Um sechs kommt Richard Morse auf die Veranda und bestellt Eier mit Tabasco-Sauce. Eine amerikanische Reporterin nähert sich und will wissen, was er denn nun mit seinem Hotel vorhabe. „Ich werde es am Meer neu aufbauen“, antwortet Morse. Todernst.
„Oh, really“, quietscht die Amerikanerin. „Yes“, sagt Morse, zwei Meter groß, langer Zopf, blauer Anzug, somnambuler Blick, Bass-Stimme. Es ist klar, dass er mal wieder keine Lust hat, mit Journalisten zu reden. Er schaut auf seinen piepsenden Blackberry, sagt: „Sorry, der Präsident.“ In der Auffahrt steht eine dunkle Limousine mit laufendem Motor. Seit Mai 2011 ist Morses Vetter Staatschef von Haiti und er sein Berater.
Der Mann, der dann wegbraust, ist nicht der erste exzentrische Chef im Oloffson. Und er ist auch nicht der Erste, der in der haitianischen Politik mitmischt. Aber so lange wie Richard Morse hat es bisher keiner an der Spitze des berühmtesten und berüchtigtsten Hotels der Karibik ausgehalten.
Man muss ihm dafür unendlich dankbar sein.
Dass er sich das seit mehr als 25 Jahren antut. Ein großes schiefes Herrenhaus mit Türmen, Balkons und Holzschnörkeln, zwei Stockwerke, knackende Dielen, ausgeleierte Ventilatoren, blätternde Farbe, zersprungene Kacheln, Salamander im Bad und krähende Gockel im verwilderten Garten. Und das mitten in der kaputtesten Stadt der Welt, die in Müll und Armut zu versinken droht. Aber gibt es einen magischeren Ort in Port-au-Prince als das Oloffson? Einen, an dem die unglaubliche und traurige Geschichte Haitis so greifbar wird und sich immer zu wiederholen scheint? Ein Hotel wie das Land: zersaust, zäh, nicht unterzukriegen.
Die Story mit Richard Morse begann im Winter 1985/86, als er eigentlich nur aus New York nach Haiti gekommen war, um Gras zu rauchen und Songs für seine Punkband The Groceries zu schreiben. Doch dann verjagten die Haitianer den Diktator Jean-Claude Duvalier und vermasselten ihm die Ferien. Morse war 29 Jahre alt, Sohn eines Yale-Professors und der haitianischen Sängerin Emerante de Pradines. Diese war in erster Ehe mit einem gewissen Max Sam verheiratet gewesen. Den Sams gehörte das Grand Hotel Oloffson, das gerade leer stand, und Richard ließ sich von Max überreden, den maroden Bau zu übernehmen. Ein Voodoo-Priester bestärkte ihn in der Entscheidung. Im November 1987 eröffnete Morse dann das Haus im noblen Stadtteil Pacot neu – drei Wochen vor den ersten freien Wahlen in Haiti seit 30 Jahren. Morse nahm es gelassen: „Wenn’s friedlich bleibt, kommen Touristen. Wenn Gewalt ausbricht: Journalisten.“ Es gab Gewalt, 30 Menschen starben, und sogar die vier Reporter, die im Oloffson wohnten, wollten wieder fort.
Wenn man heute auf der Hotelveranda steht, schmirgelt und stöhnt die Stadt hinter den großen Palmen im Garten. Durch die Baumstämme hindurch kann man den Präsidentenpalast erkennen, der wie ein erlegtes Tier am Boden liegt. Dahinter leuchtet still und tiefblau der Golf von Gonaïves in der Morgensonne. Südlich des Meeres erstreckt sich die Ebene von Léogâne. Hier verschoben sich am 12. Januar 2010 in einer Tiefe von 17 Kilometern die karibische und die nordamerikanische Platte zwei Meter gegeneinander, was an der Erdoberfläche ein heftiges Stoßen auslöste und große Teile von Port-au-Prince zerstörte. So gut wie alle Hotels im Zentrum brachen zusammen, und selbst im höher gelegenen Pétionville erwischte es das fünfstöckige Montana, die erste Adresse der Stadt, in dem die gesamte Führung der Vereinten Nationen logierte. Aber ein Hotel stand noch in Downtown Port-au-Prince: Das Oloffson. Ausgerechnet. Die Einheimischen hatten es natürlich schon immer gewusst: Auf dem Haus liegt ein Zauber.
Seitdem kommen sie wieder, die Reporter, Katastrophenhelfer, Geschäftsleute, Gauner und Glücksritter, belegen die zehn Zimmer und drei Suiten, essen Avocado-Sandwiches auf der Terrasse, trinken Rum-Punsch an der Mahagoni-Bar und lassen sich von Richard Morse erzählen, wie das war, als von seinem kleinen verrümpelten Büro die ersten Fotos des Bebens in die Welt gesendet wurden, weil hier das Internet seltsamerweise noch funktionierte. Oder wie irgendwann tausende Menschen seine stündlichen Twitter-Einträge verfolgten. Vielleicht aber wälzen sich die Gäste auch schon in ihren durchgelegenen Betten und lauschen den Geistern der Vergangenheit, die über die Flure huschen: Marlon Brando, Truman Capote, Jacqueline Kennedy, John Barrymore und Paulette Goddard. Auch Mick Jagger schlief schon hier, aber der lebt ja noch.
Das Oloffson wurde um 1900 im viktorianischen Zuckerbäckerstil errichtet, und sein Erbauer hatte alles andere als ein Hotel im Sinn. Demosthenes Sam wollte Exklusivität. Sein Vater war gerade Präsident des Landes geworden, und er beauftragte einen französischen Architekten mit dem Bau einer Familienresidenz. Nachdem die Sams aber in das Haus eingezogen waren, verließ sie das Glück. 1915 trat Demosthenes’ Bruder das Präsidentenamt an und befahl die Exekution von 170 Oppositionellen. Darüber war das Volk so erzürnt, dass er Zuflucht in der französischen Botschaft suchen musste. Dort spürte ihn der Mob auf, und er wurde auf der Toilette erschlagen. Das rief die USA auf den Plan. Sie fürchteten, dass Haiti eine dem deutschen Kaiser zugeneigte Führung bekommen könnte, weil auf der Insel einige hundert deutschstämmige Familien lebten. Und so taten die USA, was sie fortan immer taten, wenn ihnen die Lateinamerikaner zu selbstständig wurden: Sie schickten die Marines. Die Soldaten beschlagnahmten die Villa der Sams, verwandelten sie in ein Militärhospital und bauten eine Schwangerschaftsabteilung an. Sie trieben zudem einen Billardtisch aus Mahagoni auf, der in seinem zweiten Leben eine berühmte Bar wurde.
Nach 20 Jahren zogen die US-Marines wieder ab, aber die Sams wollten ihr Haus nicht mehr. Sie verpachteten es an den deutsch-schwedischen Kapitän Werner Gustav Oloffson, der es in ein Grand Hotel verwandelte. Port-au-Prince war damals ein beschaulich-bunter Karibikhafen, die Bedingungen für den Tourismus schienen ideal zu sein. Nun brach jedoch der Zweite Weltkrieg aus, und kaum war er wieder vorbei, war Werner Gustav gestorben. Seine Frau verkaufte die Pacht an einen Börsenmakler von der Wall Street, der seine Gäste leicht befremdete, als er Krokodile im Hotel-Pool hielt und – so will es die Legende – von der Terrasse auf sie schoss. 1954 überließ er das Oloffson dem französischen Fotografen Roger Coster. „Wir verkaufen hier keine Betten, wir verkaufen Ambiente“, sagte der. Das kam an. Mit Coster und seiner haitianischen Frau begann die Ära der Prominenten im Oloffson. Künstlern und Journalisten gewährten sie Rabatte, aber wichtiger noch: Sie stellten einen Barkeeper ein, der den besten Rum-Punsch der Karibik mixte: starker haitianischer Rum, Maraschino, Orangensaft, Zitronensaft, Rohrzucker.
Allerdings hatten die Costers nicht mit François Duvalier gerechnet. Der übernahm 1957 die Macht in Haiti und errichtete eine paranoide Diktatur. Er nannte sich „Jesus und Gott zugleich“ und wurde von den USA hofiert, er war nämlich Antikommunist. Er ließ auch 30 000 Menschen umbringen und erprobte innovative Folterpraktiken. Touristen ließen sich damit nicht anlocken, da mochten die Rabatte noch so großzügig sein. „Die Sache stinkt“, entschied Coster und überließ die Pacht 1960 dem Geschäftsmann Al Seitz.
Zu dessen ersten Gästen zählte der Schriftsteller Graham Greene, der sogleich begann, seine Erfahrungen niederzuschreiben. „Die Stunde der Komödianten“ spielt in dem Tropenhotel Trianon, dessen beste Jahre mit rumsüchtigen Gästen und Nackten im Pool vorbei sind. „Es schien zerbrechlich und hübsch und absurd, wie eine Illustration aus einem Märchenbuch“, beschrieb Greene das Haus, dessen Vorbild eindeutig das Oloffson war. Seine Räuberpistole um den sarkastischen Hotelbesitzer wurde später mit Richard Burton und Elizabeth Taylor verfilmt. An einer Stelle im Buch heißt es, dass das Hotel trotz ausbleibender Gäste geöffnet zu bleiben habe: „Man konnte ja nie wissen, ob sich nicht ein paar Journalisten herverirrten, um eine Reportage über ,Die Albtraum-Republik’ zu schreiben.“
Journalisten, die über eine Albtraum-Republik berichten? Gerade sitzt ein britischer Kollegen auf der Terrasse und hackt die Story einer Vergewaltigung in einem Flüchtlingscamp in seinen Laptop. Ein anderer schickt einen Bericht über gewaltsame Proteste gegen die UN-Truppen an seine Agentur. Daneben sichtet ein Fotograf Bilder von Cholera-Toten.
Als Richard Morse am Mittag aus der Stadt zurückkehrt, ist er wütend: „Haiti ist wie ein Straßenkind, das jeder missbrauchen darf. Besonders die USA.“ Vieles kommt zusammen: Die US-Regierung, die Haiti drängt, den Mindestlohn nicht auf 60 Cent anzuheben, damit US-Textilfirmen weiter für 24 Cent die Stunde produzieren können. Die als Lebensmittelhilfe getarnten Getreidelieferungen, die die haitianischen Bauern ruinieren. Oder die Hilfsagentur USAID, die vor allem US-Firmen Aufträge zuschanzt und so „Entwicklungshilfe“ für die US- Wirtschaft betreibt.
Da versteht man dann, warum Morse Fragen nach dem Oloffson nur noch ironisch beantwortet. Es gibt Wichtigeres. Geld für Renovierungsarbeiten sei jedenfalls keins da. Und so bleibt das Haus eine abgewetzte Schönheit, über die in den Reiseführern steht: „morbider Charme“. Das Hauptgebäude hat Morse mit haitianischer Kunst vollgestopft. An den Wänden hängen Voodoo-Flaggen und historische Fotos. Auf den Vitrinen stehen Blechautos, die Kinder in den Slums gebastelt haben. An der vor Papier überquellenden Rezeption dösen die beiden Empfangsdamen. Die 100 Dollar pro Tag zahlt man hier nicht für Komfort, sondern dafür, dass man die halbe Nacht unter dem blinden Spiegel an der Bar sitzen kann, neugierig beäugt von Jean-Jacques Dessalines, dem ersten schwarzen Kaiser Haitis in Pappmaché mit Hut und Fliege. Oder um donnerstags bei einem der abgedrehten Konzerte der Hausband RAM dabei zu sein. In der Hotellobby tanzt dann bis zum Sonnenaufgang eine ekstatische Meute. Die Konzerte funktionieren wie Stimmungs-Seismografen. Manchmal stehen fast nur Militärfahrzeuge vor der Tür, dann wieder mehr Geländewagen der Hilfsorganisationen oder der kleinen haitianischen Mittelschicht. Und manchmal bläst Morse das Konzert kurfristig ab, weil unten in der Stadt wieder einmal Unruhen herrschen.
Richtig leer ist das Oloffson aber nur, wenn in Haiti nichts passiert, was im Westen wichtig erscheint: keine Putsche oder Katastrophen zum Beispiel, an denen die Hilfsorganisationen verdienen könnten. So wie in den Sechzigern, als Al Seitz und Graham Greene ein Essay mit dem Titel verfassten: „Die Kunst, ein leeres Hotel zu führen.“
Der Leerstand endete 1971: Diktator François Duvalier starb und sein Sohn Jean-Claude übernahm mit 19 Jahren den Diktatorenposten, widmete sich aber vor allem seinem Playboy-Dasein. Die politische Lage entspannte sich, und das Oloffson erlebte seine Blüte mit Gästen von Jackie O. bis Jagger. Zu der Zeit erfreute sich Haiti auch einer gewissen Beliebtheit im Westen, weil man sich hier unkompliziert scheiden lassen konnte.
1982 starb Al Seitz und seine Frau hatte alleine mit der Instandhaltung des riesigen Hauses zu kämpfen. Ein Associated-Press-Bericht über das Oloffson von 1983 begann so: „Abends schlürfen Wolkenkuckucksheimer ihren Rum-Punsch an der Bar und schauen zu, wie das Badezimmer der Anne-Bancroft-Suite sich langsam dem Piano entgegensenkt. Tagsüber schlürfen sie Rum-Punsch am Pool und beobachten ahnungslose Oloffson-Novizen, die rückwärts aus dem Hotel stolpern und ihre Reisebüros verfluchen. Al Seitz, dessen Motto ,Der Gast hat immer unrecht’ war, hat dem Grand Hotel Oloffson eine loyale Anhängerschaft beschert. Jetzt ist er tot.“
Seitz’ Witwe schloss das Oloffson 1986. Haiti stand im Zentrum der aufkommenden Aids-Epidemie, US-Grenzer berührten haitianische Pässe nur noch mit Handschuhen. Außerdem hatte mit dem Ende der Duvalier-Diktatur die blutige Auseinandersetzung um die Macht begonnen. Das Oloffson wurde verrammelt und die gesamte Einrichtung verkauft, sogar die Lichtschalter. Doch zur Wiedereröffnung ein Jahr später hatte Richard Morse die Originaltheke aus Mahagoni wieder aufgetrieben, dazu den passenden Barkeeper. Und er verschaffte dem Hotel weitere Wettbewerbsvorteile: ein Fax-Gerät und Telefone auf jedem Zimmer. Das schätzten die Reporter, internationalen Helfer und UN-Leute. Touristen kamen nun keine mehr. Vielleicht begann Morse deshalb das Haus zu vernachlässigen. „Ich habe es nicht gesucht, es hat mich gefunden“, sagt er entschuldigend.
1990 gründete Morse die Band RAM, eine verrückte 18-köpfige Combo mit Trommlern, Bläsern und Tänzern, die traditionelle Musik mit Pop und Karneval mixt. Sängerin wurde die Voodoo-Priesterin Lunise, die Morse später heiratete. Gemeinsam machten sie RAM zum Sprachrohr gegen die diversen autoritären Regimes, die Haiti in den letzten 25 Jahren regierten. Das Oloffson war ihre Bühne – und wurde ihr Asyl, wenn sie sich verfolgt fühlten oder gar Morddrohungen erhielten.
Am Abend donnert ein Tropengewitter über Port-au-Prince hinweg. Die Straßen verwandeln sich in Sturzbäche, der Regen trommelt und hämmert, die Bäume knacken im Sturm. „Ich habe mehr als 20 Regierungen erlebt“, sagt Richard Morse. „Ich habe zwei US-Invasionen, verschiedene halbe Bürgerkriege und eine Menge Zerstörung und Leid gesehen. Aber niemals war es so heftig wie nach dem Beben“. Er ist trotzdem geblieben, obwohl er einer der wenigen Haitianer ist, die problemlos das Land verlassen könnten. „Was soll ich woanders?“, fragt er. Morse hat ein Lied über die Katastrophe geschrieben: „Guten Morgen, Frau Wetter. Was hast Du mir angetan? Wo ist meine Mutter, wo ist mein Vater, wo ist mein Bruder? Wo ist meine Kuh, wo ist meine Ziege? Wo sind meine dritten Zähne? Was kann ich in diesem Land noch tun?“
Morse scheint es zu wissen: Der Nation, die bis heute dafür bezahlt, dass sie den einzigen Sklavenaufstand der Welt zustande gebracht hat, eine Stimme geben. Und ein Hotel.