Marina Oliveira legt die Fotos von 270 Menschen und die Ultraschallbilder zweier Föten nebeneinander, bis sie einen großen Teil des Kirchenbodens bedecken. Es sind Porträts, Schnappschüsse, Alltagsbilder.
Foto: (c) Florian Kopp
Viele Menschen lachen, man sieht sie im Kreis ihrer Familien, mit einem Fußballpokal oder in Arbeitsuniform. Es sind Menschen fast allen Alters und aller Hautfarben.
In wenigen Minuten ist Marina Oliveira hier mit einem Bischof aus Österreich verabredet. Er will sich informieren über die Folgen der Minenkatastrophe, die vor einem Jahr über die Kleinstadt Brumadinho im brasilianischen Hinterland hereinbrach. Es war das größte Minendesaster in der Geschichte Brasiliens, 270 Menschen und zwei Ungeborene wurden getötet. Aber bis heute sind die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen worden.
„Auch deshalb ist das Desaster für uns nicht vorbei“, sagt Marina Oliveira. Zu dem Treffen mit dem Bischof hat sie Angehörige von Opfern eingeladen, die nun langsam in der Kirche eintreffen, die unterhalb einer großen Eisenerzmine liegt. Draußen dröhnen immer wieder vollbeladene Lkw vorbei, während Arbeiter die Straßen wässern, damit weniger Staub aufgewirbelt wird.
Oliveira eröffnet die Runde mit einem Lied. Sie trägt ein schwarzes Kleid und Converse-Sneaker. Ihr blasses Gesicht wird von halblangen rötlichen Haaren gerahmt. Die Erscheinung der 24-Jährigen hat etwas Madonnenhaftes. Tatsächlich setzen viele Menschen hier großes Vertrauen in die junge Frau. Obwohl sie selbst keine Angehörigen verloren hat, ist sie zur Stimme der Opfer geworden.
„Am Morgen des 25. Januar 2019 gingen 270 Menschen zur Arbeit in der Eisenerzmine Feijão des Bergbaukonzerns Vale“, setzt Oliveira an. „Am Nachmittag lagen sie verstümmelt und zerfetzt unter einer Schlammlawine.“ Der Damm des Beckens B 1 mit flüssigen Rückständen aus der Mine war um 12 Uhr 28 gebrochen. Die Schlammmassen schossen einen Hang hinunter und wälzten sich durch ein Tal. Sie rissen Menschen, Bäume, Häuser und eine Eisenbahnbrücke fort und ergossen sich schließlich in einen Fluss, der einst klares Wasser führte, aber heute rotbraun durch Brumadinho fließt.
Vale, der drittgrößte Bergbaukonzern der Welt mit einem Gewinn von fast sieben Milliarden Dollar im Jahr 2018, hatte den Damm trotz Warnungen offenbar nicht ausreichend gesichert. „272 Menschen wurden von Vale ermordet“, sagt Oliveira. „Aus Profitgründen. Vale wusste, dass der Damm instabil war.“
Vale weist diese Anschuldigung zurück. Auf Nachfrage dieser Zeitung erwähnt eine Sprecherin ein Experten-Panel, das im Dezember 2019 zu dem Ergebnis kam, dass der Bruch plötzlich und ohne Warnzeichen erfolgt sei. Nichts habe auf das „Ereignis“ hingewiesen.
Dem widersprechen allerdings interne Vale-Gutachten von 2017 und 2018, in denen auf das Risiko eines Dammbruchs in Brumadinho erwähnt wurde. Es sei zwei mal höher als tolerierbar, heißt es in den Dokumenten. Demnach hatte man Lecks und Erosionen innerhalb des 86 Meter hohen Damms festgestellt. Die Hinweise wurden jedoch von Vale-Entscheidungsträgern ignoriert, die angewiesen worden waren, Kosten zu sparen. Weder wurde der Inhalt des Rückhaltebeckens reduziert noch der Damm verstärkt.
Auch seine Angestellten warnte das Unternehmen nicht. Ein Großteil von ihnen aß gerade in der Firmenkantine zu Mittag, als der Damm schließlich barst. Sie hatten keine Chance, wurden von der Schlammlawine begraben. Die Alarmsirenen waren stumm geblieben, Fluchtrouten waren teils falsch ausgewiesen. Die Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen, wie Container, Autos, rennende Menschen einfach fortgerissen werden.
In der Kirche hebt Marina Oliveira die Fotos von Verschütteten auf und erzählt zu jedem Bild eine kurze Geschichte. So macht sie es bei jeder Versammlung, jeder Diskussion, jeder Pressekonferenz. Sie will erinnern, will verhindern, dass die Toten zu bloßen Zahlen werden. „Das ist Rangel, er war in meinem Alter, ging mit mir zur Schule, sein Körper wurde zerrissen, die Suchtrupps fanden einzelne Gliedmaßen von ihm.“ Das ist Rogério. Das ist Camila. Das ist Eva, das Evandro. Nach dem Desaster überflogen wochenlang Hubschrauber mit herabhängenden Leichensäcken Brumadinho. Die Kinder im Ort begannen irgendwann, die Szene zu zeichnen.
„Einen Arm und die Stirnseite seines Schädels haben wir von ihm bekommen“, sagt eine junge Frau in die Runde. Marcella Rodrigues verlor ihren Vater, der 17 Jahre lang als Elektriker und Zugführer für Vale gearbeitet hatte. Nach der Katastrophe suchte die 26-Jährige einen Psychologen auf, den Vale nach Brumadinho geschickt hatte. Aber eine viel bessere Therapie seien die Gesprächsgruppen mit anderen Familienangehörigen, sagt sie. „Wir versuchen uns alle neu zu finden. Vale hat Brumadinho jahrzehntelang dominiert. Alle hier wollten bei Vale arbeiten. Nun hat die Firma Brumadinho zerstört.“
Vor dem Dammbruch betrieb Rodrigues ein kleines Hostel in Brumadinho für Touristen, die das nahe Freilichtmuseum von Inhotim besuchten. Aber nach der Katastrophe quartierte Vale dann seine Aufräumteams bei ihr ein und sie schloss das Hostel.
Der Konzern hat Rodrigues nun umgerechnet 155.000 Euro als Entschädigung für den Verlust ihres Vaters angeboten – so wie allen unmittelbaren Familienangehörigen von Todesopfern. Das Angebot, das Vale mit der Staatsanwaltschaft ausgehandelt hat, kam mit dem Hinweis, es lieber anzunehmen als jahrelang zu prozessieren. Rodrigues hat es ausgeschlagen. „Ich will nicht, dass Vale glaubt, dass danach alles gut sei. Es wäre wie Ablasshandel, ich will mir nicht die Hände schmutzig machen“, sagt sie.
Rodrigues hat die Überreste ihres Vaters bestattet. Aber von elf Menschen fehlt bis heute jede Spur. Auf einer der Kirchenbänke sitzt Natália de Oliveira, sie ist Mitte 40, starrt vor sich hin. Sie hat ihre Schwester Leicilda verloren, die drei Jahrzehnte lang bei Vale als Technikerin arbeitete. Sie gilt offiziell als vermisst, die Feuerwehrleute, die seit einem Jahr mit Spürhunden über die Erdmassen ziehen, haben bis heute nichts von ihr gefunden.
Schluchzend sagt Natália de Oliveira in die Runde: „Wie sollen wir ohne Beerdigung ein neues Kapitel aufschlagen?“ Es ist die Geste des Abschiednehmens, die ihr fehlt. Asche zu Asche, Staub zu Staub. „Ich möchte nicht, dass der Schlamm zum Grab meiner Schwester wird!“ Brumadinho, so scheint es in diesem Moment, ist ein tief traumatisierter Ort. Es gibt kaum jemanden in der Stadt mit 40 000 Einwohnern, der nicht zumindest jemanden kannte, der in der Mine umkam. Es verwundert daher nicht, dass die Zahl der Selbstmordversuche stark angestiegen ist und der Verkauf von Antidepressiva sich 2019 um 56 Prozent erhöhte.
Was die Menschen besonders verbittert: Vale hatte die Stabilität des Damms kurz vor dem Desaster prüfen lassen. Im Juni und September 2018 wiesen Gutachter des deutschen TÜV Süd den Wall der Mine Feijão als stabil aus. Die Münchner Prüforganisation war 2012 in den brasilianischen Markt für die Zertifizierung von Minen eingestiegen und hatte eine Filiale in São Paulo eröffnet. Zwei TÜV-Süd-Mitarbeiter sagten später aus, dass Vale Druck auf sie ausgeübt habe, damit sie zu einer positiven Evaluation kämen. Sie erfüllten Vale den „Wunsch“. Offenbar wollte der TÜV Süd einen gut zahlenden Kunden zufriedenstellen und dessen Aufträge nicht verlieren. Tatsächlich hatte sich nur kurz zuvor ein anderes Unternehmen geweigert, die Sicherheit des Damms zu zertifizieren, woraufhin Vale den TÜV Süd beauftragte.
Wegen der Vorgänge hat Brasiliens Staatsanwaltschaft nun gegen elf Vale-Verantwortliche, darunter Ex-Präsident Fábio Schvartsmann, sowie fünf Mitarbeiter des TÜV Süd Anklage wegen Totschlags erhoben. Gegen den TÜV Süd läuft zudem eine Zivilklage vor dem Landgericht München. Rund 900 Bewohner von Brumadinho, darunter Marcella Rodrigues, klagen dort auf Entschädigung. „Wir suchen in Deutschland nach Gerechtigkeit“, sagt Marcella Rodrigues, „weil wir glauben, dass die Justiz im Ausland strenger und schneller ist. Wir wollen, dass die Verantwortlichen bezahlen.“
Vom TÜV Süd heißt es dazu, dass man, sich zu laufenden Ermittlungen nicht äußere. „Auch ein Jahr nach dem Unglück sind die Ursachen des Dammbruchs noch nicht abschließend geklärt“, teilt das Unternehmen auf Anfrage dieser Zeitung mit.
Das Verhalten von Vale und TÜV Süd ist umso erstaunlicher, weil man gewarnt hätte sein müssen. Im November 2015 war der Damm einer Eisenerzmine bei der Stadt Mariana gebrochen, 120 Kilometer von Brumadinho entfernt. Verantwortlich waren Vale und der anglo-australische Konzern BHP Billiton. Die Schlammlawine begrub 19 Menschen und verseuchte den 850 Kilometer langen Fluss Rio Doce, die Lebensader einer riesigen Region. Der Dammbruch von Mariana gilt heute als größte Umweltkatastrophe Brasiliens. Aber bis heute wurde kein Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen.
Es hat auch damit zu tun, dass die Politik sich zahm gegenüber dem Konzern gibt. Vale ist der größte Eisenerzproduzent der Welt, er beliefert etwa China mit dem Rohstoff, der in der Stahlherstellung gebraucht wird. Allein im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais – hier liegen Brumadinho und Mariana – betreibt Vale Dutzende Minen und ist ein wichtiger Arbeitgeber. Folglich traut sich kaum ein Politiker, den Konzern stärker in die Verantwortung zu nehmen und schärfere und kostspielige Sicherheitsgesetze zu erlassen.
Vales Selbstverständnis machte Ex-Präsident Schvartsman deutlich. Nur sechs Tage nach dem Desaster traf er Brasiliens Generalbundesanwältin und sagte, dass Vale „ein brasilianisches Juwel“ sei. Die Firma dürfe nicht für „einen Unfall“ verurteilt werden, so groß er auch gewesen sein möge.
„Unsere Juwelen sind die 272 Menschen, die Vale umgebracht hat“, sagt Marina Oliveira in der Kirche. Sie spricht auch nicht von „Unfall“, „Ereignis“ oder „Krise“ wie die brasilianische Presse und die Vale-Verantwortlichen. Sie sagt: „Verbrechen“. Die Schlammlawine habe ihre Freunde zerfetzt. „Sie hat Brumadinho das Wasser, die Felder und den Frieden geraubt. Die Vale-Manager müssen verurteilt werden.“
Hinter der Forderung steckt die Überlegung, dass einzig Gefängnisstrafen für die Konzern-Manager abschreckende Wirkung hätten. Denn Entschädigungszahlungen sind für Vale problemlos zu verkraften. Im dritten Trimester machte der Konzern schon wieder einen Profit von umgerechnet knapp 1,5 Milliarden Euro. Vales Aktienkurs erholte sich nach einem kurzen Katastrophentief schnell.
Einen Tag vor dem Dammbruch hatte Oliveira ihr Studium der Internationalen Beziehungen abgeschlossen und bereits die Koffer gepackt. Sie wollte ihren ersten Job bei einer Unternehmensberatung in Kolumbien antreten. Als sich die Nachricht der Katastrophe verbreitete, rief sie ehemalige Mitschüler an, die in der Mine arbeiteten. Keiner antwortete. Oliveira blieb in Brumadinho.
Sie traf sich mit den verzweifelten Angehörigen von Toten; mit Kleinbauern, die ihre Felder verloren hatten; mit Indigenen, die am Fluss Paraopeba leben, der seit dem Dammbruch verseucht ist. Ihr Charisma öffnete ihr Türen und Herzen, und sie wurde schließlich von der Diözese in Belo Horizonte angestellt und vom deutschen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützt, das auch die Recherche zu diese Reportage ermöglichte. Es gelang ihr, eine lebendige Opferbewegung ins Leben zu rufen, die mit Demonstrationen und Presseterminen Druck auf Vale ausübt und gleichzeitig Trauerarbeit leistet. „Jeder alleine für sich ist schwach“, sagt sie. „Wir sind nur stark, wenn wir uns nicht auseinanderdividieren lassen.“
Dass Oliveira dem Weltkonzern nicht gleichgültig ist, wurde ihr auf einer UN-Konferenz über Bergbau in Chile bewusst. Oliveira war eingeladen worden, sprach über Brumadinho. Anschließend meldete sich eine Frau aus dem Publikum und schwärmte von den tollen Dingen, die Vale heute in Brumadinho tun würde. So zahle Vale etwa 107 000 Menschen der Region ein Jahr lang einen brasilianischen Mindestlohn von umgerechnet 250 Euro. Die Frau war von Vale gesandt worden. Einmal bot das Unternehmen Oliveira sogar einen Job an. Sie lehnte ab. „Früher träumte ich wie alle jungen Menschen in Brumadinho davon, für Vale zu arbeiten“, sagt sie. „Der Konzern dominierte hier alles, sogar das Denken. Nun hat er Brumadinho zerstört und glaubt, es sei mit Geld wiedergutzumachen.“
Marina Oliveira ist überzeugt davon, dass schon bald der nächste Damm brechen werde. Dass glaubt auch der Ex-Chef der Umweltschutzbehörde von Minas Gerais. Julio Cesar Dutra Grillo hatte einen Monat vor der Katastrophe vergeblich vor einem Dammbruch in Brumadinho gewarnt. Nach dem Amtsantritt des ultra-rechten Präsidenten Jair Bolsonaro wurde er seines Postens enthoben. Er sagt heute, dass mindestens 300 Dämme in Minas Gerais unsicher seien.
Als man am Abend in Brumadinho den Fernseher einstellt, läuft ein Werbeclip. Eine forsche Männerstimme sagt, dass Vale die Eliminierung von acht Rückhaltebecken plane, die dem in Brumadinho glichen. „Wir wissen, dass es viel zu tun gibt“, heißt es. „Und wir werden weiterhin viel tun.“ Für Marina Oliveira und die Opfer von Brumadinho mag das eher wie eine Drohung klingen.