Betonsteinen, in denen die Wohneinheiten wie Zellen aneinandergereiht sind. Man ruft nach Juliana Dequis und eine junge schwarze Frau öffnet schüchtern eine Tür. Hinter ihr streiten zwei Kinder, zwei weitere lugen neugierig an ihr vorbei. Juliana Dequis Pierre blickt zu Boden und sagt leise: „Buenas tardes.“
Es ist nur schwer zu glauben, aber wegen der stillen Frau vergleicht Mario Vargas Llosa die Dominikanische Republik mit Nazideutschland und überlegte Venezuela, seine billigen Öllieferungen einzustellen. Die Karibische Gemeinschaft (Caricom) hat die Aufnahmegespräche mit dem Inselstaat suspendiert, und in Kanada gibt es Aufrufe zum Ferienboykott des vermeintlichen Urlaubsparadieses.
Juliana Dequis bewohnt mit ihren vier Kindern zwei Räume. In einem ist ein Matratzenlager eingerichtet, Plastikeimer auf dem Boden zeigen an, wo es bei Regen durchs Dach tropft. Im anderen stehen ein Tisch und vier Stühle. An der fleckigen Decke baumelt eine Glühbirne und das Gemälde irgendeines europäischen Dorfidylls soll die Wände etwas weniger kahl erscheinen lassen. Es ist zu vermuten, dass keiner der Verfassungsrichter, die am 23. September 2013 über Juliana Dequis ihr Urteil sprachen, wusste, in welch ärmlichen Verhältnissen die 29-Jährige lebt. Es ist ebenso anzunehmen, dass es die Entscheidung nicht im Geringsten beeinflusst hätte.
An jenem Tag entschied das Tribunal Constitucional, das Verfassungsgericht der Dominikanischen Republik und höchste juristische Instanz des Landes, mit elf zu zwei Stimmen, dass Juliana Dequis, die am 1. April 1984 in der Dominikanischen Republik geboren wurde, deren Geburtsurkunde sie als Dominikanerin ausweist, die nie das Land verlassen hat und perfekt Spanisch spricht, dass also diese Juliana Dequis keine Dominikanerin sei und somit auch keinen dominikanischen Ausweis erhalte. Sie war, unterstützt von einer Menschenrechtsorganisation, vor das Gericht gezogen, weil man ihr auf dem Einwohnermeldeamt seit Jahren die Identitätskarte verweigerte und bei einer Gelegenheit auch gleich die Geburtsurkunde einbehalten hatte. Das Gericht erklärte das Vorgehen nun für rechtens.
„Ohne Papiere kann ich nicht wählen, keine weiterführende Schule besuchen und kein Konto eröffnen“, zählt Dequis die Konsequenzen auf, „ich kann nicht heiraten, nicht reisen und keine Verträge abschließen“. Im Grunde existiert Dequis als juristische Person nicht mehr. „Und das alles, weil ich einen französischen Namen habe und schwarz bin“, sagt sie.
Die Begründung der Richter lautete anders: Julianas Eltern seien zum Zeitpunkt ihrer Geburt nicht legal im Land gewesen, sondern als „Personen im Transit“.
Zu dieser Bewertung gehört einiges an Kaltschnäuzigkeit. Blanco Dequis und Marie Pierre wurden Anfang der 1970er Jahre vom staatlichen dominikanischen Zuckerkonzern CEA (Consejo Estatal de Azúcar) aus Haiti ins Batey Los Jovillos gebracht, um dort für einen Hungerlohn Zuckerrohr zu schlagen, Zucker war damals das wichtigste Exportprodukt des Landes. Doch man brachte Blanco und Marie nach getaner Arbeit nicht zurück. Also blieben sie, wie zehntausende andere haitianische picaderos auch. Jahr um Jahr rückten sie zur zafra, der beschwerlichen mehrmonatigen Zuckerrohrernte, aus. Ansonsten war es ihnen verboten, das firmeneigene Batey zu verlassen. Man zahlte ihnen gerade genug, damit sie überteuerte Nahrungsmittel im Firmenladen kaufen konnten, aber nie genug, um im Leben voranzukommen. Sie waren moderne Sklaven. Und mussten regelmäßig als Sündenböcke herhalten: dass die Haitianer die Dominikanische Republik überfluteten, hieß es dann; dass sie kulturell zu fremd seien, kriminell, krank, arm und schmutzig.
Mit seiner Entscheidung legte das Verfassungsgericht nun fest: Nicht nur Juliana Dequis hat keinen Anspruch mehr auf die dominikanische Nationalität, sondern niemand, der oder die nach 1929 unter „irregulären“ Umständen im Land geboren wurde. Die Junta Central Electoral, die zentrale Wahlbehörde, wurde angewiesen alle 55.000 Geburtsregister zu überprüfen und zu „bereinigen“. Das Gericht ging von 665.148 Betroffenen aus, fast sieben Prozent der dominikanischen Bevölkerung. Selten hat ein Land so viel Energie darauf verwandt, einem großen Teil seiner Staatsbürger die Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen, und das rückwirkend über 80 Jahre. Gleichzeitig wurde es den Kindern undokumentierter Arbeiter so gut wie unmöglich gemacht, die dominikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Beobachtern war sofort klar, dass der Richterspruch einzig auf Personen haitianischer Abstammung zielt. In der „New York Times“ bezeichneten die Schriftsteller Junot Díaz und Edwidge Danticat die Entscheidung als „abstoßend“ und „rassistisch“. Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa schrieb in „El País“: „Das Urteil scheint direkt von den Nürnberger Gesetzen inspiriert zu sein.“
In der Dominikanischen Republik hingegen begrüßte die rechtsliberale Regierung das Urteil. Das wirtschaftliche Establishment war begeistert: Endlich werde klar gestellt, wer Dominikaner sei. Zustimmend äußerten sich der Erzbischof von Santo Domingo und die Presse. „Das Gericht hat ein historisches Urteil gefällt“, jubelte die Zeitung „Listin Diario“ stellvertretend für die Massenmedien, die mit einer regelrechten Hetzkampagne gegen die „Eindringlinge“ aus dem Nachbarland begannen. Dabei wurde kein Unterschied mehr gemacht zwischen den Dominikanern haitianischer Abstammung und den Arbeitsimmigranten aus Haiti.
Die Kampagne zeigte schnell Wirkung. Auf Demonstrationen in Santo Domingo forderten Redner den Bau einer Grenzmauer, vorgedruckte Plakate wurden geschwenkt : „Verteidige die Heimat!“ Broschüren mit Fotos von „Vaterlandsverrätern“ machten die Runde: prominente Dominikaner, die das Urteil kritisch sehen. Wenn man heute mit einfachen Dominikanern spricht, dann hört man vor allem Ressentiments. Eine Barkeeperin: „Ich fürchte mich vor den Haitianern, weil sie hexen könnten. Sie sind anders als wir, und es gibt zu viele von ihnen.“ An Hauswänden in Santo Domingos Zentrum liest man: „Fuera Haitiano Ilegal“ (Illegaler Haitianer Raus).
Juliana Dequis fragt sich derweil, welche Haitianer gemeint sind. „Ich bin Dominikanerin“, sagt sie. Als sie zur Welt kam, wurde sie als Dominikanerin ins Geburtsregister eingetragen. Damals herrschte das uneingeschränkte Ius Solis, das Bodenrecht, das im Land geborenen Kindern automatisch die Staatsbürgerschaft zusprach.
Nun hat das Gericht Juliana Dequis zur Staatenlosen gemacht. Ebenso ihre vier Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Zurzeit besuchen sie die winzige Grundschule in Los Jovillos, doch danach ist Schluss. Auf welchen Namen sollten ihre Zeugnisse ausgestellt werden? Fälle wie den der Familie Dequis gibt es in der Dominikanischen Republik zuhauf. Denn die Behörden verweigern den Kindern haitianisch wirkender Eltern schon seit Jahren systematisch die Identitätsnachweise. Die Folge: Es gibt es heute in der Dominikanischen Republik zehntausende staatenlose Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Menschen, die offiziell nicht existieren.
Schon 2005 verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den dominikanischen Staat deswegen. Doch die Dominikaner ignorierten das Urteil. Auf ihrer Inselhälfte wächst eine Generation entrechteter Menschen auf. Sie bilden ein Herr billiger Arbeitskräfte, die sich auf Feldern, Baustellen, als Straßenverkäufer und Prostituierte sowie in Hotelanlagen verdingen. Es ist die ökonomische Komponente des institutionellen Rassismus’.
Nach dem Urteil des Verfassungsgericht bekam Juliane Dequis viel Besuch: von Zeitungsreportern und Fernsehcrews aus aller Welt. Doch die Dame in Santo Domingo, bei der sie wochentags als Haushälterin für 100 Euro im Monat arbeitete, stellte ihre Sachen wortlos vor die Tür.
Es gibt wohl kaum eine komplexere Beziehung zwischen zwei Nationen. Haiti und die Dominikanische Republik teilen sich eine Insel, die nicht größer ist als Niedersachsen (Domrep) und Mecklenburg-Vorpommern (Haiti). Und doch leben Haitianer und Dominikaner in zwei verschiedenen Welten, gefangen in gegenseitigem Misstrauen und geschichtlich gereiften Vorurteilen.
Es beginnt schon mit den einfachen Dingen. In Haiti herrscht König Fußball, aber im Nachbarland haben sie keine Ahnung wer Messi oder Ronaldo sind. Dort wird Baseball gespielt. In Haiti spricht man das linguistische Phänomen Kreolisch, in der Dominikanischen Republik die Weltsprache Spanisch. In Haiti sind die Menschen stolz auf ihre schwarze Haut und die einzige erfolgreiche Sklavenrevolte der Geschichte. Im anderen Inselteil verleugnet man hartnäckig sein afrikanisches Erbe, beruft sich auf La Madre Pátria Spanien, nennt dunkelhäutige Menschen Indios und unterscheidet zwischen „schlechten Haaren“ (gekräuselt) und „guten Haaren“ (glatt). Nicht mal auf eine gemeinsame Uhrzeit hat man sich einigen können: In Haiti ist es eine Stunde früher als im Nachbarland.
Bei den harten Daten sind die Unterschiede ebenso frappierend. Der Human Development Index (HDI) der UN misst die Lebensqualität anhand von Pro-Kopf-Einkommen, Bildungsgrad und Lebenserwartung. Im Jahr 2013 belegte Haiti Rang 161 von 185 Ländern. Nirgendwo auf dem amerikanischen Kontinent leben die Menschen kürzer (62 Jahre) und sterben Neugeborene öfter (165 von 1000). Drei von vier Haitianern leiden unter Hunger oder Mangelernährung. Nach Missernten essen die Ärmsten „Plätzchen“ aus Lehm. In allen Vergleichen der Vereinten Nationen taucht Haiti irgendwo zwischen dem Kongo und Dschibuti auf. Afrika im Herzen Amerikas.
Die Dominikanische Republik liegt im HDI hingegen auf dem mittleren Rang 96. Fast keine Grenze hat ein steileres Gefälle. Verwundert es, dass die Haitianer seit Jahrzehnten in die Dominikanische Republik emigrieren, um Arbeit zu finden?
Und doch: Es gibt Gemeinsamkeiten. Auch diese sind charakteristisch. Haiti und die Dominikanische Republik wurden im 20. Jahrhundert je zwei mal von US-Soldaten besetzt und mehrere Jahrzehnte von zwei egomanen Diktatoren beherrscht. Beide Völker feiern Karneval: bunt, dionysisch, laut und wild. Das Fest, bei dem die Grenzen verschwimmen, die Regelübertretung zur Norm wird und die Hautfarbe vergessen. Als im Januar 2010 ein schweres Erdbeben die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince zerstörte, waren die Dominikaner die Ersten, die schnell und unbürokratisch halfen. Ihre Hospitäler in Grenznähe nehmen schon seit langem schwangere Haitianerinnen auf.
Und noch etwas eint die Insel: Insbesondere die Männer beider Ländern sind fanatische Anhänger des Hahnenkampfs. Die bunt gefiederten, stolzen, aggressiven Hähne, die sich in der runden Arena umkreisen, aus der sie nicht entkommen können. Sie gleichen sich, teilen ein Schicksal und zanken sich doch bis aufs Blut.
„Wir sind stolz darauf, Dominikaner zu sein!“ In einem fensterlosen Konferenzraum im Zentrum Santo Domingos sitzen zwölf junge Schwarze zusammen. Sie sind die Regionalkoordinatoren von Reconoci.do, der aktivsten Protestbewegung im Kampf gegen das Urteil. Einmal im Monat treffen sie sich, um neue Aktionen zu planen. Bekannt wurde Reconoci.do mit einem mehrtägigen Marsch auf die Hauptstadt und dem Absingen der Nationalhymne vor der Zentralen Wahlbehörde. Es trug der Gruppe Anerkennung und Spott ein: „Diese Haitianer singen unsere Hymne ohne Inbrunst“, lautete ein noch gemäßigter Kommentar auf Youtube.
Alle hier sind Dominikaner mit Vorfahren aus Haiti, die meisten studieren, ein erfahrener Anwalt sitzt mit am Tisch. Alle sprechen neben Spanisch auch Kreolisch, aber nur vier sind jemals in Haiti gewesen. Ihnen allen droht jetzt die Aberkennung der dominikanischen Staatsbürgerschaft.
Mit dem Alltagsrassismus schlagen sie sich hingegen schon länger herum. Estefanie aus der grenznahen Provinz Barahona erzählt, dass ein Busfahrer sich weigerte, sie in die Hauptstadt zu transportieren. Dann wurde sie bei einer Verkehrskontrolle von Polizisten gezwungen, aus dem Kleinbus auszusteigen, der sie schließlich mitgenommen hatte. „Sie behaupteten, meine Papiere seien gefälscht, sie wollten natürlich Schmiergeld“, sagt Estefanie, „das ist normal“. Der Anwalt Felipe erklärt die Abneigung der Dominikaner gegen die Haitianer so: „Viele gründen ihre Identität einzig darauf, dass sie keine Haitianer sind. Was sie über Haiti wissen, hat meist nur mit der Besatzung zu tun.“
Als haitianische Truppen zwischen 1822 und 1844 die Dominikanische Republik okkupierten, führten sie den Militärdienst ein, beschränkten den Gebrauch der spanischen Sprache, schlossen die Universität, untersagten Nicht-Haitianern Handelsaktivitäten und verboten Karten- und Würfelspiele. Wenn die Dominikaner heute am 27. Februar ihren Unabhängigkeitstag feiern, dann gedenken sie nicht wie der Rest Lateinamerikas der Befreiung von Spanien, sondern der von Haiti. Bis heute wird die Besatzung instrumentalisiert. Die wichtige Tageszeitung „Hoy“ behauptet ernsthaft, dass es internationale Pläne gebe, um die Insel zwangszuvereinigen. Schon deswegen müsse man sich gegen die „stille Invasion“ aus dem Nachbarland wehren.
Im kollektiven Bewusstsein der Haitianer ist etwas ganz anderes präsent: 1937 brachte die dominikanische Armee in nur einer Oktoberwoche bis zu 30.000 Haitianer im Grenzgebiet mit Bajonetten, Macheten und Spaten um. Diktator Rafael Trujillo hatte das Morden befohlen, um das Land „zu weißen“. Joaquín Balaguer, der prägende dominikanische Politiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, rechtfertigte den Genozid bis zu seinem Tod: „Wasser und Öl können koexistieren“, sagte er, „aber man kann sie nicht mischen, ohne dass sie nicht ihre Identität verlieren“.
Sprecherin von Reconoci.do ist Ana Belique. Sie wurde vor 27 Jahren in einem Batey geboren, nun studiert sie an der Universität von Santo Domingo. Während des Gesprächs beantwortet sie mit ihren zwei Blackberrys Nachrichten. Sie erzählt, dass man seit dem Urteil viel Zuspruch von Künstlern und Intellektuellen erfahre. Aber die meisten trauten sich nicht, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Sogar Präsident Danilo Medina sei ja eingeknickt. Bei einem Treffen im Präsidentenpalast kurz nach dem Urteil hatte Medina gegenüber Belique sein Bedauern über die schwierige Situation ausgedrückt. Nachdem ihm die Medien fehlenden Patriotismus vorwarfen, wurde Medina zum Hardliner. Anfang Februar verteidigte er beim Gipfeltreffen der Staaten Lateinamerikas auf Kuba vehement das Verfassungsgerichtsurteil gegen jede „Einmischung von Außen“.
„Ich fürchte, dass so wird wie in den US-Südstaaten der 50er Jahre“, sagt Belique.
Ähnliche Vergleiche hört man immer wieder. Sogar von Apartheid ist die Rede. Auch wenn das übertrieben ist, so drückt sich darin doch ein verändertes Klima aus. Fast täglich erhält Ana Belique anonyme Drohungen. Auf Facebook schrieb man ihr: „Du gehörst dahin, wo Sonia Pierre schon ist.“
Sonia Pierre ist tot. Sie war eine der bekanntesten Menschenrechtsaktivistin der Dominikanischen Republik. 1983 hatte sie die NGO Mudha gegründet, die Bewegung dominikanisch-haitianischer Frauen. Als sie 2011 starb, hatte Pierre im Ausland zahlreiche Preise bekommen. Aber in der Dominikanischen Republik strafte man sie bis zum Schluss mit Verachtung.
Sonias Tochter heißt Manuela Pierre. Die 28-Jährige trägt kurze glatte Haare und arbeitet als Anwältin bei Mudha, mittlerweile eine der prestigeträchtigsten NGOs der Karibik. Sie hat ins Hauptquartier eingeladen, das man erst vor wenigen Wochen an den Stadtrand verlegt hat, weil es im Büro im Zentrum ständig Ärger mit den Nachbarn gab.
Pierre beginnt das Gespräch mit einer Erzählung. Als sie elf Jahre alt war, sollte sie im Schultheater Minerva Mirabal spielen, die große Nationalheldin der Dominikanischen Republik, die 1960 auf Befehl des Diktators Trujillo ermordet wurde. „Doch die Schuldirektorin schritt ein“, sagt Pierre, „ich könne Minerva nicht spielen, ich sei zu schwarz“.
Pierre hat den Schock von damals überwunden, „er hat mich stärker gemacht“. Die Erschütterung die das Urteil des Verfassungstribunals in der haitianischstämmigen Bevölkerung auslösen wird, sei hingegen nicht abzusehen. „Die Einschulungsrate wird noch weiter sinken und die Selbstmorde werden zunehmen“, sagt Pierre voraus. „Es wird mehr Sklavenarbeit und Prostitution geben. Die Menschen werden in ständiger Angst vor der Deportation leben. Anwälte und Notare werden ihre Zulassungen verlieren, Regierungsangestellte ihre Jobs.“
Lito Santana kann darüber nur lachen. Er ist Pressechef der Zentralen Wahlbehörde (JCE) in Santo Domingo. Ihr Gebäude wird von einem riesigen Plakat überragt, auf dem Juan Pablo Duarte, der Gründungsvater der Dominikanischen Republik, verkündet: „Männer ohne Urteilsvermögen und Herz konspirieren gegen die Gesundheit des Vaterlands.“ Der Satz passt hervorragend: Paranoia, Abwehr, Aggression.
Santana bittet in sein klimatisiertes Büro. Er sagt: „Leute wie Manuela Pierre werden aus dem Ausland finanziert und leben von der Verbreitung von Lügen.“ Tatsache sei, dass man bereits alle Geburtsregister durchgesehen und nur 13.762 Dominikaner haitianischer Herkunft gefunden habe, die genauer überprüft werden müssten. „Nur 13.762!“, lacht Santana, „wir werden sie nicht deportieren, sondern ihnen die Möglichkeit geben, eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen.“ Genauso werde man mit den Haitianern verfahren, die nicht im Land geboren wurden, sondern illegal über die Grenze gekommen sind.
Santana, der wegen seiner dunklen Haut sagt, dass er selbst Haitianer sein könnte, mag seinen Worten glauben. Die Realität sieht anders aus. Wenn man rund ein Dutzend Bateyes besucht und mit Betroffenen spricht, dann hört man immer wieder: Menschen, die in den Augen der Beamten haitianischer Abstammung sein könnten, werden die Papiere verweigert und bereits ausgestellte Papier abgenommen. Mit allen Konsequenzen.
Lito Santana will nicht ausschließen, dass diese Dinge geschehen. „Aber niemand kann unsere Entscheidung rückgängig machen“, sagt er, „weder die Karibische Gemeinschaft noch die USA. Und schon gar nicht Mario Vargas Llosa! Es gibt kein Volk, das großzügiger mit den Haitianern umgeht als die Dominikaner.“