Vor einiger Zeit schrieb der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten einen offenen Brief an den Schriftsteller Mario Vargas Llosa: „Manchmal hat man das Gefühl, Don Mario, Ihre Fähigkeit zur politischen Analyse verhält sich proportional entgegengesetzt zu Ihren literarischen Leistungen. Man sollte Ihnen öfter zurufen: Schuster, bleib bei Deinen Leisten!“
(Foto: Arild Vågen)
Mario Vargas Llosa hat natürlich nicht darauf gehört. Im Gegenteil: Er nutzt immer noch jede Gelegenheit, enormes Wissen auszubreiten. Keine zwei Wochen vergehen, in denen er nicht in einer führenden Tageszeitung Europas mit einem Essay vertreten ist, über ein Thema seiner Wahl. Er wettert gegen Lateinamerikas Linke und verteidigt den Stierkampf als Kunstform. Er analysiert den Holocaust, bezeichnet die Todesstrafe als verwerflich, entwirft eine globale Immigrationspolitik und gibt zu, sich geirrt zu haben, als er den Irak-Krieg unterstützte. Vargas Llosa erhebt den Anspruch, über alles und jeden Bescheid zu wissen.
Der 74-Jährige sitzt in der Bar eines Berliner Hotels und bestellt keinen Café oder Tee. Nicht einmal Wasser. In den 60er Jahren nannte man Vargas Llosa einen Erneuerer, einen jungen Wilden, einen der den Boom der lateinamerikanischen Literatur mitverantworte. Damals war er Kommunist und Anhänger der kubanischen Revolution. Doch davon will Vargas Llosa nichts mehr hören. Er trägt einen grauen Maßanzug, einen grauen Schlips und ein rosa Hemd. Sein volles Haar leuchtet silbern. Man könnte den gebürtigen Peruaner, der mittlerweile die spanische Staatsbürgerschaft besitzt, für einen englischen Lord halten, so aufrecht sitzt er im Sessel. Vargas Llosa fixiert sein Gegenüber mit strengen, bernsteinfarbenen Augen. Der Blick macht klar: An meinen Worten gibt es keine Zweifel. Alles an ihm ist ein Ausrufezeichen. Er will größtmögliche Distanz zu seinem Herkunftsort , Lateinamerika, herstellen. Dort tragen Präsidenten heute Strickpullis und traditionelle kragenlose Hemden ohne Krawatte. Dort duzen einen Intellektuelle auch sofort, stellen Nähe her, bieten Freundschaft an. Dort basiert Intellektualität auch immer auf Emotionalität, auf Witz und Bilderreichtum. Hier aber sitzt einer, dem das alles ein Graus ist. Einer für den Europa das Maß aller Dinge geworden ist.
Mit seinen politischen Kommentaren bringt Vargas Llosa Lateinamerikas Künstler und Denker regelmäßig zur Weißglut. „Das kulturelle Establishment steht links“, doziert er. „Ein Autor, der wie ich liberale Ansichten vertritt, wird ausgegrenzt.“ Hinter der Klage steckt im Kern die alte Auseinandersetzung mit Gabriel García Márquez, die Vargas Llosa bis heute beschäftigt. Vor rund 40 Jahren entzweiten sich die beiden Romanciers. Der Streit, bei dem es auch zu Handgreiflichkeiten kam, entzündete sich an Kuba. „Wie hältst Du es mit Fidel“, das ist bis heute die Gretchenfrage geblieben, der sich die lateinamerikanischen Intellektuellen früher oder später stellen müssen. Für Differenzierungen bleibt dabei oft kein Platz.
Während Vargas Llosa sich zu einem der schärfsten Kritiker Castros gewandelt hat, fliegt García Márquez heute regelmäßig auf die Insel, um mit dem greisen Ex-Diktator Kaffee zu trinken. Ob es nicht an der Zeit sei, dass sich die beiden alten Männer – García Márquez ist über 80 Jahre alt – versöhnen? „Wir haben eine Abmachung“, sagt Vargas Llosa: „Ich rede nicht über ihn. Er redet nicht über mich.“ Dennoch greift Vargas Llosa seinen Ex-Freund regelmäßig an, bezeichnet ihn gerne als „Fidel Castros Hofschriftsteller“. Und er arbeitet sich Castros Wiedergänger Hugo Chávez ab. Den nennt er einen Diktator, obwohl sich kein Präsident der Welt öfter Wahlen und Abstimmungen über seine Politik gestellt hat.
Auch auf literarischem Feld betont Vargas Llosa stets die Distanz zu García Márquez: „Ich war nie magischer Realist. Ich habe realistische Romane geschrieben. Fantastische Literatur habe ich nie gemocht.“ Vargas Llosa hält sich für einen Ausgestoßenen. Er tut alles, damit es so bleibt. „Gegen den Strom schwimmen und sich unbeliebt machen“, hat er einmal als lobenswerte Eigenschaften hervorgehoben. Viele seiner Antworten zielen genau auf diesen Effekt: „Wir brauchen die Liberalisierung des Weltmarkts“, kommt Vargas Llosa auf sein Lieblingsthema zu sprechen. „Das heißt, mehr Privatisierung, mehr Marktöffnung.“ Ob die Beispiele Argentinien und Peru nicht das Gegenteil bewiesen? „Ganz und gar nicht. Das hatte nichts mit Liberalisierung zu tun. Es war Merkantilismus.“
Vargas Llosa ist ein Liberaler im besten, altmodischen Sinn. Der strikte Nichtraucher tritt vehement für die Freiheit der Raucher vor staatlicher Gängelung ein. Und er fordert die Öffnung der Grenzen für alle Immigranten. Über sich selbst sagt er: „Ich bin ein Dinosaurier. Ich glaube, dass Schriftsteller die Gesellschaft verändern können. Die jungen Autoren wollen doch nur noch unterhalten.“
Mit Äußerungen über Lateinamerikas Indio-Bewegungen hat Vargas Llosa für Wirbel gesorgt. „Es sind Rassisten“, sagt er. Ob es nach 500 Jahren Unterdrückung nicht absurd sei, den Indios Rassismus vorzuwerfen? „Nein, die Ideen der bolivianischen Präsidenten und Indios Evo Morales laufen auf den Aufbau eines kulturellen Konzentrationslagers hinaus“, legt Vargas Llosa nach. „Ich bin dafür, dass die Politik den Erhalt der primitiven Kulturen garantiert“ – Vargas Llosa sagt tatsächlich „culturas primitivas“ – und schränkt gleich ein: „Aber nur soweit, wie sie mit der Moderne vereinbar sind. Ein Teil der Folklore wird also verschwinden.“ Zwischen Vargas Llosa und Lateinamerika liegt heute ein Graben, der mindestens so breit ist, wie der Atlantik.
Alles, was nach Kollektivismus aussieht, ist Vargas Llosa suspekt. Sogar vom Fußballspiel hat er einmal behauptet, es degradiere Spieler wie Zuschauer zu einer ent-individualisierten Masse. Von dem Zitat distanziert sich Vargas Llosa heute jedoch: „Ich liebe das Fußballspiel. Genauso wie ich den Stierkampf liebe. Er führt den Menschen die Nähe des Todes vor Augen.“ Woher kommt nur dieser Drang, jede persönliche Fragen ins Allgemeine und Politische zu wenden? In einem seiner letzten Romane, „Das Paradies ist anderswo“, verfolgte Vargas Llosa die Schritte der Feministin Flora Tristán (1803-1844) und ihres Enkels, dem Maler Paul Gaugin (1848-1903). Während Tristán einer sozialistische Utopie anhing, wandte Gaugin der europäischen Öffentlichkeit den Rücken und suchte in der Südsee sein privates Glück. Ob sich Vargas Llosas Werdegang nicht in dieser Familiengeschichte widerspiegele? Schließlich wandelte sich auch Vargas Llosa vom Sozialisten zum Individualisten. „Schauen Sie“, antwortet er, „es gibt zwei Utopien: eine auf der Basis der Gerechtigkeit; die andere auf der Basis der individuellen Freiheit. Fortschritt hat dort stattgefunden, wo man versucht hat, beide zu versöhnen.“
Was soll man damit anfangen? Es bleibt die Erkenntnis, dass Vargas Llosa oft ebenso banal wie unnahbar ist. Nichts ist zu spüren von dem jungen Mann, der einst das zornige „Die Stadt und die Hunde“ schrieb. Man hat eher das Gefühl, Vargas Llosa ist noch auf Wahlkampftour, um sich erneut um die peruanische Präsidentschaft zu bewerben. Diese strebte er 1990 an. Und unterlag gegen Alberto Fujimori. Seitdem hat Vargas Llosa ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Vaterland. Die Entfremdung ging soweit, dass er die spanische Staatsbürgerschaft beantragte. Nicht wenige Beobachter vermuteten hinter der Entscheidung vor allem gekränkte Eitelkeit.
Am Ende geht alles ganz schnell. Vargas Llosa schaut auf die Uhr, sagt „muchas gracias!“ und geht. Man hat weder das Gefühl, viel über Vargas Llosa noch über irgend etwas erfahren zu haben. Warum nur möchte man ihm den Rat des OAS-Generalsekretärs hinterher rufen?