„Von Weitem ist der Zigeuner ein Mensch.“ – Rumänisches Sprichwort
Der Himmel, der sich wie ein Zelt über der Walachei spannt, leuchtet noch einmal auf, vom Fluss kommen die ersten Mücken herübergesummt. Als die Sonne glutrot hinter der Müllkippe versinkt, entfachen sie ein Feuer vor Ileana Vasiles Haus. Nacht im Zigeunerviertel von Rosiori de Vedn, einer Kleinstadt 130 Kilometer südlich von Bukarest. Viele der Roma, die wochenlang in Berlin für Streit sorgten, weil man nicht wusste, wohin mit ihnen und denen man am Ende 250 Euro in die Hand drückte, damit sie verschwinden, stammen aus der Gegend.
Doch in Rosiori weiß man nichts von ihnen.
Zigeuner in Berlin? Da lachen sie, Ileana Vasile und ihr Clan. „Was ist daran so besonders?“, sagen sie. „Wir sind doch überall.“
Ileana Vasile steckt sich eine Zigarette in die Zahnlücke neben ihrem Goldzahn. Sie ist 50 Jahre alt und Zauberin, sie trinkt hausgemachten Joghurt aus Plastikflaschen, hat zehn Kinder und 30 Enkel. Mehr als die Hälfte von denen sei im Ausland. Wo genau? „Das kann ich gar nicht sagen.“ Da beginnt unter den jungen Leuten um sie herum ein großes Palaver. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen vom Ausland. Einige berichten von Italien, andere von Spanien. Dort waren auch viele der Berliner Roma, bevor sie nach Berlin kamen. In Spanien hat auch Ileanas Tochter Florentina schon gearbeitet.
Florentina ist 20, sie trägt Badelatschen, einen roten Rock und ein tief ausgeschnittenes T-Shirt, auf dem „Rabbit“ steht. Ihre kräftigen schwarzen Haare werden von einer weißen Plastikblume zusammengehalten. Anfang des Jahres habe sie noch in einer Bar bei Malaga hinter der Bar gestanden, sagt sie. Dann platzte die spanische Immobilienblase und die Arbeitslosigkeit stieg auf ein Rekordhoch. Hunderttausende Rumänen verließen Spanien, so auch Florentina, die mit dem Bus nach Rosiori zurückkehrte. Nun möchte sie heiraten. „Aber keinen Roma“, sagt sie, „sondern einen Ausländer“.
Da kichern ihre Cousins los: 20 000 Euro würde Florentina kosten. Sie sei sehr hübsch, das sehe ich ja wohl selbst; außerdem arbeitsam und noch Jungfrau. Florentinas Bruder Strugurel, 23, prustet, dass das stimme, er schlafe nämlich Wand an Wand mit Florentina. Strugurel hält seinen wenige Monate alten Sohn im Schoß, der geistig behindert und völlig apathisch ist. Auf den dürren Oberarmen trägt Strugurel selbst gemachte Tätowierungen, es sind die Namen von Mutter, Brüdern und Schwestern. Fast alle hier tragen solche Tätowierungen. Bis vor einigen Monaten, berichtet Strugurel, habe er noch in Madrid als Kellner gearbeitet. Aber es gebe dort keine Jobs mehr. Und in Rumänien? „Aussichtslos. Für Zigeuner.“
30 000 Menschen leben in Rosiori de Vede, rund 3000 von ihnen sind Roma. Sie nennen sich auch Tsigani, was für sie nichts Abwertendes hat. Die meisten wohnen am Rande der Stadt, dort, wo es kein fließendes Wasser und keine Müllabfuhr gibt. Die Siedlung von Ileana Vasiles Familie liegt hinter einem ungesicherten Bahndamm, er ist eine Demarkationslinie. Im Zentrum Rosioris stehen graue Plattenbauten und kleine hübsche Häuser, die von wuchernden Gärten umgeben sind. Es gibt eine Fußgängerzone, einen Supermarkt und eine neue Tankstelle. Es hat sich hier äußerlich nicht viel geändert seit der Wende. Doch in den 90er Jahren entließen der Waggonbauer, die Ölmühle, die kleinen Metallbetriebe und der Textilhersteller tausende Arbeiter. Die Arbeitslosenquote beträgt hier heute über 20 Prozent. Unter den Roma ist sie um ein Vielfaches höher, doch niemand kann sagen, wie hoch, weil die meisten Roma keine registrierte Beschäftigung haben.
Sandu Padure ist ein rundlicher, kräftiger Mann mit lustigen Glupschaugen und übertriebenen Gesten. Er wartet auf einer Wiese am Rande Rosioris, wo rund 20 Roma-Familien unter Plastikplanen wohnen und Ziegel aus Erde herstellen. Rauchende Öfen ragen wie kleine Maya-Tempel aus der umgegrabenen Oberfläche. Endlose Reihen feuchter Steine trocknen in der Sonne. Die Arbeiter hier gehören zu den Rudari, einer von 19 Roma-Kasten. Sie sind seit Generationen Backsteinmacher, andere Roma sind Schmiede, Pferdehändler, Musiker oder Holzarbeiter. In einem von der Landwirtschaft geprägten Land sind diese Berufe durchaus noch gefragt. Sandu Padure hat früher selbst Ziegel gebacken. Heute ist er Sozialarbeiter, der einzige in Rosiori.
Gemeinsam mit einem orthodoxen Pfarrer fährt er mit einem Kleinbus durch die Roma-Siedlungen. Sie wollen die Eltern überreden, ihre Kinder in die Schule zu schicken, locken mit Stiften und Bilderbüchern, bieten auch den Erwachsenen Lese- und Schreibkurse an.
Das Programm wurde einst mit EU-Geld angeschoben. Heute kümmert sich der rumänische Staat darum, zahlt Padure aber nur 150 Euro im Monat, weswegen er auch Tomaten und Gurken auf dem Markt verkauft. Padure schätzt, dass mindestens die Hälfte der Roma in Rosiori Analphabeten sind. „Das Problem sind die Traditionen“, sagt er. Viele würden den Sinn der Institution Schule nicht begreifen. „Die Familienverbände sind wichtiger, weil sie bis ins Alter vermeintliche Sicherheit versprechen.“ Das treffe vor allem die Frauen. Schon für Kleinkinder würden Hochzeiten arrangiert, und mit zwölf Jahren würden die Mädchen von der Schule genommen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kämen. „Roma-Frauen und Bildung sind traditionell ein Widerspruch“, sagt Padure.
Für die Kinder der Ziegelsteinmacher endet die Schule immer im Mai. Dann steigen die Temperaturen, das Regenrisiko sinkt, die Arbeit beginnt. Ein halbnacktes Geschwisterpaar rennt zwischen den Öfen umher, ein Junge wäscht sich an einem rostigen Metallfass.
An Tischen sitzen Frauen, die nasse Erde in Holzformen klatschen. Eine ruft, als Padure vorbeigeht: „Ist das ein Scheißjob, den ganzen Tag in der Sonne, und dann kommt ein Gewitter und macht alles kaputt.“ Und Geld verdiene man auch nicht. Sie zeigt auf ihre nackten Füße. „Schick deine Tochter zur Schule“, sagt Padure, dann wird sie mal Schuhe tragen.
In Rumänien gibt es etwa 2,5 Millionen Roma, das sind zehn Prozent der Bevölkerung. Sie teilen sich in 40 Untergruppen auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Durchaus nicht alle Roma sind arm. Nur einige Kilometer von den Ziegelöfen entfernt liegt das Dorf Buzescu. Es wirkt inmitten der Weizenfelder wie ein Fata Morgana. Entlang der einzigen Straße erheben sich Paläste mit Marmorterrassen, Steinsäulen, Erkern, Türmen und Zinnen. Hier wohnen die Caldarari, die Kesselmacher, die sogar einen König haben. Wie man zu so viel Geld gekommen sei? Einige Teenager, die mit Laptop auf einer Bank sitzen, antworten: mit Kesselmachen und geschicktem Heiraten.
Die Roma in Rosiori lästern später, dass die Caldarari Zuhälter seien. Doch auch bei ihnen findet man am Marktplatz ein Miniaturschloss. Es gehört dem größten Taxiunternehmer im Ort.
Dass Roma aus den traditionellen Rollen ausbrechen, kommt zwar immer öfter vor, bleibt aber die Ausnahme. Die werden dann Parlamentsabgeordnete, Fußballspieler, oder sie studieren. Doch 80 Prozent der Roma leben von weniger als fünf Euro am Tag. Das EU-Parlament konstatiert, dass es in Rumänien „Inseln der Dritten Welt inmitten der Ersten Welt“ gibt.
In den Dörfern rund um Brasov, dem alten Kronstadt, leben zerlumpte Menschen in zerlöcherten Hütten inmitten von Müllbergen, und wenn im Frühling der Schnee schmilzt, versinkt alles im Schlamm. Tuberkulose und Hepatitis sind dort weit verbreitet, aber auch in Rosiori nicht ungewöhnlich, wie Sandu Padure erzählt. Im Durchschnitt werden Roma 54 Jahre alt, das sind 15 Jahre weniger als die restlichen Rumänen.
Woher kommen diese teils mittelalterlichen Verhältnisse? Die Roma-Expertin Cosima Rughinis von der Universität Bukarest spricht vom „Teufelskreis aus Bildungsferne, räumlicher Segregation und Stigmatisierung“. Die Mehrheitsbevölkerung betrachte die Roma als unterlegen, sagt sie. Hinzu kommt eine lange Geschichte von Gewalt und Paternalismus, die die Roma extrem misstrauisch gemacht hat. Ende des 14. Jahrhunderts wanderten sie ins Gebiet des heutigen Rumänien. In den Donaufürstentümern wurden sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Sklaven gehalten. Die Abschaffung der Sklaverei 1856 bedeutete dann die völlige Verelendung, denn man vergaß, den befreiten Sklaven Land für einen Neuanfang zu geben.
Fast 100 Jahre später ließ der mit Hitler verbündete Diktator Ion Antonescu rund 30 000 Roma gen Osten deportieren, wo 11 000 von ihnen ermordet wurden. Mit dem Begriff „Porajma“ erinnern sich die Roma an den Völkermord. Als nach dem Krieg die Kommunisten an die Macht kamen, betrachteten sie die Roma als “zu assimilierende Schicht”. Sie zwangen sie zur Sesshaftigkeit, zahlten ihnen aber ein Gehalt. Der Kapitalismus verwandelte die „Proletarier“ dann schlagartig in ungelernte Wanderarbeiter. Seit dem EU-Beitritt Rumäniens 2007 drängen sie nach Westeuropa.
„Zehn Prozent aller Familien haben heute mindestens einen Verwandten im Ausland“, sagt Rughinis.
In Rosiori gebe es ein ständiges Kommen und Gehen, bestätigt Sandu Padure.
Die Roma sind als Idee romantisches Klischee und real existierendes Hassobjekt. So kann der Taxifahrer in Bukarest die Kassette mit lustiger Balkanmusik einlegen und im gleichen Moment sagen, dass die Zigeuner Diebe seien. „Ich hasse sie“, sagt er. Warum? „Ich hasse sie eben.“ Wenn etwas die neun Millionen Roma in Europa eint, dann ist es neben der uralten Sprache die Ablehnung der anderen.
Klauen? „Haben wir nicht nötig.“ Ileana Vasile zeigt verschiedene Diplome, die sie als „Weiße Magierin“ ausweisen. Sie legt ihre Tarotkarten auf einen Plastikstuhl mit zerbrochener Lehne. Sie sieht große Liebe voraus, aber auch Feinde und schwierige Zeiten. „Ich lese aus der Hand und spreche Zauberformeln, um böse Flüche zu lösen“, sagt sie. Alle Bewohner der Siedlung kämen zu ihr. Sogar aus Amerika würde sie angerufen. Ileana Vasile heiratete mit zwölf, mit 13 bekam sie ihr erstes Kind, als sie 30 war, starb ihr Mann an Leberzirrhose. Sie selbst leidet an Diabetes und trägt eine Insulinspritze in ihrem Rock. Ob sie nicht auch mal ins Ausland wolle? „Ich schlafe in keinem Park“, sagt Ileana. Wie sie es findet, dass die Roma aus Berlin weggeschickt wurden? „Normal“, sagt sie.
Unter dem Giebel ihres Hauses steht „1963“. Größere Renovierungen haben an dem Lehmziegelbau seitdem offenbar nicht stattgefunden, aber auf dem Dach thront eine Parabolantenne. Im Haus gibt es drei Räume, in denen sie mit zwei Töchtern, zwei Söhnen, einer Schwägerin und zwei Enkeln schläft. Die stickigen Räume sind komplett mit Teppichen verkleidet. In einer Ecke hängt ein Bild der indischen Göttin Schiva, in einer anderen eins von Ileanas totem Gatten mit kräftigem Schnauzer. Neben den Öfen stehen eine Stereoanlage und ein kleiner Fernseher, auf dem eine spanische Telenovela ins Haus flimmert. Es gibt eine kleine Kochstelle im Flur, aber weder eine Toilette noch eine Dusche. Sie waschen sich in einem Bottich mit Brunnenwasser, und für alles andere gehen sie in den Wald.
Es ist ein kräftiger Wind aufgekommen, der schwarze Wolken herangetragen hat. Eine halbe Stunde später gießt es wie aus Kübeln. Die Vasiles verteilen Töpfe und Pfannen im Haus, in die das Wasser von der Decke tropft. Dann schwappt es über die Türschwelle, der Hof hat sich in einen knöcheltiefen See verwandelt.
Und in der Ferne sieht man, wie die ersten Regentropfen auf den Öfen der Ziegelmacher verdampfen.