Der Wodkakrieg von Brüssel

Der Wodkakrieg von Brüssel

Seit zwei Jahren rangeln EU-Politiker um die Vorlage „COM 0125“. Es geht um Rübenwodka, Gerstenwodka, Traubenwodka – und darum, wann Wodka Wodka heißen darf. Eine Politikerin und ein Fabrikant aus Berlin sind in den Kampf gezogen

„Wenn man Wodka trinkt, erhält man sich den gesunden Menschenverstand und sein Gedächtnis oder aber verliert mit einem Mal beides.“ (Wenedikt Wassiljewitsch Jerofejew, „Die Reise nach Petuschki“)

Dagmar Roth-Behrendt rauscht in ihr Büro, 13. Stock, Europäisches Parlament, hoch über Brüssel, und erschrickt: „Ach du Scheiße, Sie sind ja völlig durch mein Raster gefallen.“ Die kleine füllige Frau wirft den roten Mantel ab, lässt sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und brüllt ins Nebenzimmer: „Franko, kannst du anrufen und Bescheid sagen, dass es Viertel nach Sieben wird?“ Sie schaut auf den Stapel Papier vor sich. „Mit was haben die mich jetzt wieder zugemüllt?“ Ein Blick über die Lesebrille: „Bleiben Sie sitzen. Ich überfliege das. Dann können wir reden über… Was wollten Sie noch mal? Ach ja, diese bekloppte Wodka-Geschichte.“

Dagmar Roth-Behrendt, SPD, 54 Jahre alt, ist seit 18 Jahren Berlins Vertreterin im EU-Parlament. Sie sitzt im einflussreichen Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit und gilt als Expertin für Verbraucherschutz. Der spielt in Brüssel immer dann eine Rolle, wenn nationale Lebensmittelmärkte geschützt werden sollen. Dagmar Roth-Behrendt erinnert sich noch gut an die Abwehrschlacht der Belgier gegen die englische Schokolade oder an den Kampf der Italiener gegen die schwäbische Eiernudel. Nun ist Dagmar Roth-Behrendt wieder im Felde: Finnland, Schweden, Polen und die baltischen Staaten haben einen Streit um ihr Nationalgetränk angezettelt. Sie wollen ein Reinheitsgebot für Wodka durchsetzen. Der soll nun nur noch aus Getreide oder Kartoffeln hergestellt werden dürfen. Andernfalls solle er nicht mehr Wodka heißen dürfen.

700 Kilometer von Brüssel und eine halbe Stunde vom Alexanderplatz entfernt verzweifelt deswegen ein Mann an Europa: Patrick Mier, Chef der Schilkin Spirituosenfabrik auf einem ehemaligen Gutshof in Berlin-Kaulsdorf. „Europa ist eine Supersache“, sagt er. „Aber von Wodka haben die keine Ahnung.“ Der 40-Jährige trägt einen grauen Anzug, Metallbrille und Igelfrisur, die Krawatte sitzt locker. In der DDR war Schilkin bekannt für seinen „Goldbrand“. Heute ist der Familienbetrieb neben dem Reinickendorfer Marktführer „Gorbatschow“ der zweite große Wodkaproduzent Berlins. Jährlich zwei Millionen Flaschen laufen bei Schilkin über die Abfülllinien.

Kämen die Wodka-Puristen in Brüssel durch, würde es nicht nur die Kaulsdorfer hart treffen. In Deutschland gibt es mehr als 100 Wodkahersteller, und auch in England und Frankreich verwenden die Produzenten nicht nur Getreide und Kartoffeln, sondern auch Trauben, Mais oder Zuckerrohr. Sie argumentieren, dass Wodka sich nicht über die Zutaten definiere, wie etwa der Tequila, der nur aus Agaven gemacht wird, sondern einzig über das Herstellungsverfahren. Mier stellt seinen Wodka aus Getreide her, aber auch aus Zuckerrübenmelasse. Und er will sich die Möglichkeit nicht nehmen lassen, andere Rohstoffe zu verwenden. „Allein mit dem Weizen, der auf dem Markt ist, könnte man den Wodkabedarf gar nicht decken“, glaubt er.

Der Spirituosenfabrikant schlendert durch die Produktionshalle im alten Gutshaus. Bauchige 1000-Liter-Kupferkessel stehen da, aus den Wänden brechen Rohre, laufen den Boden entlang, verschwinden wieder. Es riecht würzig, nach Kräuteraroma. Im Keller zapft eine Handvoll Mitarbeiter Mirabellenschnaps ab. 37 Angestellte arbeiten für Mier, unter ihnen acht Behinderte und vier Azubis, weshalb Schilkin als sozialer Musterbetrieb gilt. „Unsere Wodkaherstellung kann ich Ihnen nicht zeigen“, sagt Mier. „Betriebsgeheimnis.“ Aber mit Wodka habe der Streit ohnehin nichts zu tun. „Es geht um knallharte Agrarpolitik.“

Und die sieht, grob beschrieben, so aus: Seit zwei Jahren beschäftigen sich Dagmar Roth-Behrendt und ihre 134 Kollegen im Umweltausschuss mit der Vorlage „COM 0125“ über die Definition von Wodka, im Mai soll das EU-Parlament darüber entscheiden. Bis dahin werden die Abgeordneten umschwärmt von rund 200 Lobbyisten, die damit beschäftigt sind, die Abgeordneten mit Argumenten zu versorgen und unter Druck zu setzen. Sie haben es beispielsweise geschafft, dass die Länder der Wodka-Allianz neben Kartoffeln und Getreide auch noch Zuckerrübenmelasse als Rohstoff akzeptieren würden, damit ein Wodka “Wodka” genannt werde darf. Das war insbesondere ein Zugeständnis an die Deutschen, über das sich Patrick Mier freute.

Nun aber hat sich die Front wieder zu seinen Ungunsten verschoben. Der Rat der Agrarminister, der dem Gesetz zustimmen muss, hat vor wenigen Tagen entschieden, dass die Melasse auf dem Flaschenetikett als „nicht traditionelle“ Zutat vermerkt werden soll. „Das ist ein klarer Wettbewerbsnachteil“, sagt Patrick Mier in Berlin. Und seine Europaabgeordnete Roth-Behrendt schnaubt hoch über Brüssel: „Das geht zu weit!“

Doch auch die Polen und Finnen sind höchst unzufrieden mit der Etikettenlösung – denn wer liest schon Etiketten? Als sie den Wodka vor zwei Jahren auf die Brüsseler Tagesordnung setzten, konnten sie natürlich nicht ahnen, dass sie es mit einer streitbaren Berliner Sozialdemokratin zu tun bekämen. Vielleicht dachten sie einfach, dass es doch nicht so schwierig sein könne, ein Wodka-Gesetz in Brüssel unterzukriegen. Immerhin hat die EU die Herkunftsbezeichnungen von mehr als 600 Produkten schützen lassen, von griechischem Fetakäse bis zu österreichischem Jägertee. Wahrscheinlich aber ufert der Wodkastreit auch deswegen so aus, weil es gar nicht um Traditionen geht, sondern um Anteile an einem Wachstumsmarkt.

Weltweit werden jährlich neun Milliarden Euro mit Wodka umgesetzt. Allein die Deutschen kaufen jedes Jahr mehr als 40 Millionen Flaschen, Tendenz rapide steigend. Wodka ist nach den Halbbitterschnäpsen zur Nummer zwei unter den harten Spirituosen geworden. Das liegt auch daran, dass der Wodka – ein Wort aus dem Slawischen, das übersetzt Wässerchen heißt – im Westen sein Fusel-Image abgelegt hat. Hersteller aus der Schweiz, Neuseeland oder Kanada drängen mit Edel-Wodkas auf den Markt. Die Preise schießen in die Höhe. Der russische Hersteller Kauffmann etwa verkauft eines seiner Produkte für 91 Euro. Und während in Russland, wo 60 Prozent des weltweiten Wodkaaufkommens gekippt werden, im vergangenen Jahr rund 20.000 Menschen an Alkoholvergiftung starben, werden in den Bars immer raffiniertere Wodkacocktails angeboten, etwa mit Waldbeeren, Sauerkirschlikör und Roséwein. Da verwundert es nicht, dass die Länder des so genannten „Wodka-Gürtels“ hart um die Marktanteile kämpfen.

Dagmar Roth-Behrendt findet dafür deutliche Wort: „Die Finnen spinnen. Und die Polen auch.“

„Herr Stubb, spinnen Sie?“ Alexander Stubb, Finne, 38, ist Mitglied der Konservativen Fraktion im EU-Parlament. Er spricht vom „Wodka-War“. Stubbs Büro, zwei Zimmer, je zwölf Quadratmeter, liegt wie das von Roth-Behrendt im 13. Stock des EU-Parlaments. Auf der Fensterbank steht das Schwarzweißfoto eines finnischen Generals mit Schnauzer, der gegen die Sowjets kämpfte. „Wir haben es mit einem Angriff auf unsere Kultur zu tun“, sagt Stubb. „Wir müssen den Wodka schützen. Das verlangt unsere Tradition. Wodka, der nicht aus Getreide oder Kartoffeln ist, können Sie nennen wie Sie wollen, meinetwegen Waschmittel. Aber nicht Wodka.“

Stubbs weinrote Krawatte sitzt perfekt, sein Englisch ist makellos, seine Antworten entwischen den Fragen wie Aale. Herr Stubb, Ihre Gegner behaupten, dass es beim Wodka gar nicht auf den Rohstoff ankommt, weil es nur reiner Alkohol ist. Man kann ihn aus jedem Agrarprodukt destillieren: Trauben, Zuckerrohr, Zitronen. Könnten Sie Weizen-Wodka von Trauben-Wodka unterscheiden? Stubb zeigt sein Zahnpastalächeln: „Natürlich. Er schmeckt besser!“ Er öffnet seinen Schrank. „Mist, nur eine Flasche “Absolut” da, ein schwedisches Produkt. Macht nichts, die sind auf unserer Seite.“

Patrick Mier lacht, als er hört, wie der Finne Wodkas unterscheiden will. „Wodka ist organoleptisch neutral. Er schmeckt und riecht im Idealfall nach gar nichts. Er ist entweder weicher oder schärfer. Aber das hängt vom Filterverfahren ab.“ Als Miers Urgroßvater, Apollon Fjodorowitsch Schilkin, die Spirituosenfabrik 1932 auf einem alten Gutshof gründete, destillierte er seinen Wodka nach der Rezeptur, die er 1921 vor den Bolschewiken aus St. Petersburg gerettet hatte. An dem Verfahren hat sich bis heute nicht viel verändert. Man hat einen Rohstoff, etwa Weizen, der zermahlen und mit Wasser erhitzt wird. Aus der Stärke des Stoffes entwickelt sich die süßlich schmeckende Würze. Sie wird durch die Beigabe von Hefe zum Gären gebracht, woraus eine bierähnliche Flüssigkeit mit niedrigem Alkoholgehalt entsteht. Dieser wird mehrfach destilliert, bevor man den gewonnenen hochprozentigen Alkohol mit Wasser auf rund 38 Prozent runtermischt. Es folgt eine mehrfache Filtrierung mit besonders aufnahmefähigem Kohlegranulat, das Farb-, Geruchs-, und Geschmacksstoffe absorbiert. Entscheidend für die Milde des Wodkas ist, wie oft man destilliert und filtert, außerdem welches Wasser man zugibt. Bei Schilkin kommt das Wasser aus einem eigenen Brunnen. Der kanadische Hersteller Iceberg schmilzt angeblich zwölftausend Jahre alte Eisberge für seinen Maiswodka ab.

Guter Wodka, darin sind sich die Experten einig, brennt nicht. Weder auf der Zunge noch im Hals noch im Magen. Er geht runter wie Öl, hinterlässt weder eine Fahne noch einen Kater, und am besten isst man dazu Deftiges wie Schwarzbrot, eingelegte Gurken und Salami. Schlechter Wodka hingegen ätzt schon im Mund und macht krank, weil er Fuselöle enthält, Nebenprodukte der Gärung. Um auf dem Markt aufzufallen, aromatisieren viele Hersteller ihren Wodka mittlerweile. Die polnische Marke Wisent rühmt sich mit ihrem Büffelgras-Aroma und steckt einen Halm in jede Flasche. Andere Hersteller mischen Vanille-, Kaffee-, oder Chili-Aromen bei. Die US-Firma Bacardi hat für ihren französischen Wodka „Grey Goose“ Hollywoodstars verpflichtet, die den Stoff in aller Öffentlichkeit kippen. Brad Pitt etwa verlangte auf der Berliner Premierenparty für den Film „Ocean’s Twelve“ einen „Grey Goose“, weshalb man bis nach Hamburg eilen musste, um ihn zu besorgen.

Wahrscheinlich geht es den Wodka-Puristen wie den Deutschen mit dem Bier. Käme ein Belgier und sagte, sein Kirschbier sei besser als ein deutsches Reinheitsgebotsbier, dann würden manche ihn ja auch gerne in seinem Kirschbräu ertränken. Die Deutschen müssen das Belgierbier trotzdem hereinlassen, gesundheitsschädlich ist es nicht. „Und das ist das wichtigste Kriterium“, findet Dagmar Roth-Behrendt. „Wenn die Polen und Finnen behaupten, dass Traubenwodka ein Angriff auf ihre Kultur sei – na, dann gute Nacht, Finnland und Polen.“