Die Regierung hat Fortschritt angeordnet“, sagt Patrick Knipping. „Vielleicht ist das nur möglich, wenn man vergisst.“
Wie jeden Abend sitzt der Belgier auf der Terrasse seines Hotels, dem „Hôtel des Mille Collines“ im Zentrum Kigalis. Eben hat er eine Ministerin zum Abendessen begrüßt, dann einen Pagen zusammengestaucht, nun kaut der 58-jährige Hotelmanager Bananenchips. An den anderen Tischen trinken Touristen, Entwicklungshelfer und Geschäftsleute Bier. Die Gespräche drehen sich um Brunnen, Berggorillas und Kreditkartenterminals.
Nichts erinnert an das Wunder, das hier vor 15 Jahren geschah. Es war ein Wunder inmitten eines Infernos. 1268 Menschen überlebten im Mille Collines den Völkermord, der Ruanda im Frühjahr 1994 entvölkerte: Auf Anweisung der Regierung massakrierten Hutus ihre Nachbarn, die Tutsis, mit Knüppeln und Macheten. In den 100 Tagen des Genozids ermordeten sie fast eine Million der rund acht Millionen Ruander, im Schnitt sieben pro Minute. Nur im Mille Collines floss kein Tropfen Blut. Es war Patrick Knippings Vorgänger Paul Rusesabagina, der nach dem Genozid behauptete, dass allein sein Verhandlungsgeschick (und viel Whisky aus der Hotelbar für die Hutu-Befehlshaber) die Flüchtlinge im Hotel gerettet hätte. Hollywood machte aus der Story den Film „Hotel Ruanda“ – und verhalf dem Mille Collines zu Weltruhm. „Ich weiß nicht, ob ich geblieben wäre“, sagt Patrick Knipping. Ausländer wurden damals rasch von eigens gesandten Elitetruppen evakuiert, während man die Tutsis den Mordkommandos der Interahamwe-Milizen überließ.
Heute aber spricht man in dem Vier-Sterne-Hotel von einem anderen Wunder: dem Wirtschaftswunder.
Kigali, eine Million Einwohner, Hauptstadt Ruandas, einem kleinen Land im Herzen Afrikas, kaum größer als Mecklenburg-Vorpommern. Die Stadt erstreckt sich über sanfte Hügel, dazwischen liegen fruchtbare grüne Täler, das Klima ist auf 1500 Höhenmetern immer frühlingshaft. Einst hielten die Ruander ihr Land für den Mittelpunkt der Erde und für das zivilisierteste Königreich der Welt. Dann spalteten die belgischen Kolonialherren die Bevölkerung Anfang des 20. Jahrhunderts in Tutsis und Hutus und ernannten die Tutsi-Minderheit zu Herren über die Hutu-Mehrheit. 1959 übernahmen dann die Hutus die Macht und begannen, die Tutsis zu diskriminieren. Die Verfolgung kulminierte 1994 im Völkermord und Ruanda wurde zum Massengrab. 250.000 Menschen liegen heute im Genozid-Museum im Zentrum Kigalis unter Betonplatten vergraben. Versprengte Anhänger der Hutu-Power-Ideologie schmissen vor wenigen Tagen eine Granate auf die Gedenkstätte und verletzten zwei Mädchen. Jetzt buddeln Arbeiter einige Meter entfernt die rote Erde auf. Sie verlegen Glasfaserkabel und bringen Kigali dem Traum von der Internetmetropole 25 Meter näher.
Es ist dieses Nebeneinander von Vergangenheit und Zukunft, das in Kigali so irritiert. Wo Kindern die Arme und Beine abgeschnitten wurden, ehe man ihre Mütter vergewaltigte und den Vätern die Nacken aufschlitzte, damit sie verbluteten, schwärmen die Geschäftsleute heute vom fortschrittlichsten Land Afrikas. Wer die Zukunft des Kontinents sehen wolle, müsse herkommen. Tatsächlich wächst Ruandas Wirtschaft jedes Jahr um sechs Prozent, ganz ohne eigene Bodenschätze. Wäre man böse, könnte man formulieren, dass das Land unter Hyperaktivität leidet. Die österreichische Strabag erweitert das Straßennetz, eine Eisenbahn ans Meer nach Tansania ist geplant, die Amerikaner wollen Methangas aus dem Kivu-See fördern. Überall im Land kann man problemlos mit dem Handy telefonieren, und schon bald sollen alle Provinzhauptstädte an Internet-Breitbandkabel angeschlossen sein. Investoren aus China, Deutschland und Dubai legen ihr Geld in ruandische Immobilien und Dienstleistungen an, die Manager von Google und Starbucks gehen im Wirtschaftsministerium ein und aus. Als vorbildlich für ganz Afrika lobt Transparency International Ruandas Korruptionsbekämpfung. „Investment Yes – Corruption No“, heißt es auf Plakaten an allen Grenzübergängen, darunter die Telefonnummer und E-Mail-Adresse des Ombudsmanns.
Wo einmal ein tiefer Riss durch die Stadt und die Seelen der Menschen ging, geschieht völlig Unwahrscheinliches. Eins der ärmsten und geschundensten Länder der Welt zieht sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Es scheint bisweilen so, als ob die Ruander ihr Trauma durch Betriebsamkeit bekämpfen.
Justin Mugabo schlägt vor, aufs Dach zu gehen, von dort könne man alles sehen. Mugabo hat anderthalb Monate im Mille Collines überlebt, teilte sich mit zwölf anderen Flüchtlingen Zimmer 115 im ersten Stock. Durchs Fenster hörte er die Milizionäre gröhlen: „Wir töten euch Kakerlaken!“ Und in der Lobby sah er den hilflosen UN-General Roméo Dallaire, der später versuchte sich umzubringen, weil er es nicht mehr ertrug, dass die Uno ihn nicht hatte eingreifen lassen.
Mugabo wurde damals von einem Lied gerettet: Es war sein erster Hit, er hatte ihn kurz vor dem Genozid geschrieben. Als ihm eine Milizionärin ihren Speer an den Hals setzte, rief ein Nachbar, dass Mugabo ein Star ist. Gegen 300 Dollar ließ man ihn laufen, und er schaffte es ins Mille Collines. Im Hotelaufzug erzählt Mugabo, dass 60 seiner Familienangehörigen ermordet wurden. Heute lebt der 43-Jährige mit seiner Frau und fünf Kindern neben Menschen, die ihm einst die Kehle durchschneiden wollten. Wie das geht? „Sie hätten lebenslänglich verdient“, sagt Mugabo. „Aber die Regierung will, dass wir uns versöhnen.“ Manchmal ist Mugabo im Radio zu hören, mit Popsongs über ein Ruanda ohne Hass.
Der Fahrstuhl hält im fünften Stock. Es geht durch eine Rumpelkammer und über eine Holzleiter hinauf aufs Dach. Unten rauscht der Feierabendverkehr auf der Avenue de la République ins Tal, darüber kreist ein Dutzend Bussarde, am Horizont versinkt die Äquatorsonne in spektakulären Rottönen.
„Die internationalen Katastrophenexperten waren sich einig, dass sie nie zuvor ein zerstörteres Land gesehen hatten.“ Der US-Reporter Philip Gourevitch betrat als einer der ersten Ausländer Kigali nach dem Völkermord. Geschockt notierte er: „Die Menschlichkeit verraten, die Infrastruktur zerstört, die Wirtschaft am Boden, die Regierung improvisiert.“
Und heute? Wachsen rund ums Mille Collines verspiegelte Bankgebäude, Wohnblocks und Bürotürme empor. In den Erdgeschossen sind Reisebüros, Bars und Internetcafés eingezogen. Kigali soll – so will es die ehrgeizige „Vision 2020“ – Ostafrikas Servicemetropole werden. Tatsächlich geht es meist unkompliziert und freundlich zu: am Zoll, auf der Bank, bei der Tourismusbehörde. Selbst die fliegenden Geldwechsler handeln immer aber schummeln nie. Wer seine Kamera im Taxi vergisst, dem kann es sogar passieren, dass der Taxifahrer sie einem hinterherträgt.
Wenn die Menschen in Kigali heute über die Zeit nach dem Genozid sprechen, dann sagen sie: „Am Anfang…“
Am Anfang war zum Beispiel Consolata Rwayitare. Sie sitzt gleich unterhalb des Mille Collines im ersten Einkaufszentrum Ruandas. Dort, im Bourbon Coffee Shop, gibt es Schwarzwälder Kirschtorte und den starken ruandischen Kaffee. Consolata ist Besitzerin des Mille Collines seit ihr Mann, der Mobilfunk-Tycoon Miko Rwayitare, vor zwei Jahren starb. Er hatte das Hotel für 3,2 Millionen Dollar gekauft, jetzt ist sie die Chefin. Consolata trägt kurze Haare, einen hellen Hosenanzug, dazu Goldohrringe. Selbstbewusst und unbeschwert gehört die 43-Jährige zu den 750 000 Tutsis, die nach dem Genozid aus der Diaspora zurückkehrten. Sie dominieren Kigali heute wirtschaftlich und politisch, nur 250 000 Tutsis überlebten in Ruanda selbst.
Consolata hat jahrelang in Südafrika und Belgien gelebt. „Ich hätte dort bleiben können“, sagt sie, „aber ich wollte hier investieren. Kein anderes afrikanisches Land kann mit Ruanda mithalten“. Es scheint kein Problem für sie zu sein, dass die Mehrzahl der Hotel-Angestellten Hutus sind. „Das spielt keine Rolle mehr“, winkt sie ab.
Für den Fortschritt machen Consolata Rwayitare, Justin Mugabo und Patrick Knipping einen Mann verantwortlich. Er residiert ein paar Straßen vom Mille Collines entfernt in einer Villa, umgeben von lilablühenden Jacarandabäumen und bewacht von jungen Soldaten: Präsident Paul Kagame, der Hagere, der nie lächelt und angeblich fünf Tage lang ohne Nahrung auskommen kann. 1994 marschierte seine Rebellenarmee, die „Rwandan Patriotic Front“, nach Kigali und stoppte das Morden. Wegen seines taktischen Geschicks erhielt Kagame den Spitznamen „Napoleon Afrikas“. Seit dem Sieg regiert er das Land pragmatisch und mit harter Hand. Kein öffentlicher Ort, an dem nicht sein Foto hängt: Durch eine große Brille blickt er darauf streng herab – so als kontrolliere er leibhaftig, ob alle Staatsdiener wie vorgeschrieben um sieben Uhr am Arbeitsplatz sitzen. Von westlichen Regierungschefs wird Kagame hofiert, Experten halten ihn für den einzigen Garanten des Friedens und der Stabilität in Ruanda. Extremisten sollen schon mehrfach versucht haben, ihn umzubringen.
Als eine seiner ersten Amtshandlungen schaffte Kagame die Bezeichnungen Hutu und Tutsi ab. Dann belebte er die alten Dorfgerichte, die Gachachas, wieder, um die hunderttausenden Mörder zu verurteilen. Auch in Kigali sieht man diese kleinen Versammlungen unter freiem Himmel, bei denen Opfer und Täter Zeugnis ablegen und sich versöhnen sollen. Pickup-Trucks fahren dann durch die Stadt und bringen Männer in rosafarbenen Anzügen vom überfüllten Zentral-Gefängnis zur Verhandlung. Rosa ist die Farbe der „génocidaires“, der Völkermörder.
Außerdem hat Kagame die Schulpflicht und eine allgemeine Krankenversicherung eingeführt. Seine Regierung macht mit der Aids-Aufklärung ernst. An allen Straßen warnen Plakate vor „Shuga Dadi“ und „Shuga Mami“, die Jugendliche mit Geschenken für sexuelle Gefälligkeiten locken. Das ruandische Kabinett besteht heute zu einem Drittel aus Frauen, und im Parlament sind mehr als die Hälfte der Abgeordneten weiblich. Zur Freude von Umweltschützern hat die Regierung Plastiktüten verboten, und überhaupt ist Kigali eine auffällig saubere Stadt. Was auch damit zu tun hat, dass es keine Hunde gibt. Sie wurden nach dem Genozid erschossen, weil sie die Leichen auf den Straßen fraßen – es war das einzige Mal, dass die UN-Soldaten ihre Waffen gebrauchten. Einmal im Monat findet zudem ein kollektives Reinemachen statt. Dann ist das Autofahren untersagt, und die Kigalier befreien die Wege mit Hacken vom Unkraut, das sie auf großen Haufen verbrennen.
Betty hat nicht beim Arbeitsdienst mitgemacht, gesteht sie an der Bar des Mille Collines. „Ich musste ausschlafen.“ Sie trägt eine tief ausgeschnittene Bluse, enge Jeans und Stöckelschuhe, ihre Haare hat sie künstlich verlängern und helle Strähnen einflechten lassen. Als Prostituierte würde sich die 23-Jährige nicht bezeichnen. „Man kann sich mit mir vergnügen“, meint sie, „aber man muss mir helfen. Mein Neffe hat Malaria“. Bettys richtiger Name ist Mutamuriza, das bedeutet „Bring sie nicht zum Weinen“, aber welcher Muzungu, welcher Weiße, könnte sich das merken?
Es sind Lebensläufe wie der von Betty, an deren Verlauf sich Kagames Politik einmal messen lassen muss. Ruanda ist das dichtbevölkertste Land Afrikas, fast die Hälfte seiner zehn Millionen Einwohner ist jünger als 15 Jahre, 90 Prozent sind sich selbstversorgende Bauern und 60 Prozent gelten als arm. Betty hat ganz alleine ihren 15-jährigen Neffen großgezogen, der Rest der Familie ist tot, sie benutzt wie viele junge Ruander nur die Chiffre „Nineteenninetyfour“. Auf der Brust hat sie eine Narbe – „von einer Machete“, sagt sie. Mehr ist über ihre Erlebnisse nicht zu erfahren. Man schätzt, dass fünf von sechs Kindern während des Genozids ein Trauma erlitten haben.
Betty lebt in Nyamirambo, einem der ärmsten Stadtteile Kigalis und Zentrum der kleinen muslimischen Gemeinde. Über den Lehmhütten thront die grünweiße Masjid Al-Fath Moschee, entlang der staubigen Straßen reihen sich Beauty Salons, Schneidereien und Musikläden. Vieles hier entspricht dem Klischee vom bunten, vom unzerstörbaren Afrika. Doch aus den Geschäften dröhnt keine Musik, wie es woanders wäre. Der Ruander gilt als eher reserviert. „Ruanda ist ein Afrika, wo auch Amerikaner zurechtkommen“, heißt es oft.
„Welcome to my Slum“, grüßt Betty, und als sie die Tür zu ihrem Haus öffnet, kriegt man Zweifel an der Wiedergeburt Ruandas: zwei kahle Zimmer, ein Bett, ein Radio, sonst nichts. Hinter der Eingangstür reihen sich Kanister, die Betty jeden Tag an einer Wasserstelle füllt. Daneben hat sie Schüsseln in allen Farben und Größen ineinander gesteckt, für den Abwasch, die Morgentoilette und zum Pinkeln. Das Abwasser gießt sie in ein kleines Loch im Steinboden. Ein richtiges Klo teilt sie sich mit ihren Nachbarn.
„Umva!“ ruft Betty über den Hof, „hör mal!“ Eine Nachbartür geht auf, ein kleiner Junge schaut heraus. Betty schickt ihn los, Bananenbier holen. „Manchmal“, sagt sie, „fühle ich mich so einsam, dass ich den ganzen Tag weinen muss“. Sie zeigt ein Schwarzweißfoto, auf dem eine große Frau in einem afrikanischen Kleid vor einer Savannen-Fototapete posiert. „Meine Mutter“, sagt Betty. „Ich kenne ihren Mörder.“ Was wünscht sie sich für die Zukunft? Betty zuckt mit den Schultern.
Am Abend wird am anderen Ende der Stadt ein Benefizfußballspiel für die Angehörigen der Genozid-Opfer angepfiffen. Im Amahoro Stadium, dem Friedensstadion, kickt das ruandische Nationalteam gegen die „African Allstars“ um die Weltklassestürmer Didier Drogba und Samuel Eto’o. Vor 15 Jahren hielt Kagames vorrückende Rebellenarmee in diesem Stadion Tausende Hutus gefangen. Man tauschte sie gegen Tutsis aus, die im Einflussbereich der Hutu-Regierung überlebt hatten. So kamen auch Justin Mugabo und die anderen Flüchtlinge aus dem Mille Collines frei.
Das Spiel gewinnt Ruanda, eine Sensation, mit 4:0. Im Friedensstadion sind 35 000 Menschen aus dem Häuschen. Täter und Opfer jubeln gemeinsam, für eine Nacht ist die Vergangenheit vergessen.