Die Frau möchte nicht, dass ihr richtiger Name veröffentlicht wird. Sie fürchtet sonst Probleme. Die 37-Jährige ist Lehrerin im Gefängnis Gericinó, der größten Strafanstalt von Rio de Janeiro, die wegen ihrer Lage im gleichnamigen Stadtteil oft nur Bangu genannt wird.
Alle möglichen Kriminellen sind in Bangu eingesperrt: Diebe, Mörder und auch der ehemalige Gouverneur des Bundesstaats Rio, der wegen Korruption angeklagt ist. Die meisten Insassen aber sitzen wegen Drogendelikten.
Die Lehrerin, die Maria genannt werden möchte, unterrichtet seit vielen Jahren die Insassen eines Drogenkommandos, sie geht täglich in der Haftanstalt ein und aus. Wie überall in Brasilien sind die Häftlinge auch in Bangu nach ihrer Zugehörigkeit zu rivalisierenden kriminellen Gruppen getrennt. Von den rund 3500 Häftlingen in Marias Abschnitt kommen fünf bis sechs regelmäßig ihn ihren Unterricht. „Sie erhoffen sich Hafterleichterungen“, sagt Maria.
Eigentlich sei ihr Flügel nur für 1500 Insassen ausgelegt. „Aber er ist gnadenlos überbelegt“, berichtet Maria, „die Häftlinge schlafen auf den Korridoren.“ Insgesamt sitzen in Bangu laut offiziellen Zahlen 27.000 Menschen ein, die Bevölkerungszahl einer Kleinstadt. Das Gefängnis ist damit um 200 Prozent überbelegt. Bei seiner Fertigstellung 1987 war es für nur 16.000 Insassen vorgesehen.
Maria sagt, dass in Bangu dieselben Bedingungen herrschten, die in der ersten Woche dieses Jahres in anderen Gefängnissen Brasiliens zu fürchterlichen Massakern geführt haben. Insgesamt 102 Menschen wurden dabei teils bestialisch getötet. Die Massaker haben zu einer Diskussion über die Haftbedingungen in Brasiliens Gefängnissen geführt, der nicht erst seit dieser Woche als katastrophal gelten, aber nun wieder in den Fokus gerückt sind.
In Manaus wurden vor mehr als einer Woche 60 Häftlinge von anderen Insassen ermordet, die meisten wurden verstümmelt, vielen wurden die Köpfe abgeschnitten, ihre Körperteile verteilt, das Blut stand zentimeterhoch in den Fluren. Verantwortlich für das Schlachten war das Drogenkommando Família do Norte (FdN), das die Mitglieder der aus São Paulo stammenden Mafia Primeiro Comando da Capital (PCC) massakrierte. Beide Drogenmafias waren zuvor Verbündete gewesen. Es war das zweitschlimmste Gefängnismassaker in Brasiliens Geschichte. Wenige Tage darauf kam die Rache des PCC. Dessen Angehörige töteten in einem Gefängnis im nördlichen Bundesstaat Roraima 33 Häftlinge. Sie schnitten ihnen teilweise die Herzen heraus und spießten sie auf.
Brasiliens Präsident Michel Temer reagierte auf die Vorkommnisse erst Tage später. Da hatten die Brasilianer sich schon zu Millionen die fürchterlichen Fotos und Aufnahmen der Überwachungskameras von den Massakern im Internet angesehen. Temer sprach von einem „entsetzlichen Unfall“ und sagte den betroffenen Bundesstaaten Hilfe zu, die in der Entsendung von mehr Wachpersonal bestehen soll. Temers Reaktion offenbarte nicht nur die Hilflosigkeit der brasilianischen Politik, sondern auch ihre Ignoranz gegenüber einem Gefängnissystem, das dem organisierten Verbrechen als Rekrutierungsanstalt dient – und darüber hinaus nicht die Sicherheit der Gefangenen garantieren kann. Im Jahr 2016 wurden mindestens 372 Menschen in einem brasilianischen Gefängnis ermordet, also im Durchschnitt mehr als einer pro Tag.
Präsident Temers Staatssekretär für Jugend ließ sich nach dem Massaker in Manaus zu der Aussage hinreißen, dass eigentlich jede Woche ein Massaker wie in Manaus stattfinden sollte, um das Gefängnisproblem zu lösen. Er musste seinen Hut nehmen, gab aber – obwohl er offen Mord empfahl – die Meinung vieler Brasilianer wieder. Die brasilianische Gesellschaft ist – von Gewalt und Kriminalität geplagt – in Fragen öffentlicher Sicherheit zuletzt immer weiter nach rechts gerückt. Es gilt schon als unnötig „politisch korrekt“, wenn man darauf hinweist, dass die Gesetze auch in Brasiliens Gefängnissen zu gelten hätten.
Als eine Ursache für die mörderischen Zustände in Brasiliens Haftanstalten gilt die Überbelegung. 668.000 Menschen sind in Brasilien inhaftiert – nur die USA und China haben mehr Menschen eingesperrt. Aber Brasiliens Haftanstalten sind nur für 395000 Insassen ausgelegt.
„Die Überbelegung führt zu einem Kontrollverlust“, sagt die Gefängnisangestellte Maria in Rio de Janeiro. In ihrem Flügel in Bangu würde die Drogenmafia Comando Vermelho (CV) sich praktisch selbst verwalten. Es ist die größte Drogenmafia Rios. „Die Regeln innerhalb des Knastes gibt der Chef des CV vor“, sagt Maria. „Der Gefängnisdirektor hat sie zu akzeptieren, oder es gibt Chaos.“ Die Häftlinge würden putzen, Müll sammeln, die Essensausgabe organisieren, die Klos, die Elektrizität, die Wasserrohre und sogar die Klassenräume in Schuss halten. Das Gefängnis würde lediglich die Wachen stellen, damit niemand flüchte.
„Es herrscht eine gewisse Ordnung und Disziplin innerhalb der einzelnen Abschnitte“, sagt Maria. „Die Drogengangs glauben, dass sie Widerstand gegen einen Unterdrücker-Staat leisteten, der ihnen den Verkauf von Drogen verbiete. Das schweißt zusammen.“
Das System der Selbstverwaltung führt auch dazu, dass die Häftlinge problemlos Handys ins Gefängnis schmuggeln können, mit denen die inhaftierten Bosse weiterhin Anweisungen nach draußen geben. Auch Hieb- und Stichwaffen seien keine Seltenheit, sagt Maria, ebenso wenig Drogen wie Marihuana und Kokain. Außerdem würden die Drogenkommandos in ihren Flügeln eigene Strafsysteme anwenden. Wer im Abschnitt des Comando Vermelho einen schweren Regelverstoß begehe, dem drohe der Tod. Er könne sich aussuchen, ob er eine Überdosis Kokain nehme oder in den Flügel einer rivalisierenden Mafia abgeschoben werde. Maria hat das solche Situationen schon erlebt. Einmal habe ein Häftling sich einer ihrer Kolleginnen nackt präsentiert und damit gegen den Ethikcode des CV verstoßen. Er sei nie wieder aufgetaucht.
Zwar sind die Angehörigen der verschiedenen Mafias in Bangu in getrennten Flügeln untergebracht, aber wenn ein Kommando das Gefängnispersonal besteche, sei es möglich, dass dieses die Tore zu einem anderen Abschnitt öffne, sagt Maria. Dann sei in Rio ein Massaker wie in Manaus möglich.
Auch in Bangu hat es zuletzt Spannungen gegeben, weil hier das Primeiro Comando da Capital (PCC) mit dem Comando Vermelho gebrochen und sich mit der zweitgrößten Gang Rios verbündet hat. Anders als in Manaus hat der Bruch aber bisher keine Auswirkungen in den Gefängnissen gehabt. In Rio wurden die Angehörigen des PCC ohne Gewalt in einen neuen, vom CV getrennten Abschnitt verlegt.
„Aber es ist alles eine Frage der Strategie“, sagt Maria. Wenn die Drogenkommandos wollten, könnten sie jederzeit die Hölle in Bangu lostreten.