Rio de Janeiro brennt. Zunächst einmal in ganz wörtlichem Sinne.
Gegen 21 Uhr lodern am Donnerstag im weitläufigen Zentrum der Stadt Hunderte Feuer: Mülleimer, Barrikaden aus Holz und Abfall, Autos, Bäume, Bushaltestellen und Radargeräte stehen in Flammen. Beißender schwarzer Rauch weht durch die Straßen und vermischt sich dem ätzenden Gestank der Tränengasschwaden. Der Verkehr liegt still, dafür sind überall Gruppen junger, aufgebrachter Menschen unterwegs. Viele halten sich mit Essig getränkte Tücher vors Gesicht, um das Brennen des Tränengases zu lindern, manche tragen Malermasken. Einige Teenager schließen sich spontan zusammen, um leere Gaspatronen sowie die kleinen gelben Gummigeschosse aufzusammeln, die den Boden bedecken.
Dann legen sie eine Brasilienfahne mit dem Spruch „Ordem e Progresso“, Ordnung und Fortschritt, auf den Asphalt und verteilen die Instrumente der staatlichen Gewalt darauf. Ordnung und Fortschritt! Eine junge schwarze Frau steht davor und schreit: „Ihr könnt uns töten, aber ihr könnt nicht unsere Ideale umbringen.“ Fotografen mit Helmen rennen herbei, sie wissen gar nicht mehr, was sie noch fotografieren sollen. Da schießen hinter ihnen die schwarzen Pickup-Trucks von Rios paramilitärischer Eliteeinheit Bope vorbei, auf deren Türen ein grinsender Totenkopf mit gekreuzten Pistolen prangt. Die maskierten Polizisten auf den Ladeflächen haben die Finger am Abzug ihrer Maschinenpistolen und Schrotflinten. Sie werden von den Scheinwerferkegeln der drei, vier Hubschrauber am Himmel verfolgt, aus denen das Fernsehen live in Brasiliens Wohnzimmer berichtet.
Es ist das Ende einer der größten Demonstrationsmärsche, den Rio de Janeiro jemals erlebt hat: von 300.000 Menschen sprechen selbst konservative Medien. Andere nennen eine Millionen Teilnehmer; eine Zahl, die auch den Eindrücken des Reporters näher kommt. Aber es wird nicht das Ende der Massenproteste sein, die Brasilien zurzeit – ja man muss diesen Begriff gebrauchen – bis ins Mark erschüttern. In Hunderten Städten des Landes gingen am Donnerstagabend die Menschen wieder für ein anderes Land auf die Straße. Sie haben Dutzende Forderungen, aber in einem sind sich alle einig: Sie wollen ein gerechteres Brasilien: ohne Korruption aber mit besseren öffentlichen Krankenhäusern, Schulen und Transportnetzen. Und mit einer Polizei, welche die Bevölkerung nicht mehr als Feind betrachtet.
Fast überall, wo protestiert wird, kommt es wieder zu Auseinandersetzungen und Angriffen. In der Hauptstadt Brasilia versuchen Demonstranten, das Außenministerium zu stürmen; im südlichen, eher gemäßigten Porto Alegre wird geplündert; in Belém nahe der Amazonasmündung decken Protestierer das Rathaus mit einem Steinhagel ein; in Salvador do Bahia werden ein Hotel und ein Bus des Fußballweltverbandes Fifa attackiert; in Ribeirão Preto im Innern des Bundesstaats Sao Pãulo überrollt ein Autofahrer zwölf Demonstranten, einer von ihnen stirbt. Noch am Abend ruft Präsidentin Dilma Rousseff ihr Kabinett zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Die Politik erscheint in diesem Moment des Aufruhrs völlig hilf- und ratlos. „Brasilien ist heute die siebtgrößte Wirtschaftsnation“ der Welt, sagt die Präsidentin, als ob das eine Antwort auf die Proteste wäre. In Rio sagt eine 18-jährige Demonstrantin wie zur Erwiderung: „Meine Schule ist so miserabel, dass ich dort nichts lerne.“
Der Marsch durch die Wunderbare Stadt, wie sie sich gerne selbst bewirbt, ist wie schon am Montagabend der mit Abstand größte des Landes. Um 17 Uhr haben sich die Massen an der Kirche Candelária eingefunden. Von hier aus führt die zu beiden Seiten vierspurige Avenida Presidente Vargas schnurgerade durch das Businesszentrum Rios mit seinen Hochhäusern, bevor sie am Sambódromo, dem alten Verteidigungsministerium und dem Hauptbahnhof vorübergeht und schließlich am hochaufgeschossenen Rathaus in die Avenida Maracanã mündet. Dort, im Maracanã-Stadion, besiegt Spanien zur gleichen Zeit vor rund 75.000 Zuschauern das kleine Tahiti mit 10:0 in einem Spiel des Fifa-Confed-Cups. Doch das Publikum feiert nicht etwa die Fußballmillionäre aus Spanien, sondern die Spieler ohne Namen aus Ozeanien, eine Truppe aus Taxifahrern und Strandverkäufern. Mit ihnen kann man sich in diesen Tagen in Rio besser identifizieren.
Und eigentlich wollen auch die Demonstranten von der Candelária bis zu dem teuer umgebauten Stadion ziehen. Es ist in Rio zum Symbol für Korruption, Steuerverschwendung und die Privatisierung öffentlicher Orte geworden. Es stinkt uns, dass der Staat Milliarden für die Vorbereitungen der Fifa-WM ausgibt, während in unseren Schulen Lehrer fehlen, hört man auf der Demo immer wieder. Die Leute sagen tatsächlich „Fifa-WM“ und nicht Fußball-WM. Doch bis zum Maracanã werden sie nicht kommen.
Anders als beim Marsch am Montag strömen dieses Mal nicht nur Studenten und junge Menschen zusammen. Familien mit Kindern sind in der Menge, Senioren und Werktätige. Sie allen haben sich vom Erfolg der Massendemonstrationen im Land anstecken lassen, nach denen viele brasilianische Stadtverwaltungen die umstrittene Preiserhöhung für Busfahrtickets wieder zurückgenommen haben. An ihnen hatten sich Proteste vor rund zwei Wochen in São Paulo entzündet und ins ganze Land ausgebreitet. Auch Rios Bürgermeister Eduardo Paes sagte Mitte der Woche die Fahrpreiserhöhung wieder ab. Es war sein verzweifelter Versuch, etwas Druck aus der aufgebrachten Atmosphäre zu nehmen.
Ob er verstand, dass die 20 zusätzlichen Centavos, die die Menschen plötzlich zahlen sollten, nicht der Grund der Demos, sondern nur ihr Auslöser waren? Weder Paes noch irgendein anderer Regierender hat es bisher fertig gebracht, sich direkt an die Bevölkerung zu wenden. Auf der Demo in Rio hält eine Frau ein Plakat in die Höhe: „Und jetzt gebt uns die restlichen Milliarden wieder!“ Tausende haben solche selbstgemalten Pappschilder dabei. „In Brasilien läuft so viel falsch, dass es hier nicht drauf passt“, steht auf einem. Ein anderes sagt: „Entschuldigt Politiker: Wir sind das Virus, das euer System kreiert hat.“ Und noch eins bringt die Stimmung auf den Punkt: „Brasilien gehört uns!“
Die Schilder sind ein Beweis für die Spontaneität der Demonstrationen, die nicht von politischen Organisationen oder Parteien organisiert werden. Hauptmobilisierungsinstrument ist Facebook, das in Brasilien rund 40 Millionen Nutzer hat. Und noch etwas zeigt, dass diese wie aus dem Nichts entsprungene Protestbewegung tiefer verwurzelt ist als geahnt. Am Kopf des Zugs knattert riesig und blau-weiß gestreift die Fahne der Sambaschule Villa Isabel im Wind. Sie hat den diesjährigen Wettbewerb im Karneval von Rio gewonnen.
Wie im Karneval ist auch die Stimmung an diesem Abend zunächst fröhlich, ausgelassen und von Gesängen bestimmt. Man schmettert mehrfach den Refrain der brasilianische Nationalhymne oder skandiert: „Ohne Gewalt, ohne Gewalt.“ Doch im Zug sieht man auch immer wieder nervöse junge Männer, die sich mit ihren T-Shirts die Gesichter vermummt haben und offenbar auf Randale aus sind. Einer von ihnen sagt später völlig verschwitzt: „Ich komme aus einer Favela weit draußen. Ich bin kein Dealer, ich arbeite in einer Apotheke. Ich brauche wegen der beschissenen Busse Stunden bis ich auf der Arbeit bin. Und am Abend kommen die Bullen in unsere Favela und ballern herum. Ich habe es denen heimgezahlt.“
Als der kilometerlange Zug nach zwei Stunden das abgeriegelte Rathaus erreicht, wird er von sogenannten Schocktruppen der Militärpolizei empfangen. Es ist nicht auszumachen, wer anfängt. Ob zuerst ein Feuerwerkskörper aus der Menge auf die Polizisten fliegt. Oder ob die schlecht ausgebildeten und schlecht bezahlten Polizisten, die es in Brasilien so gut wie nie mit Demonstrationen zu tun haben, sofort Tränengas und sogenannte Bomben mit moralischem Effekt abfeuern. Letztere erzeugen einen ohrenbetäubenden Knall, vor dem man instinktiv in Deckung gehen will. „Das ist Brasilien“, sagt der 51-Jährige Erico Guimarães, Systemadministrator bei der Post. Seine Frau und seine 16-jährige Tochter sind unter den Demonstranten die nun panisch den Rückzug antreten, während er auf einer Fußgängerbrücke über der Avenida Presidente Vargas steht und versucht, sie per Telefon zu erreichen. Keine Verbindung.
An der Spitze der Demonstration hatte es auf einem Transparent geheißen: „Würdevolle Löhne für Ärzte, Lehrer, Militärpolizisten.“ Genau auf dieses Transparent drängen die Schocktruppen nun zu und feuern mit Gummigeschossen aus viel zu kurzer Distanz. Einem Mann bleibt ein Geschoss regelrecht in der Backe stecken, ein Reporter bricht mit blutüberströmter Stirn zusammen. Unter den Demonstranten ist auch der 26-jährige Antoine Longchamps, ein durchtrainierter Kraftwerksturbineningenieur mit kurzen hellen Haaren und graublauen Augen. Er sagt nach den Tumulten: „Ich stehe politisch rechts von der Mitte. Ich glaube an den Wert der Arbeit und an Geld. Aber unser Land ist korrupt. All unsere Steuern fließen in private Taschen und für die Öffentlichkeit bleibt nichts.“ Longchamps schildert, wie er zu Steinen griff und sie gegen die vordringenden Polizisten schleuderte. „Es war pure Selbstverteidigung“, sagt er.
Auf dem Rückzug wird dann die Avenida Presidente Vargas in voller Länger verwüstet. Dutzende Laternen-, Radar-, und Kameramasten werden umgeknickt. Fensterscheiben eingeworfen, Bushaltestellen komplett zerlegt. Die Demonstranten, die die Gewalt verhindern wollen, haben keine Chance. Die Mehrheit ist ohnehin bereits geflüchtet. Vor den Feuern stehen Gruppen und skandieren „Wir kommen jeden Tag wieder, wenn sich nichts ändert. Brasilien Weltmacht? Am Arsch!“
Das schönste Bild findet sich am Gitter zum Stadtpark vor dem Hauptbahnhof. Zwischen den Gitterstäben stecken Tausende der bunten und kreativen Schilder, mit denen die Demonstranten zuvor durch die Stadt gezogen waren. Es ist die brasilianische Klagemauer. „Bitte lächeln“, steht auf einem kleinen rosafarbenen Zettel, „sie werden gerade beraubt.“
Das Katz- und Mausspiel zwischen Demonstranten und der Polizei wird sich noch bis spät in die Nacht fortsetzen. Wie die Stimmung in Brasilien in diesen Tagen ist, zeigt sich in Lapa, dem Ausgehviertel Rios mit unzähligen Kneipen, Discos und Bühnen. Als ein schwer gesicherte Hundertschaft der Polizei eine Gruppe von mehreren Hundert Demonstranten verfolgt und mit Tränengas beschießt, brüllen Hunderte aus den Bars und von den Balkons: „Die Militärpolizei ist die Schande Brasiliens“. Oder sie beschimpfen den Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro, der die Sicherheitsorgane befehligt: „Sérgio Cabral, fick dich!“ Bevor die Kneipiers panisch die Rollladen herunterlassen, singt die wütende Menge: „Es wird keine Weltmeisterschaft geben.“ Im Innern der Kneipen geht der Gesang minutenlang weiter. Es brennt in Rio de Janeiro den Menschen etwas auf der Seele.