Es ist sieben Uhr in der früh, als sich der Kapuzinermönch Paulo Braghini in ein kleines Boot aus Aluminium setzt, den Außenborder anlässt und den Igarapé de Belém hinauffährt, einen kurvenreichen Fluss, der sich durch das Indigenen-Reservat Évare I im Dschungel des nordwestlichen Brasiliens windet. Kaum ist er losgefahren, öffnet der Himmel seine Schleusen, es blitzt und donnert, und der Fahrtwind schlägt dem 45-Jährigen dicke Tropfen ins Gesicht. Es ist Regenzeit im Amazonasbecken.
Völlig durchnässt nähert sich Braghini schließlich nach zwei Stunden Fahrt dem Dorf Nova Jutaí. Dort leben rund 100 Indigene vom Stamm der Tikuna, und als die ersten von ihnen winkend am Ufer auftauchen, strahlt Braghini und all die Strapazen scheinen vergessen. Der Italiener ist seit 16 Jahren Missionar in den Reservaten Évare I und II, die zusammen drei mal so groß sind wie das Saarland. Durch ihre Mitte fließt der mächtige Rio Solimões, der 1000 Kilometer flussabwärts mit dem Rio Negro zum Amazonas verschmilzt. In den Dörfern der Region ist Braghini eine kleine Attraktion geworden, was damit zu tun haben mag, dass er seine Arbeit mit so viel Elan, Leidenschaft und Begeisterung macht, dass es ansteckend wirkt.
Als Braghini in Nova Jutaí anlegt, wartet bereits das ganze Dorf auf ihn. Ein Schwarm jubelnder Kinder führt den großgewachsenen Mönch wie eine Trophäe ins Dorf und zerreißt dabei einen Ärmel seiner Kutte. Jeder möchte etwas von dem 45-Jährigen abhaben, selbst sein roter Bart ist nicht vor den Kinderhänden sicher. Im Gesicht trägt der gebürtige Lombarde noch die Bemalung, die ihm die Ureinwohner eines anderen Dorfs verpasst haben; um seinen Hals baumelt eine Kette aus Pflanzensamen.
Von Kindern umringt, betritt Braghini Nova Jutaí, das aus einem Dutzend Holzhäusern besteht. Sie wurden auf Stelzen errichtet, damit sie in der Regenzeit nicht im Schlamm versinken. Dahinter beginnt schon der Dschungel, aus dem ab und zu das Kreischen von Vögeln zu hören ist. Braghini ist nach Nova Jutaí gekommen, weil er das Patronatsfest zu Ehren der Maria Verkündigung feiern will. Außerdem möchte er erfahren, wie Nova Jutaí durch die Corona-Pandemie gekommen ist.
Braghini stattet dem ältesten Mann von Nova Jutaí einen Besuch ab. Der 71-jährigen Hortênsio Antônio gründete das Dorf vor 45 Jahren – und war nun einer von vier Menschen, die an Covid-19 erkrankten. Er hat seine eigene Erklärung, wie es dazu kam. „Das Virus befiel mich beim Fischen“, sagt er in seiner Sprache, dem Tikuna. Während er berichtet, sitzt er in einer Hängematte inmitten eines Holzhauses, in dem es fast keine Möbel gibt. Ein paar Schemel stehen herum, aber Betten, Tische und Schränke sucht man vergeblich. Die Tikuna sitzen meistens auf dem Boden, sie schlafen in Hängematten oder auf Bastmatten.
„Als ich mit meinem Kanu zurück ins Dorf paddelte, spürte ich, wie das Fieber in mir aufstieg“, erzählt Antônio weiter. „Es war Corona.“ Der alte Mann assoziiert den Beginn der Symptome mit dem Zeitpunkt der Infektion. In der Vorstellung der Tikuna haben Krankheiten einen Herrn. Antônio glaubt, dass der Herr des Virus’ ihn auf dem Fluss heimsuchte.
Trotz seines Alters ist Antônio ein agiler Mann geblieben, er hat volles schwarzes Haar und wache Augen. Einzig seine fehlenden Vorderzähne deuten auf seine fortgeschrittenen Jahre hin. Er muss nun die Stimme etwas heben, weil wieder starker Regen aufs Wellblechdach prasselt. Zwischen Januar und Juni gehen täglich schwere Platzregen nieder, und die Flüsse treten über die Ufer. Auf die Temperaturen hat der Regen jedoch kaum Auswirkungen, sie liegen immer zwischen 22 und 33 Grad, weswegen die Indigenen meist T-Shirts und kurze Hosen tragen. Ihre Füßen trauen sie wie die Mehrheit der Brasilianer Flipflops an, so auch Antônio.
Es liegt nun schon einige Monate zurück, dass er sich mit Covid-19 infizierte, und die Erkenntnisse über das Corona-Virus sprechen natürlich dafür, dass er sich nicht auf dem Fluss, sondern im Dorf infizierte, möglicherweise bei einem Bewohner, der im nächsten größeren Ort gewesen war. Einige Tage habe er sich schlecht gefühlt, dann ging es ihm besser, sagt Antônio.
Tote gab es in Nova Jutaí nicht, die Siedlung kam gut durch die Pandemie. Paolo Braghini hat eine interessante Erklärung dafür: „Die dörfliche Gemeinschaft ist intakt. In der Pandemie hörten die Dorfbewohner auf den Kaziken, ihren Bürgermeister, und verließen nur in dringenden Fällen das Dorf. Sie trugen Masken, keiner scherte aus. Die indigene Tradition stärkte das Dorf.“
Mittlerweile ist Hortênsio Antônio geimpft – so wie alle Indigenen in den Évare-Reservaten. Paolo Braghini ist darüber sehr erleichtert: „Ich kann meine Gemeinden wieder besuchen.“
Der Weg des Italieners in den Dschungel Brasiliens führte über Frankreich. Braghini vernahm den Ruf Gottes als junger Mann im Wallfahrtsort Lourdes. „Lass alles zurück und folge mir!“, habe eine Stimme zu ihm gesagt, berichtet er. Er trennte sich von seiner Verlobten und ging zum Studium nach Assisi, dem Wirkungsort des Heiligen Franziskus. Dort lernte er einen alten Mönch kennen, der lange im Amazonas gewirkt hatte, und so erwachte auch bei ihm der Wunsch, dorthin zu gehen.
Heute sagt der Kapuziner, dass er in all den Jahren etwas begriffen habe: „Wir machen Missionsarbeit mit den Indigenen, aber sie missionieren uns. Sie leben die Einfachheit, die Brüderlichkeit und die Fröhlichkeit von Franziskus. Immer wenn ich nach Europa reise, merke ich, wie weit ich mich von unserer westlichen Kultur entfernt habe, all diese Formalitäten. Die Indigenen hören deine Worte, aber sie achten darauf, was dein Herz sagt.“
Als der Regen in Nova Jutaí nachlässt, zieht die Gemeinde in die kleine grün gestrichene Holzkirche ein. Liebevoll haben die Indigenen sie mit Palmblättern und Blumen geschmückt. Der Gottesdienst beginnt mit einem schwungvollen Lied auf Tikuna. Dann begrüßt Bruder Paolo die Gemeinde: „Numagüẽ!“ – Guten Tag! Immer wieder streut er witzige Bemerkungen in der indigenen Sprache in seinen Gottesdienst ein und die Gemeinde auf den vollbesetzten Bänken lacht.
Beim Abendmahl lobt Bruder Paolo Nova Jutaí. „Ich komme in viele Dörfer“, sagt er. „Ich sehe lebendige und schöne Gemeinden, und ich sehe zerrissene und nicht so schöne Gemeinden. Nova Jutaí ist eine sehr schöne Gemeinde.“ Da klatschen alle.
Paolo Braghini betreut rund 100 indigene Dörfer, manche erreicht er nur nach tagelangen Bootsfahrten. Dabei hat er gemerkt, dass der Zusammenhalt, wie es ihn in Nova Jutaí gibt, vielerorts brüchig geworden ist. „Viele Indigene verlieren ihre Identität“, sagt er. Eine Mitschuld sieht er bei den evangelikalen Sekten, die sich breit machen. „Sie sagen den Indigenen, dass ihre Sprache, ihre Medizin und ihre Musik des Teufels seien. Viele Indigene glauben das und verlieren den Halt.“ Braghini versucht dem etwas entgegenzusetzen, indem er zeigt, wie sehr er die indigene Kultur schätzt.
Bevor der Kapuziner Abschied nimmt, wird zum Essen im nach allen Seiten hin offenen Gemeindehaus gebeten. Zur Feier des Tages soll es ein Wildschwein geben, das die Männer im Wald geschossen haben. Dort erlegen sie auch Affen und Hirsche. Oder sie fischen auf dem Igarapé de Belém, in dem sie Netze auslegen. Alle Familien haben zudem kleine Felder auf gerodeten Waldflächen, wo sie Kochbananen und Maniok anbauen. Aus den Maniokwurzeln stellen die Frauen ein Mehl her, dass sie in großen Pfannen über Holzfeuern rösten. Wichtig für die lokale Wirtschaft sind auch die Amazonasfrüchte Cupuaçu und Açaí, deren Saft und Fruchtfleisch auf dem Markt in Tabatinga verkauft wird, einer fünf bis sechs Bootsstunden entfernten Grenzstadt zu Kolumbien. Einige Familien stellen zudem Besen und Körbe her.
Zum Unterhalt des Dorfes trägt auch die Sozialhilfe Bolsa Familia bei. Davon kaufen die Tikuna Reis, Zucker und Salz, aber auch Konsumgüter wie Seife, Küchengeschirr und Handys. Zwar gibt es kein Mobilfunknetz in Nova Jutaí, aber Selfies machen auch die Tikuna gerne. Den Kontakt zur Außenwelt halten sie über Funk, der Strom kommt von einem Generator, der ab und zu angeworfen wird und laut dröhnt.
Endlich wird das Signal gegeben. Das Wildschwein, dass mehrere Stunden lang in einem großen Topf über dem Feuer gekocht hat, ist fertig. Dazu werden Reis und Maniok serviert. Die Gemeinde sitzt palavernd beisammen und isst das rustikale Mahl mit den Händen, auch Bruder Paolo.
Es ist schon dunkel als der Kapuziner an diesem Abend in Belém do Solimões eintrifft, das am Ufer des gleichnamigen Flusses liegt. Mit drei Glaubensbrüdern lebt er in einem bunt gestrichenen Holzhaus. Jeder der Mönche bewohnt ein kleines Zimmer, es gibt eine Gemeinschaftsküche und als größten Luxus einen Fernseher, über den die Abendnachrichten flimmern, als Braghini die Tür aufstößt.
Belém do Solimões ist mit rund 5000 Tikuna die größte indigene Siedlung Brasiliens, weswegen sich hier auch einige Probleme potenzieren: der Einfluss evangelikaler Kirchen; der illegale Verkauf von Alkohol; die Gewalt unter Jugendlichen. Umso mehr versuchen die Kapuziner, den Menschen positive Angebote zu machen. Jeden Abend halten sie in einem anderen Viertel einen Gottesdienst ab und ihr Haus steht immer allen offen. Bruder Paolo hat eine Olympiade ins Leben gerufen, zu der Ureinwohner von weither anreisen, um sich in Disziplinen wie Bogenschießen, Kanufahren und Feuermachen zu messen. „Als ich hier ankam, gab es keine Mission. Wir waren damals zu zweit, es war sehr schwierig“, sagt er. „Heute danken uns viele Indigene, dass wir den Ort positiv verändert haben. Wir sind Teil ihrer Familie geworden.“
Am nächsten Tag möchte Bruder Paolo den Schamanen von Belém besuchen, um zu erfahren, wie er die Corona-Pandemie bewältigte. In der Sprache der Indigenen heißen die Schamanen: Pajé. Sie sind spirituelle und medizinische Autoritäten, weil sie sich mit Heilpflanzen, Naturmedizin und den alten Ritualen auskennen. Der Pajé von Belém lebt am Ortsrand und Bruder Paolo muss die letzten Meter zu seinem Haus rennen, weil ein Wolkenbruch niedergeht, der einen Regenbogen in den weiten Himmel zaubert.
Der Schamane heißt Tchopaweẽcü Üegücü. Er ist ein leiser und bescheiden wirkender Mann, sein genaues Alter weiß er nicht, er glaubt, er sei 58 Jahre alt. Weißer Schnabel des Aras – so lautet die schöne Bedeutung seines Namens. Er setzt sich und sein Blick scheint sich auf einen Ort in weiter Ferne zu richten. „Am Anfang der Pandemie wusste ich nicht, ob ich dem Virus gewachsen bin“, sagt er. „Dann träumte ich von einem Boot auf dem Rio Solimões. Darin saß der Herr der Krankheit. Aber ich konnte das Boot auf den Fluss zurückstoßen, weil ich wusste, dass er bittere Medizin fürchtet.“
Der Schamane von Belém empfahl den Menschen damals, Bienenwaben und Harz zu verbrennen und sich mit dem Rauch zu reinigen. Er riet auch zu einem Tee. Die Frau des Pajés holt aus dem Wald Blätter und Kräuter und breitet sie auf dem Boden aus. Tatsächlich haben Studien ergeben, dass ein Tee aus den Blättern des Jambu-Krauts bei Atembeschwerden, wie sie bei Covid-19 auftreten, stark lindernd wirkt.
Rund 150 Menschen erkrankten in Belém an Covid-19, viele von ihnen suchten den Pajé auf. „Die Geister der Kranken flüchteten sich auf die Flüsse, und ich bin dorthin gegangen, um sie wiederzuholen“, sagt er. Zwei Menschen aus dem Ort starben im Krankenhaus in Manaus. Die Mortalitätsrate in Belém liegt damit weit unter der Gesamtbrasiliens.
Schließlich facht die Frau des Pajes ein Feuer an, um darin Waben und Harz zu verbrennen. Alle atmen den Rauch ein, Bruder Paolo besonders intensiv. Zum Abschied umarmt er den Pajé und man spürt den Respekt und die Sympathie der beiden Männer füreinander. Sie sind die religiösen Kompasse von Belém. Beide geben den Menschen eine Orientierung in schwierigen Zeiten.
Diese fehlt eine Bootsstunde von Belém entfernt in dem Ort Sapotal. Die rund 600 Bewohner gehören zu den Kokama, aber anders als die Tikuna spricht keiner von ihnen mehr die indigene Sprache. Im örtlichen Gesundheitsposten arbeitet João Cartilha. „Wir wurden hart von Coroan getroffen“, sagt er. „Die Leute hielten sich nicht an die Regeln. Sie fuhren zum Einkaufen nach Tabatinga. Dutzende infizierten sich und brachten das Virus mit. Vier Menschen starben.“
Einer der Toten war der Vize-Kazike und Gründer der evangelikalen Kirche von Sapotal, Atônio Velas. Er wurde 68 Jahre alt. „Er fuhr nach Tabatinga und kam nicht mehr zurück“, sagt sein Sohn Leodegardo Velas. „Wir konnten ihn nicht einmal begraben.“
Auch in Sapotal wurden die Indigenen gegen Covid-19 geimpft. Aber die Evangelikalen machten nicht mit. „Sie behaupteten, dass die Impfung nicht sicher sei und wiederholte die Lüge, die ihnen die Pastoren erzählten“, , sagt João Cartilha. Jetzt befürchtet er, dass das Virus zurückkehren könne. „Wahrscheinlich noch heftiger als zuvor.“
ENDE