Der Weg zur Kirche führt Joelma Souza durch ein belebte Straße, wie es sie in jeder brasilianischen Kleinstadt geben könnte. Aus Snackbars dröhnt laute Musik, in Schönheitssalons lassen sich Frauen die Fingernägel lackieren, auf dem Bordstein sitzen Familien und palavern in der Abendhitze.
All das wäre nichts Besonders, wenn nicht an einigen Ecken junge Männer mit Pistolen und Gewehren stünden. Auf Plastiktischen verkaufen sie, fein abgepackt, Marihuana und Kokain. „Sie gehören zu einer Drogengang“, sagt Joelma Souza. „Es ist die Realität hier, aber das Vertrauen in Gott macht sie erträglicher.“
Souza ist evangelikale Christin und wohnt im Complexo da Maré, einer der größten Favelas von Rio de Janeiro. Rund 140000 Menschen leben hier dicht an dicht in unverputzten Häuschen zwischen zwei Ausfallstraßen. Mehrere bewaffnete Banden beherrschen die Favela, sie führen untereinander und mit der Militärpolizei Krieg, fast wöchentlich kommt es zu Schießereien. Die Maré, wie sie kurz genannt wird, gilt daher als einer der gefährlichsten Orte Rios.
Gleichzeitig ist sie eine Hochburg der evangelikalen Kirchen. Diese erleben in Brasilien seit mehreren Jahren einen massiven Zulauf und könnten die katholische Kirche in puncto Mitgliederzahl bald überholt haben. Unterwegs zeigt Joelma Souza auf Gebäude, in denen evangelikale Gemeinden zum Gottesdienst rufen. Sie nennen sich „Kirche zum Leben Christi“, „Gemeinschaft Gottes“ oder „Universalkirche“.
Einige dieser Kirchen haben nur ein paar Dutzend Mitglieder, andere Millionen von Anhängern im ganzen Land. Gemeinsam verändern sie die brasilianische Gesellschaft und nehmen Einfluss auf die Politik. Sie machen Brasilien konservativer und abergläubischer, sagen Kritiker. „Ich habe die Wunder des Herrn erlebt“, erwidert Joelma Souza. „Er hat mir ein stabiles Leben und Wohlstand geschenkt.“
Für den Gottesdienst, bei den Evangelikalen „culto“ genannt, hat sich die 35-jährige Souza ein Hosenkleid angezogen und dezent geschminkt. Als wir an ihrer Kirche in einem hallenartigen Gebäude ankommen, fällt das riesige Schild über dem Eingang auf: „Kirche zum Feuertabernakel“. Bis zum Beginn des Gottesdiensts ist noch etwas Zeit, und so erzählt Souza, wie sie evangelikal wurde. Es ist wie so oft die Geschichte einer Rettung.
„Ich fand zum Gott, als ich nicht mehr leben wollte“, sagt sie. Mit 19 Jahren versuchte sie, sich umzubringen und schluckte Rattengift. Danach lag sie zwei Wochen lang im Koma. „Ich dachte, ich sei nichts wert“, sagt Souza. „Mein Leben war nur Schmerz.” Aber im Koma erschien ihr ein Engel, „er sagte zu mir: ‘Du wirst leben!’“
Es war das Ende eines Martyriums, wie es sich in Brasilien erschreckend oft zuträgt. Souzas Mutter konnte nicht lesen und schreiben, ihr Vater war Alkoholiker und gewalttätig. „Er beschimpfte mich und meinen Bruder als Dreck und Tiere“, sagt Souza. „Zwei mal brachte er meine Mutter fast um.“ Schließlich trennte sich Joelmas Mutter von ihm, begann aber, für eine Drogengang zu arbeiten.
Souza selbst musste bereits mit 14 Jahren für ein Restaurant arbeiten, damit die Familie über die Runden kam, danach folgten andere schlecht bezahlte Jobs. „Für uns Arme ist das die Arbeit, die diese Gesellschaft vorsieht“, sagt Souza. „Und wir akzeptieren es. Aber wer Jesus in sein Leben lässt, wird triumphieren.“
Für Souza kam der Wandel, als sie, kaum aus dem Koma erwacht, Thiago kennenlernte. Er nahm sie mit in die Kirche zum Feuertabernakel. „Es war der Beginn eines neuen Lebens“, sagt sie. „So als ob sich Wasser in Wein verwandelt.“
Bei den Evangelikalen begriff Souza, dass sie ein anderes Leben führen muss. „Fern von Gewalt, Drogen und Partys“, sagt sie. „Ohne das viele Bier, das ich trank und ohne die vielen Zigaretten.“ Joelma heiratete Thiago mit 21 Jahren und wurde bald schwanger. Es war die nächste Prüfung, denn sie litt unter einer Infektionskrankheit und es bestand die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Tochter geistig behindert zur Welt käme. „Der Arzt drängte mich, abzutreiben“, sagt Souza. „Aber ich spürte, dass das falsch war.“ Die Geburt ihrer Tochter Samara sei dann ein weiteres Wunder gewesen, durch das Gott sich gezeigt habe. Samara war gesund.
Samara ist heute fast eine Teenagerin und Joelma Souza arbeitet bei einer NGO in der Maré, weil es ihr auch noch gelang, Sozialarbeit zu studieren. Sie klärt Schüler über das Denguefieber auf, das in der Maré virulent ist. „Ich verdiene gut“, sagt sie, umgerechnet 450 Euro. Ihr Mann hat einen Job als Handwerker und zusammen können sie sich eine kleine Wohnung in der Maré leisten. „Ohne Gott hätten wir nichts davon erreicht“, sagt Souza. Sie glaubt, dass sie ohne ihn wahrscheinlich drogenabhängig wäre, sich mit prekären Jobs durchschlagen oder sogar prostituieren würde. „Alles sprach einmal dafür“, sagt sie. „Aber Gott disziplinierte mich.“ Souza ist auch davon überzeugt, dass Gott half, ihre Ehe zu retten. „Wir hatten schlimme Streits“, sagt sie. „Der Glaube führte uns immer wieder zusammen.“
Es sind konkrete Resultate, die für Evangelikale wie Souza entscheidend sind: Familie, Arbeit, sozialer Aufstieg und ökonomischer Erfolg. Als „Ergebnis-Theologie“ oder „Theologie des Wohlstands“ wird das häufig bezeichnet. In der Maré sieht man manchmal Autos mit Stickern, auf denen es heißt: „Gott hat es mir geschenkt.“
Allerdings setzt jeder Gläubige natürlich seine eigenen Schwerpunkte. Zu dem Aufkleber sagt Souza: „Jesus kam zuerst, um unser Joch zu brechen, nicht um uns ein Auto vor die Tür zu stellen. Aber wer ihn akzeptiert, dem öffnet er alle Türen.“
Bei der konservativen Ausrichtung der Kirchen liegt es nahe, dass Politik eine große Rolle spielt. Auch hier gibt es Unterschiede. Vor den letzten Wahlen riefen die Pastoren einiger Kirchen offen zur Stimmabgabe für den rechtsextremen Kandidaten Jair Bolsonaro auf. Bolsonaro hatte die Evangelikalen zuvor gezielt umgarnt. 2016 ließ er sich im Jordan evangelikal taufen, sein Wahlkampfmotto lautete: „Brasilien über alles. Gott über allen.“
Joelma Souzas Kirche war über dem Thema gespalten. „Ich habe ihn nicht gewählt“, sagt Souza. „Einige seiner Aussagen erschraken mich, etwa dass Kriminelle erschossen werden sollen.“ Andere Gemeindemitglieder aber wählten Bolsonaro, darunter auch die Pastorin Regina Santos, die gerade die Stufen zur Kirche nimmt. Die 52-jährige untersetzte Schwarze sagt, dass sie Veränderung wolle. Und ihr gefällt Bolsonaros harte Linie gegen Verbrecher. „Gott schenkte ihm die Wahl, damit er aufräumt“, sagt sie. „Schluss mit der Kriminalität auf der Straße und der Korruption in der Politik.“
Santos meint, dass zu viel Chaos in der Gesellschaft sei: „Die Familien zerfallen, junge Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern, und in der Maré stehen schon 13-Jährige mit Pistolen an den Ecken.“ Sie habe zwar nichts gegen Homosexuelle, aber Gott habe Mann und Frau geschaffen, damit sie eine Familie bildeten. Die Ablehnung der „Gender-Ideologie“ und das Beschwören der traditionellen Familie gehörte zu den Kernthemen von Bolsonaros Kampagne. Damit identifizierten sich viele Evangelikale.
In der Kirche zum Feuertabernakel entschied man schließlich, nicht mehr über Politik zu sprechen. „Die Kandidaten verschiedener Parteien wollten sich vorstellen“, sagt Regina Santos, „aber wir lehnten es ab, weil es für Unruhe sorgte.“
Um 20 Uhr, rund eine halbe Stunde später als geplant, beginnt der Gottesdienst mit einem Lied. Rund 50 Gläubige wiegen sich zwischen den Holzbänken und singen von der Liebe zu Jesus. Am Rande stehen junge Männer und Frauen, die sogenannten „Arbeiter“. Sie kümmern sich um Gläubige, die sich plseelisch oder körperlich schlecht fühlten. Dann umarmen sie sie und halten Hände.
Bald spricht ein junger Mann eloquent und inbrünstig über seinen Weg zum Glauben. Er vergleicht ihn mit der Auferweckung des toten Lazarus’ durch Jesus. Es sei nie zu spät, zu Gott zu finden, ruft er ins Mikrofon. Zwar halte der Teufel ein Leben voller Versuchungen bereit, aber Jesus warte geduldig, um unser Leid zu beenden, das in ständiger Rastlosigkeit bestünde. Er selbst sei früher fast bei einer Drogengang gelandet, viele Freunde von ihm lebten nicht mehr. Die Rede wird begleitet von spontanen Ausrufen der Gläubigen. Auch Joelma Souza ruft „Halleluja“ und „Gloria“
Das Ablegen von Zeugnissen gehört zu den elementaren Bestandteilen evangelikaler Gottesdienste. Die Menschen berichten dann meist, wie Gott sie von einer Krankheiten oder Drogen heilte, wie er ihre Familien wieder zusammenführte und sie reich beschenkte. Gott triumphiert am Ende immer über den Teufel, der überall in der liberalen Gesellschaft lauere.
Nach dem Zeugnis des jungen Mannes werden die Gläubigen um den Zehnten gebeten, damit die Kirche ihre Unterhaltskosten bestreiten könne. Umschläge machen die Runde, in die Geldscheine gesteckt werden. Kritiker sehen darin, ein System unkontrollierter Bereicherung, aber Joelma Souza sagt, dass die Kirche anders nicht existieren könne.
Auf dem Nachhauseweg sagt sie, dass die Geschichte mit Lazaro sie berührt habe. Auch sie sei fast tot gewesen und von Gott gerettet worden. „Er hatte einen besseren Plan für mich!“