In einer schwülen Novembernacht sitzen vier Entwicklungshelfer in Port-au-Prince beisammen und fragen sich: Was verdammt ist schief gelaufen? Wir hatten doch alles: Geld, Technik, Expertise, ein Gefühl für Dringlichkeit.
Warum geht es den Haitianern nicht besser? Fünf Jahre nach dem großen Erdbeben, auf dessen Trümmern ein besseres Land entstehen sollte? „Alles und jeder!“ Sagt einer der Helfer. „Alles und jeder ist schief gelaufen.“
Die vier haben sich im Quartier Latin getroffen, einem der teuersten Restaurants der Stadt im hoch über dem Zentrum gelegenen Viertel Petionville. Man speist umgeben von tropischen Pflanzen, trinkt den guten haitianischen Rum; der Lärm, der Müll, das Elend, die Massen – sie scheinen weit weg. Nur wenige Wochen zuvor aßen (der mittlerweile verstorbene) Ex-Diktator Jean-Claude Duvalier, der Schauspieler Sean Penn und Haitis aktueller Präsident Michel Martelly am selben Abend hier. So berichtet es einer der Helfer, er ist Franzose. Die anderen stammen aus Georgien, Ruanda und Deutschland, sie sind für große internationale Hilfsorganisationen tätig. Ihre Namen sollen hier keine Rolle spielen, sie wollen offen reden, sich und ihre Arbeitgeber nicht kompromittieren.
„Nach dem Erdbeben haben wir ein bisschen Kosmetik gemacht“, sagt der Franzose, der erfahrenste am Tisch. „Ein bisschen aufgeräumt, den gröbsten Mist weggeputzt. Aber wirklich etwas verändert? Nein!“
Die anderen nicken. Sie sind sich einig, dass in Haiti, dem ärmsten Land des amerikanischen Kontinents, eine Chance vertan wurde. Und dass sie, die Entwicklungshelfer, Sisyfosse sind. „Port-au-Prince ist heute wieder das, was es vor der Katastrophe schon war“, sagt der Deutsche: „ein tropisches Moloch!“ Mit Mitte 30 hat er in Haiti schon für vier Hilfsorganisationen gearbeitet, als einziger am Tisch beherrscht er Kreolisch, die Sprache der einfachen Haitianer. „Wir waren doch alle zu kleinkariert“, fährt er fort, „jeder hat sein eigenes Bäumchen gegossen und gedacht, er mache Forstwirtschaft. Es gab keine Koordination. Und was die Haitianer wollten, war vielen egal. Manche Helfer empfinden sie als störend, sie verstehen sie ja nicht.“
Es ist eine bittere Bilanz. „Building Haiti back better!“, lautete der Slogan nach dem Erdbeben, das vor fünf Jahren die kleine Karibiknation erschütterte. Es sollte, so wurde nach dem ersten Schock verkündet, ein Neuanfang werden. Die Welt versprach großzügige Hilfe: Berlin 55 Millionen Dollar, die USA 913 Millionen und Venezuela 930 Millionen Dollar. Auf dem Papier kamen zehn Milliarden Dollar zusammen. Bill Clinton, Vorsitzender der Interimskommission, die den Wiederaufbau koordinieren sollte, verkündete: „Dies ist die beste Chance für eine bessere Zukunft.“ Stunde Null.
Heute ist klar: Die Interimskommission war ein Debakel – nicht nur, weil lediglich die Hälfte der zugesagten Summer floss. Man überging die haitianische Zivilgesellschaft, hielt sich mit internen Rivalitäten auf, versenkte Millionen. Es gab keine Transparenz und keine Haftung. Bill Clinton wurde bald als Schauspieler verspottet, unterdessen besetzte er wichtige Beraterpositionen mit seinen Gefolgsleuten.
So markierte das Beben die Fortsetzung der Katastrophe, die Haiti seit Jahrzehnten schon ist. Vielleicht, so muss man fragen, ist Haiti also gar nicht trotz der vielen Hilfe arm, die es erhält, sondern wegen ihr? Vielleicht, so formuliert es der Ruander am Tisch, „braucht Haiti Hilfe, weil es Hilfe erhält“.
In den vergangenen Jahren sind verschiedene Bücher erschienen („Dead Aid“, „Die Mitleidsindustrie“), die beweisen, wie wirkungslos und kontraproduktiv die seit rund 60 Jahren von Nord nach Süd fließende „Entwicklungshilfe“ ist; dass sie vor allem den Helfern hilft, dass sie in politischer Absicht eingesetzt wird; dass sie der Wirtschaft der Geberländer zugute kommt; dass sie die prekäre Situation, die sie erleichtern soll, noch verschlimmert – insbesondere die der Abhängigkeit: Warum noch Reis anbauen, wenn regelmäßig die Überschüsse der US-Reisindustrie eintreffen? Das Selbsthilfepotential ganzer Gesellschaften wird so vernichtet.
In kaum einem Land kann man all das besser beobachten als in Haiti, einer winzigen Nation mit zehn Millionen Einwohnern, zwei Flugstunden südlich von Miami. Seit Jahrzehnten fließen enorme Summen an Hilfsgeldern auf die Inselhälfte, engagieren sich Zehntausende weiße Helfer – doch das Leben der erdrückenden Mehrheit der Haitianer ist und bleibt unvorstellbar elend. Irgendwann machen die Helfer dann desillusioniert der nächsten Generation von Helfern Platz. Keiner spricht aus, was offensichtlich ist: Schlechte Hilfe reproduziert die Bedingungen für ihre Existenz. Gute Hilfe würde sich überflüssig machen.
Das Elend Haitis hat viele Gründe, jeder für sich schwerwiegend und komplex: Da ist die seit mehr als 200 Jahren herrschende politische Instabilität, die auch in diesen Wochen wieder zu beobachten ist, weil der von den USA ins Amt gehievte Präsident Martelly sich nicht mit der Opposition auf ein Wahlgesetz einigen kann. Da sind die korrupten und abgeschotteten Eliten, die Haiti politisch wie wirtschaftlich im Würgegriff haben und das Land in Monopolen unter sich aufgeteilt haben. Haitis viele Kleinbauern leben unterdessen vom Mais in den Mund und haben keinen Zugang zu Kapital. Haitis Wälder sind zerstört und das Land wird regelmäßig von Naturkatastrophen heimgesucht. Der verbreitete Vodou-Glauben befördert das Misstrauen der Haitianer untereinander. Die USA wollen, so die erklärte Strategie des US-Außenministeriums, Haiti in eine billige Werkbank ihrer Industrie verwandeln.
Anstatt jedoch diese grundlegenden Probleme anzusprechen, wird ständig an Symptomen herumgedoktert. Der Glaube, dass man Haiti irgendwie mit gutgemeinten Projekten verändern kann, hält sich hartnäckig. Fakt ist: Nach dem Beben stand Haiti der globalen Hilfsindustrie offen. Sie hätte zeigen können, wozu sie fähig ist. Building Haiti back better!
Fährt man heute mit dem Motorradtaxi durch Port-au-Prince, stellt man fest, dass die Spuren der Katastrophe beseitigt worden sind. Die Trümmer, die noch lange herumlagen, sind fort. Die Zeltstädte sind verschwunden. Das emblematische Marsfeld vor dem Präsidentenpalast, auf dem ein gigantisches Elendscamp wucherte, ist wieder gepflegte Parkanlage. Den Obdachlosen hat man bis zu 500 Dollar Übergangsgeld für neue Bleiben gezahlt. Andere waren ohnehin nur da, weil sie von den Hilfsorganisationen mit Nahrung und Medikamenten versorgt wurden.
Und dann das Licht: Lag Port-au-Prince nach dem Beben in totaler Finsternis, so erhellen heute Laternen, jede mit einem Solarmodul ausgestattet, die wichtigsten Verkehrsadern. Es sind Infrastrukturprojekte, vor allem der Bau von Straßen und Regierungsgebäuden, welche das Stadtbild positiv verändern. Die physischen Wunden des Bebens, sie vernarben.
Doch da ist auch die andere Seite. Entlang der Straßen, in Talsenken, die Berge hinauf wachsend, an den Ufern verschlammter Kanäle stehen die Slums: Millionen notdürftige Behausungen aus Holz, Planen, löchrigen Ziegeln, mit Wellblechen abgedeckt, von Pfützen umgeben, ohne Strom, fließend Wasser und Toiletten. Plastikfeuer sorgen nachts für etwas Licht. Müllverbrennung auf haitianisch.
Tagsüber stehen, hocken, laufen Hunderttausende Menschen auf den Straßen, versuchen irgendetwas zu verkaufen: Handyhüllen, Medikamente, Seife, T-Shirts, fünf Mangos, Fleischspieße, Holzkohle. Es ist der informelle Sektor, wie es ihn in allen Entwicklungsländern gibt. Doch in Haiti ist er massiv. Die Zahl der Armen – Menschen, die mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen – lag in Haiti zuletzt bei 60 Prozent; die Zahl der extrem Armen (weniger als ein Dollar pro Tag) bei 25 Prozent. Zusammen sind das 8,5 Millionen von rund zehn Millionen Haitianern.
An der Ökonomie, welche die Basis für eine Entwicklung wäre, hat sich also nichts verändert. Immer noch leiden drei von vier Menschen unter Hunger oder Mangelernährung. Die Lebenserwartung der Haitianer ist mit 63 Jahren die geringste der westlichen Hemisphäre, die Kindersterblichkeit die höchste (73 pro Tausend). In allen Vergleichen der UN taucht Haiti irgendwo zwischen dem Sudan, Kongo und Dschibuti auf. Ärmstes Afrika, im Herzen Amerikas.
Treffen mit einem, der vielleicht erklären kann, was passiert ist: Dirk Günther ist Chef der Welthungerhilfe in Haiti, einer der größten NGOs vor Ort mit derzeit 120 Mitarbeitern. Er kennt das Land seit 1983, hat hier insgesamt 20 Jahre gelebt. Man trifft ihn am Rande einer Konferenz in der Dominikanischen Republik, Haitis im Vergleich sehr viel reicherem Nachbarland. Günther ist müde, erschöpft auch von Haiti, in wenigen Tagen wird er endgültig nach Deutschland zurückgehen. Vielleicht will er auch deswegen reden, will Dinge erklären.
Er sagt, die Hilfe sprudele in Haiti immer nach den Katastrophen. Günther nennt sie „die Hilfe danach“, entwicklungsfördernd sei sie nicht. Nach dem Beben sei sie zwangsläufig chaotisch abgelaufen. „Aber es ging ja immer so weiter.“
Tatsächlich sind die ersten Tage nach einer Katastrophe entscheidend für viele Hilfsorganisationen. Die Bilder sind frisch, private Spenden und staatliche Gelder fließen. Man kommt in den Medien vor, kann Budgets und Personal aufstocken, mit guten Taten glänzen. „Nothilfe“, sagt Dirk Günther, „ist für NGOs, die auf Umsatzsteigerung aus sind, am lukrativsten. Aber ist das Geld einmal geflossen, sind sie schnell wieder weg.“
Es kamen auch die Scharlatane: Hilfsorganisationen tauchten auf, die es gar nicht gibt. Sie sprühten ihre Fantasie-Logos auf Zelte, machten Fotos und warben erfolgreich um Gelder. Radikale christliche Gruppen aus den USA versuchten aggressiv zu missionieren. Waisenheime eröffneten, aus denen Kinder dem internationalen Menschenhandel zugeführt werden.
Und es reisten Legionen von Hilfstouristen an: Tausende aufgekratzte junge Westler, bei Hilfsorganisationen im Praktikum, die sich inmitten der existentiellen Not auf einmal unglaublich lebendig fühlen. Sie luden zu wilden Begrüßungspartys ein und feierten zwei Monate später schon wieder Abschied. Andere kamen auf eigene Faust. Auch jetzt noch trifft man im Bus nach Port-au-Prince ein gealtertes Hippie-Pärchen aus Michigan, das „mal schauen“ möchte, „wie man helfen kann“.
Es sind Ausnahmen, aber sie ist illustrieren das haitianische Hilfstheater, bei dem auch die seriösen Organisationen eine Rolle spielen.
„Nach dem Beben passierte alles doppelt und dreifach“, sagt Dirk Günther. Ein Grund: Die Zivilgesellschaft wurde ignoriert. „Niemand fragte die Haitianer, was sie wirklich brauchen, viel Geld wurde sinnlos ausgegeben.“ Eine französische Organisation machte Trinkwasseraufbereitung an einem Ort, an dem schon jahrelang Trinkwasser gefördert wurde. An andere Stelle wollte man ein Krankenhaus neben ein vorhandenes öffentliches Krankenhaus bauen. Die NGOs begaben sich in Konkurrenz zum Staat, der eigentlich zuständig wäre. Nicht umsonst wird Haiti die „NGO-Republik“ genannt.
Dabei ist die Rechtfertigung der Hilfsorganisationen ist nicht falsch: Der haitianische Staat ist korrupt. Dirk Günthers berichtet, wie die Welthungerhilfe nachhaltig angebautes Holz aus der Dominikanischen Republik einführen wollte. Aber haitianische Zöllner hielten die Lieferung fest. Der größte Holzimporteur Haitis hatte interveniert, er wollte die NGOs zwingen, seine Bretter aus Kanada zu kaufen. Ein riesiges Geschäft. Das Holz aus der Dominikanischen Republik stand monatelang an der Grenze. Es war für den Bau von Unterkünften bestimmt.
Dennoch fordert Günther: „Der haitianische Staat muss gestärkt werden. Sonst machen alle, was sie wollen.“ Und tatsächlich weiß ja auch niemand, wie viel Geld bei den Hilfsorganisationen selbst unterschlagen oder zweckentfremdet wird. Bekannt ist etwa, das USAID, die vom US-Außenministerium gesteuerte Hilfsagentur und größter Player im Land, Aufträge im Wert von 267 Millionen Dollar erhielt. Aber 98 Prozent floss zurück in die Taschen von US-Unternehmen: Baufirmen, die sich neue Maschinen zulegten, Beraterfirmen mit Sitz in Washington. Als Haitis Regierung einmal von den 20 größten Organisationen im Land einen Rechenschaftsbericht forderte, erhielt sie keine fünf Antworten.
Was passiert, wenn ein Staat nicht funktioniert, kann einem die Ingenieurin Marlyn Gomez zeigen. Die Dominikanerin ist Spezialistin für Erdbebensicherheit, kommt regelmäßig nach Haiti, um den Bau einer Schule zu begleiten. Beim Gang durch einen der Außenbezirke von Port-au-Prince, deutet sie auf fast jedes neu errichtete Haus. Ihr Verdikt: „Stürzt beim nächsten Beben zusammen. Sie bauen die Fundamente immer noch aus schlecht zementierten Feldsteinen, der Sand im Beton ist zu grob. Außerdem ziehen sie aus Geldmangel zu wenige Stahlgitter ein.“ Doch es sei eben niemand da, der die Bauten kontrolliere.
Es gibt in Haiti heute die Parallelgesellschaft der weißen Helfer. Sie braust in japanischen Geländewagen mit verdunkelten Scheiben vorbei an den haitianischen Sammeltaxis, den Taptaps, in die sich bis zu 15 Haitianer quetschen. Sie hat ihre eigenen Supermärkte und Restaurants und mit Petionville ihr eigenes Viertel. Viele Wohnungsbesitzer vermieten dort nur noch an Ausländer, verlangen absurde Preise. Andere lassen ihre Wohnungen leer stehen, sie wissen: Die nächste Katastrophe kommt bestimmt – und mit ihr die Helfer. Nicht zuletzt begannen auch zahlreiche Haitianerinnen sich für die reichen Weißen zu prostituieren.
Es mögen Randerscheinungen des ständigen Ausnahmezustands sein, in dem sich Haiti befindet. Aber sie sind symptomatisch für die Widersprüche der Hilfe, die sich wenig um die Folgen ihres Tuns schert.
Eine davon kann man rund 20 Kilometer vor der Stadt besichtigen. Verlässt man Port-au-Prince, in nördlicher Richtung gelangt man in das Viertel Corail am Fuße eines kargen Berges. 7000 Familien leben hier in identischen Hütten aus Holzplatten: ein Raum, eine Veranda, eine Feuerstelle, als Dächer dienen Wellbleche. Die haitianische Regierung hatte das Land nach dem Beben ausgewiesen, um die Flüchtlinge aus den Zeltstädten in der Innenstadt zu entfernen. Die christliche fundierte NGO World Vision baute damals 1200 der Unterkünfte.
Doch damit hielt sie ihre Aufgabe für erledigt und verschwand. Auch die Regierung scherte sich nicht weiter. Nun leben Tausende Menschen an einem geographisch isolierten Ort, an dem es keinerlei wirtschaftliche oder soziale Bedingungen für ein autonomes Leben gibt. Zu allem Überfluss wuchert an den Hängen rund um Corail eine weitere Armensiedlung: Canaan, geschätzte 100000 Menschen.
Man spricht einen Mann an, der vor seiner Hütte an einer Nähmaschine sitzt. Roland Joseph, 52, eigentlich Maler. Er bittet hinein. Auf einer speckigen Matratze am Boden liegt ein verrenktes nacktes Mädchen. „Meine Tochter“, sagt der alleinstehende Mann, „sie ist 19 Jahre alt“. Das einzige, was das abgemagerte Mädchen bewegen kann, sind die riesigen Augen. Überraschenderweise vegetierten auch in der Nachbarhütte zwei schwerbehinderte Kinder, sitzen festgezurrt in Rollstühlen. Etwas weiter füttert eine Frau zwei stammelnde Jugendliche mit Reis.
Der Grund für die Häufung: Als die Umsiedlung anstand, wurden Familien mit behinderten Kindern bevorzugt. Man wollte ihnen Gutes tun und hat sie in eine katastrophale Situation gebracht.
Jessica Theodore ist Sprecherin von World Vision. Im mehrstöckigen Hauptquartier der Organisation mit Sicherheitspersonal und riesigem Fuhrpark, sagt sie, dass es nicht der Job von World Vision sei, sich um die Menschen in Corail zu kümmern. „Wir sollten damals nur die Hütten bauen, die Regierung hätte übernehmen müssen.“ Sie fügt, ganz amerikanische Firmenphilosophie, an: „Wir sind eine lernende Organisation.“ Doch vielleicht war die eigentliche Katastrophe ja gar nicht das Beben, sondern die Art und Weise, wie darauf reagiert wurde?
Zwei Tage nach dem Erdbeben am 12. Januar 2010 gab die haitianische Regierung die Zahl der Toten mit 30.000 bis 50.000 an. In den folgenden Tagen korrigierte sie sie fast täglich nach oben. Obwohl nicht klar war, wie man zu den Totenzahlen kam, wurden sie von den UN, Hilfsorganisationen und Medien übernommen. Schließlich legte Präsident Préval sich auf etwa 300.000 Tote fest.
Daran gibt es heute erhebliche Zweifel. Der in Haiti lebende Anthropologe Timothy Schwartz kommt in einer Feldstudie auf eine Opferzahl von maximal 80.000. Hochrangige UN-Mitarbeiter halten sie für absolut nachvollziehbar. Heiner Rosendahl, seit zehn Jahren mit der UN-Stabilisierungsmission Minustah im Land, sagt: „Es gab von allen Seiten ein Interesse daran, Hilfsbereitschaft zu generieren. Die Todeszahl in Haiti sollte höher sein als beim Tsunami 2004.“ Ebenso skeptisch ist der Deutsche, was die Chancen zur Veränderung nach dem Beben anging. „Da war viel Rhetorik im Spiel. Es existierten gar keine Voraussetzungen für einen Neuanfang.“
Basierte also alles auf einer Lüge, von der alle profitierten?
„Haiti wird für alle möglichen Interessen benutzt“, sagt Roberson Alphonse: „Um die Haitianer geht es dabei selten.“ Alphonse ist einflussreicher Kolumnist bei „Le Nouvelliste“, der ältesten französischsprachigen Zeitung der Karibik, 1898 gegründet. Seine Frau lebt seit einigen Jahren in den USA, und auch er könnte auswandern, wie es so viele ausgebildete Haitianer tun. Aber er will bleiben, sagt: „Wir können Haiti nicht den NGOs überlassen. Sie haben uns zu Junkies ihrer Hilfe gemacht.“ Was die Zukunft Haitis angeht, ist Alphonse wegen der aktuellen politischen Spannungen im Land pessimistisch. Aber zum Abschied fällt ihm doch noch etwas Positives ein: „Die Widerstandsfähigkeit der Haitianer. Wir überstehen alles: Erdbeben, Hurrikans und Hunger. Wir werden auch unsere Retter überleben.“