Der eine sagt, und man kann die Hoffnung darin hören: „Sie nennen mich Balotelli.“ Ein wenig gleicht Renan Gomes tatsächlich dem italienische Stürmerstar, den er verehrt, weil er von ganz unten kam und ganz oben angekommen ist.
So will er, Renan Gomes, es nachmachen. Er lächelt kurz, dann presst er die Lippen zusammen. Er weiß, dass seine oberen Schneidezähne schief stehen.
Der andere heißt Zé Roberto, war brasilianischer Nationalspieler und lange Zeit mit Bayern München und dem HSV erfolgreich. Fast 40-jährig absolviert er gerade seine letzte Saison in Porto Alegre, zufrieden, in Wohlstand, mit Plänen für die Zukunft.
Zé Roberto steht am Ende seiner Laufbahn, der 16-jährige Renan Gomes, vielleicht ganz am Anfang. Seine Trainer sagen über ihn: ein Riesentalent.
Profifußballer werden. Die Leidenschaft zum Beruf machen, der Armut entkommen. Es ist der Traum, den Millionen brasilianischer Jungs in den Favelas träumen. Dass nur wenige ihn verwirklichen, tut ihm keinen Abbruch.
Es ist ein strahlender Samstagmorgen, als Renan Gomes den Bus 600 besteigt und von der Cidade de Deus, einer Favela im Westen Rio de Janeiros, zu einem Fußballplatz im Zentrum fährt. Er soll dort mit seiner Fußballschule ein Spiel bestreiten. Die Fahrt dauert eine knappe Stunde, im Bus sitzen auch Gomes’ Mutter und sein kleiner Bruder.
Als einer der Ersten trifft Gomes auf dem Spielfeld ein, ein kleiner Kunstrasenplatz neben einem Shoppingcenter. Kurz darauf kommen die beiden Trainer. Sie bringen Trikots mit, auf denen der Stern von Rios Erstligaverein Botafogo prangt. Der Traditionsklub vergibt seinen Namen in einer Art Franchise-System: „Sterne der Zukunft Botafogo“ darf sich Renan Gomes’ Fußballschule vielversprechend nennen. Zwei ehemalige Spieler seines Teams trainieren schon mit dem Nachwuchs von Botafogo.
Der Monatsbeitrag bei den „Sternen“ liegt bei umgerechnet 30 Euro, aber Jungs aus armen Familien wird er erlassen – so wie Renan Gomes. Viermal in der Woche trainiert er in einer Halle im weit entfernten Stadtteil Tijuca, fährt dann insgesamt zwei Stunden mit dem Bus hin und zurück. „Er ist einer unserer Besten“, sagt einer der Trainer und raunt, dass sich heute Talentscouts angekündigt hätten.
Hunderte von Fußballschulen gibt es in Brasilien, darunter viele, die gemeinnützig arbeiten wie die „Sterne der Zukunft“. Andere unterstehen direkt den Vereinen. Sogar Drittligaklubs bilden heute aus – oft um die Spieler gewinnbringend zu verkaufen. „Der große Traum ist das Ausland, weil Löhne und Bedingungen dort als besser gelten“, sagt der deutsche Anthropologe und Fußballexperte Martin Curi, der seit einigen Jahren in Rio an der Universität lehrt. Rund 1000 brasilianische Spieler verlassen laut Fußballverband CBF jedes Jahr das Land. Die meisten gehen nicht zu europäischen Spitzenclubs, sondern werden von Vereinen in China gleich im Dutzend verpflichtet, spielen in der deutschen Regionalliga oder auf den Faröer Inseln.
„Die Geschichte vom Fußballer, der beim Fallrückzieher an der Copacabana entdeckt wird, hat noch nie gestimmt“, sagt Curi. „Brasilianer besitzen kein Naturtalent, hinter dem Können steckt harte Arbeit.“
Auch Zé Robertos Karriere begann in einer Fußballschule. Heute sitzt er in der Lobby eines Hotels in São Paulo, wo sein Team Grêmio aus Porto Alegre am Vortag 1:0 verloren hat. Aber Roberto ist gelassen. Grêmio steht auf Platz vier der brasilianischen Liga, und Roberto hat gelernt, dass auf Niederlagen Siege folgen und umgekehrt. Mit Bayer Leverkusen verpasste er 2002 knapp die Deutsche Meisterschaft und den Sieg in der Champions League. Anschließend wurde er mit Bayern München viermal Meister und Pokalsieger. Das brasilianische Nationalteam verließ Roberto 2007 nach 84 Einsätzen. Später bemühte er sich um Wiederaufnahme. Vergeblich. „Man darf im Fußball nicht zurückblicken“, sagt er. „Im Leben schon.“
José Roberto da Silva wurde 1974 in der Armensiedlung Vila Ramos in São Paulo als zweitjüngstes von sechs Kindern geboren. „Durch die Staubstraßen flossen die Abwässer“, erinnert er sich. „Mein Vater verschwand, als ich zwölf war“, sagt er, „meine Mutter arbeitete in zwei Jobs, um uns durchzubringen.“
Sie war es, die den siebenjährigen Zé, der immerzu Ball spielte – „ich schlief sogar mit einem“ –, an der Fußballschule Pequeninos do Jockey anmeldete. Deren Motto: „Wir machen aus kleinen Kindern große Cracks und gigantische Menschen.“ Der Mitgliedsbeitrag wurde Zé erlassen, weil er zu arm war und gute Schulnoten hatte, eine Bedingung. Dennoch ging er häufig nicht zum Training, weil er den Bus zum anderthalb Stunden entfernten Klub nicht bezahlen konnte.
Zé Roberto ist ins Erzählen gekommen, er wägt seine Worte, ist ein ernster Typ, der nur selten lacht. Wenn er es tut, dann sieht man die Zahnspange, die er seit kurzem trägt. Durch die Lobby kommen seine Mitspieler vom Abendessen geschlendert. „Die meisten Kollegen stammen aus Favelas“, sagt Roberto. Neben den Alltagsproblemen gebe es dort vor allem eine große Gefahr. „Als ich in die Pubertät kam, gingen meine Freunde zu einer Drogengang“, sagt er. „Sie sahen die Klamotten, das Geld, die Mädchen, die Waffen. Drei von ihnen wurden erschossen.“ Er hielt sich von dieser Welt fern. „Ich war nachmittags in einem Hort, weil es dort umsonst zu essen gab, das hat mich wohl gerettet.“
Mit 15 Jahren bestritt Zé Roberto seinen ersten Aufnahmetest beim São Paulo FC. Er scheiterte, begann dann bei einem zwei Stunden entfernten niederklassigen Verein, die Mutter knappste das Fahrtgeld vom Lohn ab. Als Robertos Schwester 32-jährig nach einer Geburt verblutete, musste auch er zum Familieneinkommen beitragen. Er ließ das Fußballspielen sein und arbeitete als Bote in einer Firma für Druckerpatronen. „Ich verdiente ein wenig Geld und war glücklich“, sagt er.
Kurz vor dem Anpfiff stellt sich die Mannschaft von Renan Gomes im Kreis auf. Er brüllt: „Wir über allen!“ Das Team antwortet: „Nur Gott über uns!“ Als das Spiel – sieben gegen sieben in einem Fußballkäfig – beginnt, ist Gomes nervös. Ihm verspringt ein Ball bei der Annahme, er spielt einen Fehlpass, bleibt beim Dribbling im Gegner hängen. Der Trainer nimmt ihn heraus. Mit gerunzelter Stirn steht Gomes am Spielfeldrand.
Zur zweiten Hälfte spielt er auf zentraler Position in der Verteidigung, und siehe da: Er fängt die Angriffe des Gegners ab, leitet schnelle Gegenattacken ein, steigt bei jedem Kopfball höher als die anderen. Am Ende siegt sein Team verdient mit 2:0. Einer der beiden Trainer der „Sterne“ sagt, dass Spieler wie Gomes unverzichtbar seien. „Einsatz, Kampfkraft und Instinkt zeichnen ihn aus.“ Auch in brasilianischen Teams brauche man keine elf Künstler. Gomes habe Chancen, Profi zu werden. Gomes selbst sagt: „Ich kann mehr!“ Ein Scout kommt heute auf keinen der Spieler zu.
Im Bus auf dem Rückweg sagt Gomes, dass er bei Spielen wegen seiner schwarzen Haut manchmal als Affe beschimpft werde. Seine größte Sorge ist derzeit aber eine andere: „Es herrscht wieder Krieg.“ Drei Tage zuvor griffen Drogengangster in der Cidade de Deus die Befriedungspolizei UPP an. Die Einheit ist seit fünf Jahren in der Favela stationiert, sorgte auch einige Zeit für relative Ruhe. Doch nun sind die traficantes wieder mutiger geworden. Gomes verpasste an dem Tag das Training.
„Wir verstecken uns bei Schüssen im hintersten Raum unseres Hauses“, sagt Rosanne Gomes. Die rundliche Frau ließ ihren Sohn früher nicht aus den Augen, um ihn vor dem Abdriften ins Gangstermilieu zu bewahren. „Heute ist mein Balotelli vernünftig“, sagt sie, „vielleicht zu vernünftig, er feiert ja nicht mal Karneval.“ Sie lacht. Renan Gomes lacht nicht, er hadert immer noch mit seinem Fehlpass.
Beim Training sei er manchmal müde, sagt er. Wochentags steht er um sechs Uhr auf, arbeitet von acht bis zwölf im Büro eines Busunternehmens, verdient umgerechnet 130 Euro im Monat. Nachmittags geht er in die Schule, abends fährt er zum Training. „Ich glaube an ihn“, sagt seine Mutter, „aber wenn er es nicht ins Maracanã-Stadion schafft, soll er einen Job kriegen.“ Es fällt auf, dass hinter Zé Roberto wie hinter Renan Gomes eine starke Mutter steht.
In der Cidade de Deus läuft Gomes einen schmutziggrauen, stinkenden Kanal entlang. In den engen Gassen weicht er klappernden Autos, Mofas und Pferdewagen aus. Er grüßt ein paar halbwüchsige Mädchen mit Kindern auf dem Arm. Auf einer wilden Müllkippe fressen Ziegen, gleich daneben erheben sich Sozialbauten, die noch nicht bezogen worden sind. „Ich habe viele Freunde im Drogenkrieg verloren“, sagt er. Dies könnte die Welt sein, aus der Zé Roberto vor 20 Jahren aufgebrochen ist. Brasiliens Favelas sind die vergessenen Orte des Landes, die von der Mittelschicht gemieden und von der Oberschicht verabscheut werden. Sie haften wie ein Stigma an ihren zumeist dunkelhäutigen Bewohnern. Renan Gomes glaubt: „Jungs wie ich können nur mit Fußball aufsteigen.“ Er erreicht den Bolzplatz, auf dem er mit dem Fußballspielen begann. Er ist von Pfützen übersät. „So lernt man das Dribbeln“, sagt er. „Nicht nur Gegner umkurven, sondern auch Schlamm.“
Zé Roberto mutmaßt, dass er ein guter Techniker wurde, weil er als Junge immer barfuß spielte. „Mein einziges Paar Schuhe brauchte ich für die Schule.“
Als Zé Roberto 17 war, hatte er sich mit seinem Job als Botenjunge arrangiert. Da überraschte ihn seine Mutter. Sie hatte ihn beim Erstligaklub Portuguesa für eine peneira eingetragen, ein „Sieb“: Vereine geben dabei jungen Spielern die Möglichkeit, sich zu präsentieren. Elf gegen elf, je zehn Minuten lang. Ein Spieler aus jedem Team kommt in die nächste Runde. „Die Liste mit den Namen reichte an dem Tag um das ganze Clubhaus herum“, erinnert sich Zé Roberto. Er wartete gemeinsam mit seiner Mutter, spielte kurz – und wurde nicht genommen.
Seine Mutter war fassungslos. Wütend ging sie zum Trainer: Sie habe einen ganzen Tag gewartet, Zeit und Geld verloren! Sie redete so lange, bis Roberto zur nächsten Runde zugelassen wurde. „Da entdeckte man mich dann“, sagt er. „Mir wäre es ja egal gewesen, ich wollte gar kein Profi mehr werden.“ Mit 19 Jahren machte der Linksfuß sein erstes Spiel für Portuguesa.
Auch Renan Gomes’ starker Fuß ist der linke. Spontan kickt er mit ein paar Freunden in einem Fußballkäfig in der Favela, problemlos umkurvt er seine Gegenspieler. Auch er hat schon an einer peneira teilgenommen. „Ich spielte fünf Minuten und kam nicht weiter. Eine absurde Veranstaltung.“ Vom Spielfeldrand aus beobachtet ihn ein Mann: Hudclei Ferreira ist Trainer der Auswahl von Cidade de Deus. Das ist in Rio nicht irgendeine Lokalmannschaft. In diesem Jahr stand die CDD, wie sie kurz heißt, im Finale um den Favela-Cup. An dem einmonatigen Turnier nehmen 64 Teams teil, es wird von Nike gesponsert, das Endspiel live im Fernsehen übertragen. Dutzende Scouts suchen dort nach Talenten. „Unser Balotelli ist einer meiner Lieblingsspieler“, sagt Ferreira, „wegen seiner Hingabe.“
Renan Gomes wohnt in einem zweistöckigen Eckhaus, das sein Großvater mit hohlen Ziegeln gebaut hat, die heute an vielen Stellen löchrig sind. Im Erdgeschoss teilt er sich mit seiner Großmutter ein Zimmer. „Mein Traum ist ein Apartment in der Barra da Tijuca“, sagt er. Das sterile Neureichenviertel trägt in Rio den Spitznamen Miami. „Dort wohnen viele Fußballprofis“, sagt Gomes.
Gegenüber seinem Haus gibt es eine große Wandmalerei. Sie zeigt neben der artistischen Einlage eines Fußballers auch einen Favelabewohner, der einen Ball unter dem Arm trägt und traurig schaut. Das Bild ist eine Anklage gegen die Milliardenausgaben für die Fußball-WM. Die hat zwar neue Stadien gebracht, in Favelas wie der Cidade de Deus aber nichts verändert. Dabei hatten das hier viele gehofft. „Ein Ticket kann sich sowieso keiner leisten“, sagt Renan Gomes. Zwei jugendliche Dealer warnen davor, Fotos von der Malerei zu machen, während sie davorstehen. „Verstehst du, warum ich meine Familie hier herausholen will?“, fragt Gomes. Der Familie helfen – das ist eine seiner Motivationen.
Auch für Zé Roberto war es wichtig, seiner Mutter etwas zurückzugeben. „Ich habe für sie ein Haus gekauft“, sagt er. Seine Antwort auf die Frage nach dem Erfolg: „Ich war immer 100 Prozent konzentriert. Titel, Geld oder Ruhm haben mir nie etwas bedeutet. Auch Frauen und Alkohol nicht. Gott hat mich glücklich gemacht.“ Roberto ist evangelikaler Christ. Der Glaube hat ihm in der schnelllebigen Welt des Fußballs Orientierung gegeben.
Es wäre möglich, überlegt er laut, dass er nach seiner Karriere mit seiner Frau und den Kindern wieder nach Deutschland zieht. Er könnte dort brasilianische Spieler beraten. „Für viele von ihnen geht es zu schnell“, sagt er. „Sie kommen aus der Favela und haben plötzlich viel Geld. Sie wissen nicht, wie man damit umgeht. Wenn sie nach Brasilien zurückkehren, verlieren sie den Halt.“
Seinem Whatsapp-Konto hat Zé Roberto ein Motto vorangestellt: „Man kann die Blumen schneiden. Die Rückkehr des Frühlings kann man nicht verhindern.“ Renan Gomes sagt zum Abschied: „Ich muss mehr trainieren.“