Das Wunder von Madrid

Das Wunder von Madrid

Auch diese Woche wird Francisco Martinez wieder in das kleine Waldstück laufen. So wie jede Woche seit dem Unfall vor vier Monaten.

Von seiner kleinen Wache aus wird er losstapfen über das weite Areal des Flughafens Madrid-Barajas. Neben Piste 36 L wird er an einen Graben kommen, durch den sich ein Bach schlängelt. Er wird hinabsteigen. Einst war das Ufer üppig bewachsen, nun ist alles schwarz: die Erde, die Steine und die Baumstümpfe, die von Metallsplittern regelrecht zerfräst wurden. Martinez, seit 19 Jahren Feuerwehrmann auf dem Flughafen, wird niederknien und sich erinnern. Wie sich die Maschine der Fluggesellschaft Spanair in die Böschung gebohrt hatte und die Passagiere kopfüber aus dem Rumpf hingen.

Martinez kämpfte sich damals durch Flammen und dichten schwarzen Qualm, der ihm fasst die Lungen zerriss. In der tosenden Finsternis versuchte er unermüdlich, Menschen aus dem Wrack zu befreien. Er war der erste Retter, den die Überlebenden sahen, und zugleich ihre letzte Hoffnung.

Am Ende dieses Augusttages hatte er zwölf Menschen aus dem Inferno geholt. Darunter die Kinder Maria und Jesus. Schnell war vom „Wunder von Madrid“ die Rede, und er war der Held. Einer, der sich für das Leben anderer aufgeopfert hatte. „Ich habe getan, was getan werden musste“, sagt Francisco Martinez. Und doch kehrt er immer wieder zurück an den Ort der Katastrophe. „Ich leide und meditiere“, sagt er, „das ist meine Therapie“.

50 Kilometer nördlich von Madrid liegt das Dorf El Boalo am Fuße der Cuenca Alta de Manzanares. Die 2000 Meter hohen Berge sind schneebedeckt, herab weht ein trockener Wind. Martinez war erst vor wenigen Tagen wieder oben, „wegen der Ruhe bin ich hierher gezogen“, sagt er. In Jeans und Bauarbeiterschuhen steht er in der Einfahrt seines Hauses am Rande des Ortes, neben ihm ein Hügel mit Holzabfällen, er baut am Garten. Der 44-Jährige ist kompakt gebaut, breite Schultern gehen in einen muskulösen Nacken über, auf dem ein kantiger Schädel sitzt. Ein ausgeprägtes Kinn und eine kräftige Stirn deuten auf einen Mann hin, der lieber anpackt als redet.

Martinez nimmt einige Holzscheite mit ins Wohnzimmer, sein Daumen ist blau unterlaufen, fast schwarz. Er hat ihn in der Tür eines Feuerwehrwagens eingequetscht, aber alles halb so schlimm, meint er. Er macht Feuer im Kamin und lässt die Rollläden herunter. „Ich versuche hier, Distanz zu gewinnen.“ Mit seiner Frau Purificacion redet Martinez nicht mehr über die Katastrophe. Und in der Dorfkneipe meidet er das Thema. „Ich bin Feuerwehrmann, kein Wundertyp.“ Für die Passagiere des Flugs JK 5022 war er beides.

Am 20. August 2008 steht in Barajas für 13 Uhr der Spanair-Flug nach Gran Canaria auf dem Plan. Mitten in der Ferienzeit ist die Maschine vom Typ McDonnell Douglas 82, die den Namen „Sunbreeze“ trägt, voll besetzt: Neun Crewmitglieder betreuen 163 Passagiere. Die meisten von ihnen wohnen auf den Kanaren und kehren aus den Ferien zurück, die anderen fliegen in den Urlaub. Zu ihren Füßen im Gepäckraum befinden sich zwei Sorten von Koffern. Solche mit dreckiger Wäsche und Souvenirs und jene mit sauberen Handtüchern und neuen Badelatschen. Außerdem sind 800 Kilo frischer Lachs im Bauch des Flugzeugs verstaut. Die 15 Jahre alte MD-82 ist voll beladen, 2000 Kilo fehlen bis zur Höchstlast von 68 000 Kilogramm. Die Menschen an Bord stammen aus elf Nationen: Ein Inder ist darunter, der einen Basar in Las Palmas betreibt, eine spanische Lesbenaktivistin, ein Hotelpage aus Guinea, ein Fußballtrainer, ein Fallschirmspringer, ein brasilianisches Paar in den Flitterwochen, ein französischer Turner und sein Partner, eine vierköpfige Familie aus Pullach. 22 Passagiere sind Kinder.

Die Stimmung an Bord ist gut. Bis die Maschine auf die hitzeflirrende Startbahn zurollt, und Pilot Antonio Garcia sich über Lautsprecher meldet: „Da leuchtet eine rote Lampe, die nicht leuchten sollte.“ Der 39-Jährige bricht den Start ab und kehrt zum Finger Nr. 11 zurück. Im Cockpit ist ein Warnlämpchen angegangen, das eine Überhitzung des Temperaturfühlers anzeigt. Das Anti-Frost-System hatte sich mitten im Sommer selbst aktiviert. Die Spanair-Techniker entscheiden – strikt nach Handbuch – die Sicherung des Fühlers zu deaktivieren. Für die Flugtauglichkeit ist er belanglos.

Eine Stunde steht die MD-82 am Gate. Die Passagiere werden unruhig. Der Laienprediger Ruben Santana sitzt im hinteren Teil der Maschine und schreibt seiner Frau eine SMS: „Amor, das Flugzeug ist beschädigt.“ Sie bittet ihn, nicht mitzufliegen. Der 45-Jährige antwortet: „Sie lassen uns nicht raus, alles ist zu.“

Einige Reihen vor Santana sitzt Familie Filloy. Sie ist auf dem Heimweg aus den Ferien, die sie jedes Jahr im Heimatdorf von Mutter Amalia in der Provinz Salamanca verbringt. Vor drei Tagen hat Amalia dort ihren 47. Geburtstag gefeiert. Ehemann Jose und die beiden Töchter Amalia, 15, und Maria, 11, gratulierten mit Küsschen und Kuchen.

Unweit der Filloys haben sich der Kolumbianer Alfredo Acosta und seine spanische Frau Gregoria Mendiola eingerichtet. Sie wollen mit ihrem achtjährigen Sohn Jesus in den Kurzurlaub.

Unterdessen bereiten am anderen Ende des Flughafens acht Feuerwehrmänner ihr Mittagessen vor, unter ihnen Francisco Martinez. Es soll Schweinefilets mit Salat geben. Bisher ist der Tag für die Männer ruhig verlaufen. Nirgendwo ist Kerosin ausgelaufen, kein Lotse hat im Triebwerkstrahl gestanden, kein Gepäckwagen ist verunglückt. Sonst Alltäglichkeiten in Barajas mit seinen 480 000 Flügen im Jahr.

Als Pilot Garcia im Cockpit der MD-82 kurz nach 14 Uhr vom Tower eine neue Starterlaubnis bekommt, entscheidet er, die Lücke auszunutzen. Er ignoriert, dass die Techniker mit der Überprüfung der Maschine noch nicht fertig sind: Vorflügel und Landeklappen fehlen, sie stehen in der letzten Zeile der Checkliste. Aber Garcia will los. Die MD-82 mit dem „Star Alliance“-Schriftzug rollt zur Startbahn 36L.

Um 14 Uhr 24 drückt Garcia den Gashebel durch. Kurz darauf überschreitet die „Sunbreeze“ die Startgeschwindigkeit von 241 Stundenkilometern, aber sie kommt nicht hoch. Die Vorflügel, die normalerweise für Auftrieb sorgen, sind nicht ausgefahren. Doch den Start abbrechen können die Piloten jetzt nicht mehr, sie müssen abheben. 500 Meter vor dem Ende der 4350 Meter langen Piste macht das Flugzeug einen kraftlosen Satz und knallt dann 60 Meter rechts neben der Fahrbahn auf. Es rast über das vertrocknete Gras. Während der Schlitterfahrt kämpfen die Piloten im Cockpit verzweifelt mit der Steuerung. Martinez findet sie später mit gebrochenen Armen. Im Passagierraum kauern sich die Menschen instinktiv zusammen, erstarren vor Schreck oder schreien. Sekunden später kracht das Flugzeug in die Böschung des Baches Arroyo de Vega und explodiert.

„Wir wollten gerade mit dem Essen beginnen“, erzählt Francisco Martinez, „da schrillte der Alarm“. Als die Männer nach draußen rennen, sehen sie eine Rauchwolke. Sie springen jeweils zu zweit in die Feuerwehrautos vom Typ Panther und rasen los. Doch weil der Rauch so dicht ist, können sie nicht erkennen, wohin sie eigentlich müssen. Francisco Martinez bricht mit seinem Wagen eine Schneise durch das Unterholz. Als er aus dem Wagen springt, haut ihn eine Hitzewelle fast um. Die Umgebung ist mit 22 106 Litern Kerosin getränkt, Bäume und Sträucher haben sich in knatternde Fackeln verwandelt. Durch die Rauchwand hört Martinez Schreie, er nennt es „ein Kreischen, das ich wohl nie wieder aus dem Kopf bekommen werde“.

Eine Frau kommt aus dem Qualm gestolpert und setzt sich auf einen glühenden Baumstamm. Martinez packt den Wasserschlauch, löscht das Holz aus 30 Meter Distanz. Schon in den ersten Minuten des Unglücks verschießt er die 12 000 Liter Wasser aus seinem Tank. Plötzlich taucht ein kleiner Junge aus dem Nichts auf. Martinez nimmt ihn auf den Arm, es ist der achtjährige Jesus, er hat ein gebrochenes Bein. Er fragt, wann der Film vorbei sei. Martinez setzt ihn ins Auto. „Der Film ist hässlich, aber er ist bald zu Ende.“

Als Martinez zum Wrack rennt, tut sich ein apokalyptisches Szenario vor ihm auf. Der Boden ist bedeckt mit verschmorten Kaninchen und Hunderten Fischen aus dem Rumpf. Dazwischen liegen Badeanzüge, Spielzeuge, Sonnencremetuben. Martinez schaut nicht hin, er ist tags zuvor selbst mit seiner Familie aus dem Urlaub auf Menorca heimgekehrt. Er sieht, dass die Spitze des Flugzeugs in die Böschung gerast und aufgerissen ist. Die röhrenartige Konstruktion hat sich wie eine Schraube um sich selbst gedreht. Der hintere Teil muss abgerissen und weitergeflogen sein. Später erzählen ihm die Kollegen, dass es dort keine Überlebenden gegeben hat.

Vor Martinez hängen Menschen aus ihren Sitzen herunter, manche mit dem Kopf über dem Wasserspiegel des Baches, der rasend schnell ansteigt, weil das Bachbett von Trümmern blockiert ist. Er reißt sich die Atemmaske vom Gesicht, um mit ihnen reden zu können, bindet sich ein nasses Taschentuch vor. Er hält den Ertrinkenden die Köpfe über Wasser, während er sie aus ihren Sitzen schneidet. Sie sind von ihren Gurten und einem Wust aus Kabeln regelrecht gefesselt. So gut wie alle haben Beinverletzungen, offene Wunden, zerrissene Körper. Martinez sieht in diesen ersten 20 Minuten des Unglücks alles in Schwarz-Weiß. Außerdem lassen Hitze, Schreie und das Gefühl der Ohnmacht seinen Puls auf 200 hochschnellen. Er schließt die Augen, bricht fast zusammen, reißt sich am Riemen und steigt auf das Wrack. Er schneidet weitere Menschen aus ihren Sitzen, trägt sie hinunter, legt sie abseits, wo die eintreffenden Sanitäter sich um sie kümmern.

Einem Mann, dessen Beine aufgerissen sind, erklärt er: „Ich muss ihnen jetzt wehtun.“ Der Mann nickt. Martinez legt sich auf ihn, um mit den Füßen Metallteile wegzudrücken. „Es entsteht in dieser kurzen Zeit fast so etwas wie Freundschaft.“ Dann kommt er zur Sitzreihe von Amalia Filloy, die ihre Tochter Maria in den Armen hält. „Als sie mich sieht, fleht sie, dass wir zuerst Maria retten sollten.“ Er bringt die Elfjährige, die einen offenen Oberschenkelbruch hat, in Sicherheit. In der Zwischenzeit stirbt ihre Mutter.

Nach drei Stunden Arbeit bricht Martinez durch ein Flugzeugfenster und verrenkt sich das Knie. Er kann nicht weitermachen. Später erfährt er, dass 18 Menschen das schwerste Flugzeugunglücks Spaniens seit 25 Jahren überlebt haben, zwölf von ihnen sind von ihm und seinem Teamkollegen rausgeholt worden.

Am Abend treffen die Feuerwehrmänner in der Wache ein. Einige weinen, andere zupfen am Salat vom Mittagessen. Das Fleisch rührt keiner an. „Ich war noch nie so müde“, sagt Martinez. Aber an Schlaf ist nicht zu denken. Die Männer sitzen die ganze Nacht zusammen, beginnen zaghaft über das Erlebte zu reden. Am Morgen beschließt Martinez ins Universitätsklinikum La Paz zu fahren. Dort liegt die elfjährige Maria, sie ist so alt wie Martinez’ Tochter Claudia. „Ich wollte ihr sagen, dass ihre Mutter sich für sie geopfert hat.“ Doch der Feuerwehrmann bekommt keinen Zugang zur Intensivstation. Stattdessen spricht er mit den Angehörigen von Opfern, die ihm von ganzem Herzen danken.

Zwei Wochen nach dem Unglück wird Jesus aus dem Hospital Niño Jesus entlassen. Seine 82-jährige Großmutter holt ihn ab, Jesus’ Vater ist tot, die Mutter liegt im Koma. Zwei Monate darauf geben die Ärzte das Okay für Maria. Sie kehrt mit ihrem Vater Jose, der ebenfalls überlebt hat, zurück auf die Kanaren.

Seit dem Unglück hat Francisco Martinez nie wieder etwas von Maria und Jesus gehört. Einen Tag nach der Katastrophe kam König Juan Carlos I. zum Flughafen und schüttelte ihm die Hand. Wenig später nahm er stellvertretend für die 140 Feuerwehrleute von Barajas den Internationalen Feuerpreis entgegen, den vorher die Kollegen aus New York und Tschernobyl erhalten haben. „Aber das Wichtigste“, sagt Martinez, „ist die Gewissheit, alles gegeben zu haben.“

In den ersten Nächten nach dem Unglück hatte Francisco Martinez einen Traum: Er ist der Kapitän der Unglücksmaschine. Er rast mit Tempo 250 über die Piste, hebt kurz ab, kracht herunter. Während das Flugzeug auf den Bach zuschießt, blickt er in die aufgerissenen Augen seines Kopiloten. An diesem Punkt sei er immer aufgewacht, sagt Martinez – mit echten Rückenschmerzen vom geträumten Aufprall. Dann verschwand der Traum und ist nicht wiedergekehrt. Martinez’ Teamkamerad ist seit der Katastrophe krankgeschrieben und in psychologischer Behandlung. Aber Martinez hat in den Abgrund geschaut, ohne dass der Abgrund in ihn hineingeblickt hätte. Nur das Lachen, das falle ihm noch etwas schwer.

Die untergehende Sonne taucht die felsigen Berge von El Boalo in ein weiches Licht. Martinez schaut hinauf. Vielleicht brauchen die Menschen Lichtgestalten wie ihn in dunklen Momenten? „Ja, das ist sicher so“, sagt er.